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Zeitgeschichte (nach 1945)

P. Halbeisen u.a. (Hrsg.): Wirtschaftsgeschichte der Schweiz

 

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Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 3, 2013, S. 57-59.
Titel:Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert
Herausgeber:Hebeisen, Patrick; Müller, Margrit; Veyrassat, Béatrice
Ort:Basel
Verlag:Schwabe Verlag
Jahr:
ISBN:978-3-7965-2815-6

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christian Lüthi, Universitätsbibliothek Bern
E-Mail: <christian.luethiub.unibe.ch>

Zur Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert existierten bisher nur einige Beiträge in Handbüchern aus den 1980er - Jahren. Unter der Ägide der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte haben deshalb rund 20 Autorinnen und Autoren ein Werk realisiert, das die Schweizer Wirtschaftsgeschichte ab dem Ende des 19. Jahrhunderts aus diversen Blickwinkeln und im internationalen Vergleich ausleuchtet. Eine wichtige Basis für diese Arbeit bildet die 1996 in Buchform erschienene Historische Statistik der Schweiz. Das dichte Zahlenmaterial zur Schweiz und zu anderen Ländern bildet die Grundlage für die meisten Kapitel dieses Bandes, der eine Lücke in der schweizerischen Historiografie schliesst.

Die Mitherausgeberin Béatrice Veyrassat präsentiert in einem einleitenden Kapitel die Situation an der Wende zum 20. Jahrhundert: Die Schweiz war ein hoch industrialisiertes Land mit einem bereits stark ausgebauten Dienstleistungssektor, das im internationalen Wettbewerb und im damit verbundenen beschleunigten Struktur wandel erfolgreich war. Sie zählte bereits vor dem Ersten Weltkrieg zu den wohlhabendsten Ländern der Welt.

Teil 1 der Publikation zeigt die wirtschaftliche und die demografische Entwicklung unseres Landes im 20. Jahrhundert auf. Im Vergleich mit anderen Ländern hatte die Schweiz im ganzen Zeitraum ein sehr hohes Wohlstandsniveau. Gleichzeitig lag sie bezüglich der Wachstumsraten am Schluss der Rangliste. Besonders im letzten Viertel des Jahrhunderts, nach der Krise von 1973 / 74, schwächelte die Schweizer Wirtschaft. Eine neue Dynamik setzte erst in den 2000 er -Jahren ein. Somit ist ein Trend zum Angleichen der Wohlstandsniveaus zwischen den europäischen Ländern feststellbar.

Teil 2 behandelt die Schweiz in der internationalen Arbeitsteilung und analysiert dabei die Geschichte des Finanzplatzes, der Binnenwirtschaft, des Tourismus und der Landwirtschaft. Andere Branchen werden leider nicht im gleichen Ausmass dargestellt. Teil 3 thematisiert die Wohlstandsentwicklung innerhalb der Schweiz und die Geschichte des Konsums, als sich unser Land im letzten Jahrhundert von der industriellen Klassengesellschaft zur heutigen Konsumgesellschaft entwickelt hat. Ferner zeigt Ueli Haefeli in Text und Karten, wie sich unser Land räumlich verändert hat. Die Verstädterung und der Ausbau der Strassen und weiterer Infrastrukturbauten veränderten das Landschaftsbild parallel zum steigenden Wohlstand und zum wachsenden Energieverbrauch.

Teil 4 mit dem Titel «Die schweizerische Variante des Kapitalismus» schildert, wie die Wirtschaftsverbände und die Politik die Wirtschaft beeinflussten. Die Schweiz ist bis heute durch nur moderate staatliche Eingriffe in Wirtschaft und Gesellschaft gekennzeichnet. Selbstregulierung der Wirtschaft durch mächtige Verbände, geringe Regulierung des Arbeitsmarktes und Schwäche der Gewerkschaften sind weitere Merkmale des wirtschaftspolitischen Systems der Schweiz. In Teil 5 analysieren vier Autoren, welche internationale Wirtschaftspolitik die Eidgenossenschaft im Verlauf des Jahrhunderts verfolgte, wie die öffentlichen Finanzen sich entwickelten und wie die Schweiz sich im Rahmen der internationalen Organisationen bewegte. Im Anhang geht die Publikation auf die statistischen Grundlagen und Methoden ein. Nach jedem Kapitel findet man eine umfangreiche Bibliografie.

Was bietet der Band für die Geschichte des Kantons Bern oder anderer Kantone und Regionen der Schweiz? Der hauptsächliche Fokus der Publikation liegt auf der gesamten Schweiz. Nur in Kapitel 3. 3 werden die Kantone untereinander verglichen in Bezug auf ihre demografische Entwicklung, die Beschäftigungsquote, die Quote erwerbstätiger Frauen, das Wirtschaftswachstum sowie in Bezug auf die Anteile der Beschäftigten nach Wirtschaftssektoren und Branchen. Der wirtschaftliche Strukturwandel und die Wohlstandsentwicklung erfasste sämtliche Kantone und Regionen der Schweiz gleichermassen. Die Wirtschaft war überall breit diversifiziert. So gibt es über das ganze 20. Jahrhundert gesehen unter den Kantonen keine eindeutigen Verlierer und Gewinner. Einzig im letzten Viertel des Jahrhunderts nahm die Zahl der Arbeitsstellen im Raum Zürich überdurchschnittlich stark zu. Der Kanton Bern war in allen Phasen durch eine geringe Zunahme der Einwohner- und Beschäftigtenzahl geprägt. Der Anteil der öffentlichen Verwaltung an den Beschäftigten ist deutlich grösser als in der übrigen Schweiz, ohne dass diese Branche eine dominierende Position einnimmt. Bis um 1950 wies der Kanton Bern ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum auf, danach fiel er im Vergleich mit den anderen Kantonen zurück.

Der umfangreiche Band bietet keine leichte Lektüre. Er liefert aber als gut strukturiertes Handbuch detaillierte Fakten und zentrale Erkenntnisse zum Thema. Die Autorinnen und Autoren arbeiten wichtige Entwicklungsstränge der Wirtschaftsgeschichte der Schweiz heraus, die zweifellos den Rahmen für die wirtschaftshistorische Forschung der nächsten Jahrzehnte bilden wird. Allerdings verfolgen sie einen vorwiegend strukturgeschichtlichen Ansatz. Firmen als wichtige Akteure des Wirtschaftsgeschehens kommen nur vereinzelt vor. Wer sich für diese Ebene der Schweizer Wirtschaft interessiert, muss weiterhin auf ältere Literatur zurückgreifen oder Artikel im Historischen Lexikon der Schweiz konsultieren.

Zitierweise Christian Lüthi: Rezension zu: Halbeisen, Patrick; Müller, Margrit; Veyrassat, Béatrice (Hrsg.): Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. Basel: Schwabe 2012. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 3, 2013, S. 57-59. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=22954>
 
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