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Mittelalterliche Geschichte

M. Vonarburg: Melchior Russ: Cronika

 

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Diese Rezension wurde redaktionell betreut von: Peter Haber <peter.haberunibas.ch>

Diese Rezension entstand durch die Kooperation mit Clio-online www.clio-online.de/

Autor(en):
Titel:Melchior Russ: Cronika. Eine Luzerner Chronik aus der Zeit um 1482
Ort:Zürich
Verlag:Chronos Verlag
Jahr:
ISBN:978-3-0340-0949-2
Umfang/Preis:geb.; 220 S.; € 27,00

Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Rudolf Gamper
E-Mail: <rudolf.gampersg.ch>

Nach den Kriegen zwischen den eidgenössischen Orten und Herzog Karl dem Kühnen (1474–1476) stieg in der Eidgenossenschaft das Interesse an chronikalischen Aufzeichnungen rasch an. Es entstanden zahlreiche gegenwartschronistische Aufzeichnungen, aber auch Chroniken mit Lokal- und Regionalgeschichten, die mit Gründungs- und Entstehungsgeschichten einsetzten, sowie als neue chronikalische Gattung reich illustrierte Handschriften: die Bilderchroniken.[1] Die meisten dieser Chroniken sind nur in Textabdrucken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zugänglich, die wichtigsten Bilderchroniken wurden in den 1980er- und 1990er-Jahren als Vollfaksimiles publiziert.

Die erste Luzerner Stadtchronik stammt von Melchior Russ, der als Schreiber, Ratsmitglied und Diplomat im Dienste seiner Stadt stand. Russ begann seine Arbeit 1482, 1487 war sie noch nicht abgeschlossen. Der Text ist in einer einzigen Handschrift des späten 15. oder frühen 16. Jahrhunderts erhalten. Es handelt sich um eine unfertige Reinschrift, die in einem Dokument des Jahres 1412 unvermittelt abbricht, was in der Forschung unterschiedlich gedeutet wurde. In ihrer Zürcher Dissertation untersucht Maya Vonarburg Züllig die Quellen der Chronik, die Arbeitsweise des Chronisten sowie die Bezüge zu seiner Biografie und bietet anschließend eine Neuedition des Textes unter dem Titel „Cronika“. Josef Schneller gab dem Werk in seiner Erstedition von 1834 den Titel: „Eidgenössische Chronik“. Inhaltlich trifft dies nicht zu, da sich Russ auf die Geschichte Luzerns und seiner Verbündeten beschränkte, der Bezug auf die gesamte Eidgenossenschaft fehlt. Die Autorin wählt als neuen Titel „Cronika“; es ist die Bezeichnung, die Russ für sein eigenes Werk verwendete.

Melchior Russ hat in der Geschichte der Historiographie keinen guten Ruf. Vonarburg stellt die Urteile über die Chronik im 19. und 20. Jahrhundert zusammen. Sie fallen fast durchwegs negativ aus, so etwa im Standardwerk über die Geschichtschreibung in der Schweiz von Richard Feller und Edgar Bonjour (1962): „Der Wert der Chronik ist gering, die Sprache plump. Russ hatte nicht das Zeug zum Historiker“ (zitiert S. 37). Die Autorin kommt in den Kapiteln über „Aufbau und Inhalt der Chronik“ und „Zur Arbeitsweise von Melchior Russ“ zu einem differenzierteren Urteil, ohne ihn allerdings mit den Chronisten seiner Zeit zu vergleichen und das Werk in die Chronistik des späten 15. Jahrhunderts einzuordnen. Sie beschreibt anhand der Überschriften, die in einem eigenen Kapitel (S. 109–115) zusammengestellt sind, den weitgehend chronologischen Aufbau des Werks. Russ orientierte sich am Vorbild der Berner Stadtchronik des Konrad Justinger, aus der er 71 Prozent des Textes übernahm, teils mehr oder weniger wörtlich, teils in gekürzter Form mit eigenständiger Formulierung. Unter den verschiedenen Überlieferungen der Berner Chronik steht der Text von Russ jenem der Bilderchronik Beneditkt Tschachtlans und Heinrich Dittlingers von 1470/71 am nächsten. 29 Prozent des Textes betreffen die Geschichte der Stadt Luzern und ihrer Verbündeten. Die Luzerner Kapitel enthalten einige Erzählungen, die bei Russ zum ersten Mal bezeugt sind: der Ursprung der Stadt Luzern, die Legende von der Verleihung der Harsthörner durch Karl den Großen, der Seekrieg mit den Waldstätten, die Tellengeschichte in der so genannten Urner Version, je eine Schlacht bei Buonas und bei Eschenbach sowie das Lied über die Schlacht bei Sempach. Die Autorin referiert die Ereignisse (S. 44–54) und untersucht die Verwendung von Luzerner Quellen (S. 58–66). Es zeigt sich, dass Russ zwar das Verwaltungsschriftgut punktuell beizog, die wichtigsten archivalischen Quellen aber nicht verarbeitete. Er bevorzugte chronikalische Vorlagen. „Waren keine Chroniktexte verfügbar, sah sich der Chronist offenbar grossen Schwierigkeiten gegenüber“ (S. 63). Die kompilatorische Arbeitsweise zeigt sich besonders deutlich in der Vorrede der „Cronika“, die aus mehr oder weniger wörtlich übernommenen Stücken aus Albrecht von Bonstettens Beschreibung der Burgunderkriege, Konrad Justingers Einleitung zur Berner Chronik und Niklas von Wiles Translationen zusammengesetzt ist (S. 66–73). In der Auswahl der Abschnitte aus der Berner Chronik bevorzugte Russ die Abschnitte, die einen Bezug zu Luzern oder zu seinen engsten Verbündeten hatten: „Machmal sind es offenkundige Änderungen, welche Russ zur grösseren Ehre Luzerns vornahm“ (S. 82). So datierte er die Luzerner Reichsfreiheit ins 13. Jahrhundert, indem er in Justingers Bericht über die Berner Priviliegien, die Kaiser Friedrich II. 1218 gewährt hatte, die Namen des Ausstellers und des Empfängers sowie das Datum änderte und den gleichen Wortlaut für die angebliche Verleihung eines Privilegs durch König Rudolf I. an Luzern verwendete. In ähnlicher Weise flocht er eine maßgebliche Beteiligung der Luzerner am Tod König Albrechts I., der als Unterdrücker galt, ein.

Russ gehörte zu den ersten Innerschweizer Vertretern des Frühhumanismus. Nach dem Studium an den Universitäten Basel und Pavia arbeitete er gelegentlich in der Luzerner Kanzlei, der sein Vater als Stadtschreiber vorstand. Mehrfach reiste er als Diplomat nach Ungarn und wurde 1488 in Wien zum Ritter geschlagen. Sein Reisegefährte war Hans Schilling, der Bruder des Berner Chronisten Diebold Schilling. Am Ende seines Lebens verstrickte er sich in Luzern in Auseinandersetzungen mit dem Schultheißen Ludwig Seiler und musste die Stadt verlassen. Er starb im Schwabenkrieg 1499 als Söldner im Dienste des Landes Uri.

Im Anschluss an die Untersuchungen zur Chronik und zur Biografie von Melchior Russ legt Vonarburg eine zuverlässige Neuedition der „Cronika“ aufgrund klarer Transkriptionsregeln vor. Eine wertvolle Ergänzung bilden die Farbtafeln (S. 133–140) mit ganzen Textseiten, Initialen und einer Aufnahme des Codex. Vonarburg wählt die Form der zeilen- und seitengetreuen Edition. Die Anmerkungen haben am Seitenende keinen Platz; sie stehen als Endnoten gesondert, was die Benützung der Erläuterungen zum Text stark erschwert. Der zeilen- und seitengetreue Textabdruck hat auch Vorteile. Zusammen mit den Abbildungen gibt er die Grundlage für die Diskussion kodikologischer und paläographischer Indizien zur Frage, ob es sich um ein Autograph handelt, was Vonarburg ausführlich diskutiert, am Ende aber offen lässt (S. 103f.). Eine Übereinstimmung der Schrift mit jener der Schriftstücke, die sich Russ zuweisen lassen, besteht nicht. Da das Papier kein Wasserzeichen enthält, fehlt dieses in der Regel zuverlässige Datierungsmittel. Die Initialen weisen nach Auffassung des Rezensenten in die Zeit um oder nach 1500; sie können auch längere Zeit nach der Reinschrift des Textes eingesetzt worden sein. Hinzuweisen ist auf einen Zusatz zum Text von Bonstetten (vgl. den Paralleltext S. 71), in dem die eidgenössischen Orte in der Reihenfolge genannt sind, die von 1501 bis 1513 gültig war.[2] Da der Raum für die vorgesehenen Bilder in der Edition gut erkennbar ist, lässt sich leicht feststellen, dass er meistens dort ausgespart ist, wo die Bilderchronik von Tschachtlan Illustrationen enthält. Die Anlehnung an die Berner Chroniken geht offenbar über den Text hinaus und umfasst auch die Auswahl der Bildthemen. Auch eine weitergehende inhaltliche Anlehnung ist nicht unwahrscheinlich, übernahmen doch die Berner Chronisten für die Zeit von ca. 1430 bis 1450 die Chronik von Hans Fründ, der kurze Zeit in der Luzerner Kanzlei gearbeitet hatte und die Geschichte des Alten Zürichkriegs ganz im Sinne Luzerns darstellte. Möglicherweise war die Chronik weit umfangreicher als der erhaltene Anfangsteil, was die mehrjährige Beschäftigung von Russ mit diesem Werk plausibel machen könnte.

Mit der Neuedition der Chronik und den Studien zum Text und zur Arbeitsweise von Melchior Russ bietet Maya Vonarburg Züllig eine verlässliche Grundlage für die weitere Beschäftigung mit der ersten Luzerner Stadtchronik. Die inhaltlichen und formalen Schwächen des Textes kann auch die neue Edition nicht ausmerzen.

Anmerkungen:
[1] Zur Chronistik des späten 15. Jahrhunderts in der Eidgenossenschaft: Regula Schmid, Geschichte im Dienst der Stadt. Amtliche Historie und Politik im Spätmittelalter, Zürich 2009.
[2] Wilhelm Oechsli, Die Benennungen der alten Eidgenossenschaft und ihrer Glieder, in: Jahrbuch für schweizerische Geschichte 41(1916), S. 51–230, hier S. 70f.

ZitierweiseRudolf Gamper: Rezension zu: Vonarburg Züllig, Maya: Melchior Russ: Cronika. Eine Luzerner Chronik aus der Zeit um 1482. Zürich 2009, in: H-Soz-Kult, 23.06.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-2-223>.
 
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