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Geschichte allgemein

P. van Dam: Staat van verzuiling

 

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Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 770-771.
Autor(en):
Titel:Staat van verzuiling. Over een Nederlandse mythe
Ort:Amsterdam
Verlag:Wereldbibliotheek
Jahr:
ISBN:9789028424197
Umfang/Preis:156 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Staf Hellemans
E-Mail: </>

Peter van Dam ist ein junger holländischer Historiker (*1981), der nach dem Studium der Geschichte in Amsterdam mehrere Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Niederlande-Studien in Münster gearbeitet hat und da auch promoviert ist mit der Dissertation Religion in der Zivilgesellschaft. Christliche Traditionen in der niederländischen und deutschen Arbeiterbewegung. Inzwischen ist er wieder umgezogen und Dozent für Geschichte an der Universität Amsterdam.

Van Dam legt ein Essay vor über ein Thema, das seit Jahrzehnten in den Niederländen heftig in der Öffentlichkeit diskutiert wird und da auch viele wissenschaftliche Publikationen und Debatten hervorgerufen hat: Versäulung. Versäulung wird oft dargestellt als das Charakteristikum par excellence der niederländischen Gesellschaft. Man übersetzt deshalb auch oft die Termini ‹zuil› und ‹verzuiling› buchstäblich in andere Sprachen: ‹Säule› und ‹Versäulung›, ‹pillars› und ‹pillarisation›. Aber ausserhalb der Niederlanden wird die Bildsprache meistens als unpassend empfunden und für vergleichbare Phänomene werden andere Termini bevorzugt: Milieus in Deutschland, Lager in Österreich, Subgesellschaften (Altermatt), ‹political subcultures›, ‹parti-société› oder ‹église-société›. Eine babylonische Sprachverwirrung also, die die internationale Forschung dieser totalitären Subkulturen – um es noch mal etwas anders auszudrücken – sehr gehemmt hat.

Die internationale Verbreitung des Phänomens – und der Forschung – ist eine Schwachstelle. Aber wie adäquat ist die Versäulungsperspektive überhaupt als Makro- Rahmen zur Beschreibung der niederländischen Gesellschaft und Politik im 19. und 20. Jahrhundert? Dieser Frage widmet sich Peter van Dam – und er tut das sehr kritisch. Der Untertitel des Buches gibt die Stossrichtung an: «Über einen niederländischen Mythos ». Seine These ist, dass die Versäulungsmetapher und Versäulungsperspektive mehr geschadet als geholfen haben: «Sie haben uns ein fundamental verzeichnetes Bild der Vergangenheit und Gegenwart geliefert» (S. 9; meine Übersetzung). Van Dam sieht den Mythos zusammengesetzt aus drei Komponente: das ‹overstatement› einer statischen Gesellschaft, die in vier, streng getrennten Milieus aufgeteilt sein würde, die Idee, als ob Versäulung ein exklusiv niederländisches Phänomen sein würde, und die Präsupposition, dass die – entsäulte – Gegenwart radikal von der – versäulten – Vergangenheit divergieren würde.

Die ersten beiden Mythen greift Peter van Dam im 2. Kapitel an. Die Säulen waren nie wie ‹Eiserne Vorhänge› voneinander getrennt, sondern waren porös. Statt Säule bevorzugt Van Dam deshalb auch ein anderes Konzept: ‹schwere Gemeinschaften›. Diese schweren Gemeinschaften findet man auch in anderen Ländern, wie in Deutschland. Im 3. Kapitel geht er der Frage nach, wie die Versäulungsmetapher entstanden ist und sich verbreiten konnte. In den 1930er Jahren findet man die ersten, inhaltlich noch schwankenden Hinweise. Die eigentliche inhaltliche Festlegung und massenhafte Verbreitung der Konzepte ‹Säule› und ‹Versäulung› findet aber erst in den 1950er Jahren statt, in einer Zeit als die Kritik dieses Phänomens stark wuchs. Bei ‹Versäulung› war immer Polemik dabei. Die Soziologen (vor allem J.P. Kruyt) waren in diesen Jahren die ersten, die die Metapher und das Konzept als wissenschaftliche Perspektive einsetzten, um damit die niederländische Gesellschaft und das niederländische politische System zu beschreiben. Seit Mitte der 1960er Jahren kamen die Politologen dazu (vor allem A. Lijphart). Vergleichsweise spät, eigentlich erst seit den 1980er Jahren, meldeten sich auch die Historiker, die aber dann Fragezeichen einbrachten. Im 4. Kapitel wird der dritte Mythos kritisch gegen das Licht gehalten. ‹Entsäulung›, die Erosion der Milieus, wird ja oft pauschal als Kurzformel benutzt um einen fundamentalen Bruch zwischen den vor-1960er und den nach-1960er Jahren zu postulieren. Zu Unrecht, findet Van Dam. In der Politik kann man ja auch viele Kontinuitäten entdecken, z.B. Geheimberatung zwischen Spitzenpolitiker. Im 5. Kapitel fasst Van Dam seine Thesen nochmals zusammen. Er weist auch auf das Paradox hin, dass in einer Zeit, wo der Versäulungsmythos durch die Historiker schon längst entlarvt ist, die öffentliche Diskussion sich noch oft der Versäulungsmetapher bedient, z.B. in der Diskussion über die Gestaltung des Rundfunk- und Fernsehwesens und in der Debatte über die Existenz einer islamischen Säule.

Wie ist das Buch zu beurteilen? Der Autor kennt das Thema und die Literatur durch und durch. Sodann ist das Buch als ein polemisches Essay verfasst. Man spürt in jedem Kapitel das Ärgernis des Autors. Er will die Metapher und Terminologie ein für allemal abservieren. Er bestätigt also, paradoxerweise, noch mal die polemische Triebkraft, die, fast von Anfang an, am Konzept und am Blickwinkel der Versäulung klebte. Ein gelassener Umgang, ein wissenschaftlich neutrales Abwägen der Vor- und Nachteile ist anscheinend noch immer schwierig. Drittens und vor allem, die Frage, der Peter Van Dam sich widmet, ist an der Zeit. Ist es gerechtfertigt, die Geschichte der Niederlande im 19. und im 20. Jahrhundert als in erster Linie eine Geschichte der Versäulung und Entsäulung darzustellen? Das dies so sei, war in den vergangenen Jahrzehnten selbstverständlich. Mit dem Abklingen der Versäulung, aber auch der Entsäulung, ist das nicht mehr so. Den wichtigsten Beitrag des Buches sehe ich gerade in dieser Hinterfragung. Sie geschieht mit Recht. Trotzdem, sein Urteil ist zu hart und vorschnell. Es ist richtig, dass ‹Versäulung› oft in karikaturaler Form benutzt wird. Aber kann man Begriff und Perspektive nicht auch nicht-karikatural einsetzen? Was gewinnt und was verliert man, wenn man Begriff und Perspektive nicht mehr benutzt, und was wenn man es weiterhin, aber nicht einseitig, einsetzt? Das ist meines Erachtens die entscheidende Frage. Van Dam ist über die Einseitigkeiten verärgert – seine drei wichtige Vorbehalte stimmen durchaus – und entscheidet sich gegen sie. Ich persönlich glaube, mit Kruyt, Lijphart, Thurlings und anderen, dass der Versäulungsperspektive nuancenreich und wissenschaftlich neutral eingesetzt werden kann – und noch immer nützlich ist. Die Alternative, die Van Dam präsentiert, nämlich ‹schwere› und ‹leichte Gemeinschaften›, bietet auch zu wenig.

Diese Meinungsdifferenz hindert aber keineswegs daran, dass ich dieses polemisches Essay nützlich erachte und dass es, wie gesagt, an der Zeit ist: gerade weil die Versäulung und die Entsäulung nun endgültig vorbei sind, ist es notwendig, sich zu besinnen, welchen Nutzen und welche Nachteilen die Versäulungsperspektive liefert. Dieses Buch bietet dazu einen guten Anfang.

Zitierweise Staf Hellemans: Rezension zu: Peter van Dam, Staat van verzuiling. Over een Nederlandse mythe, Amsterdam, Wereldbibliotheek, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 770-771. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=25050>
 
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