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Geschichte allgemein

P. Martig u.a. (Hrsg.): Berns moderne Zeit

 

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Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 3, 2013, S. 61-64.
Titel:Berns moderne Zeit. Das 19. und 20. Jahrhundert neu entdeckt
Reihe:Berner Zeiten 5
Herausgeber:Martig, Peter; Dubler, Anne-Marie; Lüthi, Christian; Schüpbach, Andrea; Stuber, Martin; Summermatter, Stephanie
Ort:Bern
Verlag:Stämpfli Verlag
Jahr:
ISBN:978-3-7272-1199-7

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Katja Hürlimann, Geschichte des 20. Jahrhunderts, Staatsarchiv Luzern
E-Mail: <khuerlimannbluemail.ch>

Der Band Berns moderne Zeit schliesst die Reihe des Vereins «Berner Zeiten» zur Geschichte Berns seit dem Mittelalter ab. Sie nahm ihren Anfang mit Berns mutige Zeit zum 13. /14. Jahrhundert und entwickelte sich über Berns grosse Zeit (15. Jh.), Berns mächtige Zeit (16. /17. Jh.) zu Berns goldener Zeit (18. Jh.). Die Titel der vorangegange nen Bände implizieren es, Bern wurde im 18. Jahrhundert zum mächtigsten Stand der Eidgenossenschaft. Insofern zeigt der vorliegende fünfte und letzte Band der Reihe ein ganz anderes Bern, ein Bern auf dem – nicht immer geradlinigen – Weg in die Moderne. Eine Zeit, in der Bern Bundeshauptstadt wurde und gleichzeitig seine politische Vormachtstellung im schweizerischen Bundesstaat aufgeben musste. Der Band beschäftigt sich auf knapp 600 Seiten mit der Geschichte Berns in den letzten 200 Jahren, in denen sich die aristokratische Republik in einen Staat entwickelte, an dem alle Bürger partizipieren konnten. Die Gliederung ist thematisch: Politik, Umwelt / Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Das Kapitel Politik, Verwaltung, Justiz und Militär zeigt die Entstehung des modernen Staates auf, der sich durch Steuern, Territorium, Staatsvolk, Gewaltmonopol, demokratische Verfassung sowie systematische Verwaltung auszeichnet. Ein Zentrum bildet der kontinuierliche Ausbau der Volksrechte in Bern zwischen Regeneration und jüngster Verfassung (1993). Es ist die Geschichte von der Überwindung des Kooptationsverfahrens hin zur politischen Partizipation aller Bürger, zu denen ab 1968 wenigstens bei Abstimmungen auf Gemeindeebene auch die Frauen gezählt wurden. Die politische Entwicklung im Kanton Bern wird chronologisch entlang der auch aus andern Kantonen bekannten Brüchen – Restauration, Regeneration, liberaler Staat – dargelegt. Im 20. Jahrhundert wurden vor allem extreme Bewegungen wie die verschiedenen Erneuerungsbewegungen in der Zwischenkriegszeit und der Antikommunismus u. a. am Beispiel des Ost-Instituts in der Nachkriegszeit präsentiert. Die Verwaltung im Kanton Bern entwickelt sich von einer ehrenamtlichen Tätigkeit zur professionalisierten Verwaltung mit vollamtlichen Beamten. Das Konzept geht über eine Kantonsgeschichte im engeren Sinne hinaus und thematisiert den Kanton Bern als Region, sodass auch das Militär und die kommunale Ebene zur Sprache kommen. Das Kapitel Gesellschaft beschäftigt sich mit unterschiedlichen Schattierungen des Lebens: mit Fragen nach Demographie und Lebensformen, Wohnen und Konsum, dem Gesundheitswesen, Armut, Phänomenen der Geselligkeit und politischen Bewegungen. Eine unerwartete Kombination von Themen. Ebensogut hätten die politischen Bewegungen wie die 68er oder die Frauenbewegung im politischen Kapitel Platz finden können. Berns moderne Zeit analysiert die Gesellschaft, indem ein struktureller wie auch handlungsorientierter Zugang gewählt wurde. Dabei zeigt sich, dass sich im Verlaufe der vergangenen 200 Jahre die materiellen wie auch ideellen Handlungsräume für die meisten Menschen erweitert haben. Entstanden ist nicht nur eine internationalere Gesellschaft, sondern auch ein Pluralismus von unterschiedlichen Lebensformen und Milieus, die gleichzeitig nebeneinander bestehen.

Umwelt und Wirtschaft werden in einem Kapitel behandelt, das entlang des Energieregimes strukturiert ist und die Entwicklung von der Agrargesellschaft (solare Energie) über die Industriegesellschaft (fossile Energie) zur Konsumgesellschaft nachzeichnet. Umwelt und Wirtschaft hängen nicht nur bezüglich Ressourcen und Energie zusammen, sondern die Veränderungen in der Landwirtschaft hin zu einer industriellen Produktion hinterliessen sichtbare Spuren in der Landschaft. Der Prozess der Industrialisierung kombiniert mit einer zunehmend industrielleren Landwirtschaft ermöglichte ein Bevölkerungswachstum und erhöhte den Druck auf die Landschaft durch Siedlungswachstum und Bau von Verkehrsinfrastrukturen. Die Nutzung des Raums musste im Verlaufe des 20. Jahrhunderts zunehmend geplant werden. Wie die meisten Schweizer Kantone machte auch der Kanton Bern im 19. und 20. Jahrhundert eine Entwicklung über den Ausbau der Industrie zur zunehmenden Bedeutung des Dienstleistungssektors, insbesondere des Tourismus, mit.

Die Berner Geschichte diskutiert im letzten Kapitel Bildung, Wissenschaft, Religion, Kunst und Architektur. Bildung, Kunst und Kultur wurden im 19. Jahrhundert zur Staatsaufgabe. Bis Ende 20. Jahrhundert fand eine zunehmende Demokratisierung der Kultur statt, indem die Partizipation an der Kultur für immer grössere Bevölkerungsgruppen möglich wurde. Alle Bereiche zusammengenommen, weist der Kanton Bern eine beeindruckende kulturelle Entwicklung auf mit unzähligen, weit über den Kanton hinaus bekannten Kulturschaffenden. Diese Entwicklung wird hier aber erstaunlich konfliktfrei dargestellt.

Berns moderne Zeit ist um vieles vielfältiger, als es hier dargelegt werden kann. Über 100 Autorinnen und Autoren bearbeiteten die vergangenen 200 Jahre Berner Geschichte und zeigen allgemeine Entwicklungsstränge, einzelne Episoden, Handlungen und Strukturen in der Berner Geschichte. Ein Buch, das zum Stöbern in der Geschichte Berns einlädt. Wäre da nur nicht das Format. Die Reihe «Berner Zeiten» kommt in einem auffällig grossen Format daher (grösser als A4). Für das ausgehende 19. und vor allem das 20. Jahrhundert bringt ein solches Format den Vorteil, Fotografien gewinnbringend einsetzen zu können. Grösse, Umfang und Gewicht schränken hingegen die Nutzung ein, das Werk kann nur am Arbeitstisch gelesen werden. Gerne hätte sich die Rezensentin auf ihren Zugfahrten mit der Berner Geschichte beschäftigt. Somit entsteht ein bedauernswerter Widerspruch zwischen gut lesbaren, kurzen Beiträgen, die auch unterwegs gelesen werden könnten, und dem Gewicht des Bandes (über 3 Kilo). Jedes der vier Hauptkapitel wird durch einen Beitrag der Kapitelverantwortlichen eingeleitet. Dabei werden die wesentlichen Entwicklungen im Beitrag synthetisch dargelegt. Diese zweispaltigen Einleitungen werden von den normalenBeiträgen (einspaltig) gefolgt. Etwas verwirrend am Gesamtkonzept sind die einseitigen Einschübe zu Spezialthemen zwischen den an sich schon sehr kurzen Einzelbeiträgen.

Die Rezensentin ist dankbar, dass der Verein Berner Zeiten – nach einigen Diskussionen – beschlossen hat, das 20. Jahrhundert in seine Reihe zur Geschichte Berns aufzunehmen. Obwohl für viele Themen der zeitliche Abstand sehr gering ist und Analysen noch Schwierigkeiten bereiten, ist das 20. Jahrhundert für das Verständnis der Gegenwart natürlich zentral. Es ist daher den Beiträgen zu verzeihen, dass sie bei der Bearbeitung der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts an Dichte verlieren.

Zitierweise Katja Hürlimann: Rezension zu Martig, Peter; Dubler, Anne-Marie; Lüthi, Christian; Schüpbach, Andrea; Stuber, Martin; Summermatter, Stephanie (Hrsg.): Berns moderne Zeit. Das 19. und 20. Jahrhundert neu entdeckt (Berner Zeiten, Bd. 5). Redaktion: Charlotte Gutscher. Bildredaktion: Sandra Hüberli. Bern: Stämpfli 2011. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 3, 2013, S. 61-64. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=22957>
 
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