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Zeitgeschichte (nach 1945)

K. v. Lingen: Kesselrings letzte Schlacht

 

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Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 2, 2005, S. 250-253.
Autor(en):
Titel:Kesselrings letzte Schlacht. Kriegsverbrecherprozesse, Vergangenheitspolitik und Wiederbewaffnung: Der Fall Kesselring
Reihe:Krieg in der Geschichte 20
Ort:Paderborn
Verlag:Brill / Schöningh
Jahr:
ISBN:3-506-71749-9
Umfang/Preis:392 S

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Alexandra Locher, Geschichte der Neuzeit (Historisches Seminar), Universität Zürich
E-Mail: <alexandra.locherfreesurf.ch>

Generalfeldmarschall Albert Kesselring, Hitlers ehemaliger Oberbefehlshaber in Italien, stand von Februar bis Mai 1947 vor einem britischen Militärgericht in Venedig. Wegen Erschiessung von 335 Menschen in den Fosse Ardeatine in Rom sowie der «Aufstachelung der Truppen zum Krieg gegen die italienische Zivilbevölkerung durch Erlass von so genannten ‘Bandenbefehlen’ wurde er zum Tod verurteilt, später aber begnadigt und schliesslich freigelassen. Die Autorin möchte mit der vorliegenden Dissertation dem Einfluss dieses Prozesses auf das «Bild von Krieg und Wehrmacht» in Italien und dessen medialer Umdeutung zur «Legende der Sauberen Wehrmacht» an der Südfront nachspüren sowie dessen «Wirkungsmacht auf die britische Vergangenheitspolitik und [...] Adenauers sicherheitspolitische Vorstellungen» ausloten. Sie stellt die These auf, dass die Begnadigung Kesselrings ein «diskursprägender Abschnitt der deutschen Nachkriegsgeschichte» gewesen sei, und wendet sich dafür dem bis Mitte der 1990er Jahre vernachlässigten Kriegsschauplatz Italien zu. Sie geht souverän mit der neuesten Literatur zu den Kriegsverbrecherprozessen um und berücksichtigt wichtige Paradigmen - wechsel in der Interpretation der historischen Ereignisse wie die Entmythisierung der Resistenza in Italien zu Beginn der 1990er Jahre oder die seit 1995 geführte Debatte um die Ausstellung «Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944».

Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile, die sich chronologisch aneinander reihen. Im ersten Teil wendet sich von Lingen dem Werdegang Albert Kesselrings und der Vorgeschichte des Prozesses zu (bis 1945, S. 32–91). Dabei ergründet sie, ob Kesselring «typisch nationalsozialistisch war» oder nicht eher «seine im Kaiserreich erworbenen Loyalitäts- und Ehrbegriffe im Dritten Reich unkritisch fortführte». Damit stellt von Lingen Kesselrings Wertvorstellungen des «unpolitischen Soldaten» in einen historischen Kontext, sieht aber im Unpolitischen auch ein Argumentationsmuster zur Rechtfertigung im Nachhinein. Sie knüpft hier an den von Thomas Kühne geprägten Begriff der «Viktimisierungsfalle» an und zeigt, dass Kesselring, obwohl er als Zeuge in Nürnberg 1946 noch implizite Schuldbekenntnisse ablegte, als Angeklagter in Venedig die verbreitete Meinung übernahm, der Generalstab werde diffamiert. Abgesehen von den Bandenbefehlen wurde Kesselring die Beteiligung an Erschiessungen in den Fosse Ardeatine als «Sühnemassnahme» und die Mitwisserschaft bei der fast gleichzeitigen Erschiessung «eines Kommandotrupps unter dem Decknamen ‘Ginny Mission’ in Norditalien» vorgeworfen. Während von Lingen zeigen kann, dass Kesselring bei den Ereignissen um die Fosse Ardeatine nicht anwesend war, belegt sie mit neuen Quellen die Thesen des amerikanischen Autors Richard Raiber (1997), dass er vom Fall ‘Ginny Mission’ dessen Kenntnis er 1945 in Nürnberg bestritten hatte – wusste und wahrscheinlich auch in die Entscheidungen mit einbezogen worden war.

Im zweiten Teil geht es um die Entwicklung der alliierten Vergangenheitspolitik (1945–1947, S. 92–170). Von Lingen zeigt, in welches politische Kräftefeld die alliierten Militärgerichte – in diesem Fall das britische – gerieten, und betont die verschiedenen Positionen. Einer Phase von scharfen Urteilen und Vollstreckungen (bis 1946), folgte eine zweite der Solidarisierung mit den Angeklagten ohne Vollstreckung von Todesurteilen (bis 1948) und eine dritte geprägt durch Revisionsbemühungen ohne Todesurteile (bis 1952). Der Kesselringprozess 1947 geriet zum «kleinen Nürnberg» in Italien, zum Musterprozess, in den die Hoffnungen für verbesserte Beziehungen zwischen Italien und England gesetzt wurden. Die später zentral werdenden Argumentationsstränge der Verteidigung wurden hier angelegt: Es ging um das Bild vom «sauberen Krieg an der Südfront», um das Image des loyalen Oberbefehlshabers und das Erringen des «letzten moralischen Sieg[es] der Wehrmacht». Die Verteidigung konnte sich dabei auf die nach wie vor gut funktionierende Rangstruktur der alten Wehrmacht und die Hilfe des ehemaligen Generalstabs stützen. Der Kesselring-Prozess bereitete so den Boden für den Mythos des unschuldig verurteilten Generals.

Im dritten Teil legt von Lingen die Reaktionen auf die Urteilsverkündung im Mai 1947 dar, als sich in verschiedenen Ländern Interessengruppen zur Befreiung von Kesselring bildeten (ca. 1947–1949, S. 171–227). In Deutschland förderte das Engagement ehemaliger Mitstreiter, die Darlegung der schlechten Haftbedingungen in den Medien sowie der Appell der beiden Landeskirchen für eine Begnadigung das Entstehen des Mythos Kesselring. In England wiederum bildete sich der einflussreiche «Hankey-Kreis». Von Lingen konnte erstmals die Vernetzung dieser und auch amerikanischer Persönlichkeiten, die den Druck auf ihre Regierungen für eine Freilassung Kesselrings erhöhten, über neues Quellenmaterial und persönliche Kontakte rekonstruieren. Sie zeigt zudem, dass die in England und Amerika involvierten Personen in der Regel betont antikommunistisch waren und daher «die Furcht vor einem Wiedererstarken Deutschlands» durch das Bedürfnis nach einer schnellstmöglichen Wiederbewaffnung bald verdrängt wurde. Da kurz nach der Urteilsverkündung das Schlagwort der «Siegerjustiz» auftauchte, fürchtete England, das Urteil könnte negative Auswirkungen auf sein Ansehen haben. Daher wurde der Schuldspruch aus juristischer Perspektive zwar bestätigt, Kesselring aus politischen Gründen aber trotzdem begnadigt. Dies förderte auch in der britischen Öffentlichkeit die Unschuldsvermutung.

Im vierten Teil beschreibt von Lingen – gestützt auf unveröffentlichtes Material aus dem Nationalarchiv in London –, wie die Kriegsverbrecherfrage im Kontext der deutschen Wiederbewaffnung und des Kalten Krieges politisiert wurde und was für Konsequenzen sich für die Engländer daraus ergaben (1949–1951, S. 228–287). Nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 wurde die Kriegsverbrecherpolitik mit der Wiederbewaffnungsfrage eng verknüpft. Es wurde klar, dass eine militärische Führung erst dann für den Wiederaufbau einer deutschen Armee zur Verfügung stehen würde, wenn die Verurteilten freigelassen würden. Neben Beeinflussungsversuchen des neu gegründeten «Verbands deutscher Soldaten (VdS)», bildete sich ein Netzwerk um die ehemaligen Nürnberger Verteidiger – der sogenannte Heidelberger-Kreis. Personell war er mit der Zentralen Rechtsschutzstelle verbunden und daher bestens über die nächsten Schritte der Regierung informiert. Die formale Voraussetzung zur Freilassung Kesselrings bildete aber seine Entnazifizierung, die ihn vom ‘Militaristen’ zum ‘Mitläufer’ umdefinierte und die Medien 1950/51 gar von Justizirrtum sprechen liess. Um die Wiederbewaffnungsfrage vorwärts zu bringen, stellten Eisenhower und Adenauer 1951 die Ehre der deutschen Soldaten, «die sich nichts hatten zu Schulden kommen lassen», mit einer «Ehrenerklärung» wieder her. Und als Winston Churchill, der sich schon zuvor für Kesselring eingesetzt hatte, 1951 in England die Wahlen gewann, konnte es nur noch darum gehen, die Freilassung der «Galionsfiguren der Wiederbewaffnungsdebatte», Kesselring und Manstein, ohne Gesichtsverlust durchzuführen.

Im letzten Teil geht von Lingen auf die Umstände der Freilassung und die Rolle Kesselrings in Bezug auf eine Sinnstiftung für die neu entstehende Bundeswehr ein (1952–1960, S. 288–351). Vor allem die Legitimierung seiner Entlassung vor der Öffentlichkeit beschäftigte die beteiligten Regierungen. Die Diagnose der Krebserkrankung lieferte schliesslich eine elegante Möglichkeit, Kesselring ohne Gesichtsverlust im Oktober 1952 freizulassen. Trotzdem verursachte die Entlassung in Italien sowohl auf politischer Ebene wie auch in der Presse grosse Proteste. Die zu schnelle Rehabilitierung Kesselrings ebenso wie seine unbedacht selbstbewussten Äusserungen in der Öffentlichkeit liessen die Proteste anwachsen. Die eigentlichen Kriegsverbrechen und «alte Ängste vor einem Wiederaufleben des Militarismus » rückten wieder in den Vordergrund. Kesselring verlor nach der Freilassung seinen guten Ruf, weil er nicht bereit war, das Wertesystem der Wehrmacht einer Revision zu unterziehen, und unfähig war, eine Brückenfunktion zwischen alter und neuer Soldatengeneration einzunehmen.

Insgesamt legt die Autorin überzeugend dar, dass der «Mythos von der sauberen Wehrmacht» bis Mitte der fünfziger Jahre politikbestimmend war. Adenauer erkannte, dass das Thema der Freilassung als innenpolitisch stabilisierender Faktor und die Wiederbewaffnung als Voraussetzung für die Wiedererlangung deutscher Souveränität wichtig waren. Mit der Freilassung von Kriegsverbrechern wollte er gleichzeitig die «nationale Ehre zurückerhalten». Dass dies nicht gelang, hatte damit zu tun, dass die Freilassung – auch aufgrund von Kesselrings Verhalten eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit provozierte und um 1960 wiederum ein Wandel vom Image des «unschuldigen Gentlemans» zum «Nazigeneral » stattfand. Die Arbeit liefert somit spannende Antworten auf die eingangs gestellten Fragen. Von Lingen nimmt zu Recht für sich in Anspruch, das komplexe Dreiecksverhältnis von Grossbritannien, Deutschland und Italien im Spiegel eines spezifischen, dicht analysierten Falles erstmals erarbeitet und neue Verknüpfungen hergestellt zu haben. In diesem Spannungsverhältnis wurde für «die Sieger [...] der Name Kesselring zum schlechten Gewissen, für die andere Seite ein Symbol, um die ganze Sühne für deutsche Kriegsverbrechen durch Prozesse in Frage zu stellen».

Etwas verwirrend sind die verschiedenen sich zum Teil überschneidenden Periodisierungen, welche die Autorin vornimmt. Des Weiteren ist der Umgang mit den Fussnoten – insbesondere im zweiten Kapitel – nicht immer geglückt. So werden bisweilen zu viele Informationen angefügt, Doppelspurigkeiten in Kauf genommen oder für den Haupttext wichtige Informationen in die Fussnoten verbannt, was den Lesefluss beeinträchtigt. Allerdings ist die Detailgenauigkeit, die einem bisweilen den Blick auf die Struktur der Arbeit zu verstellen droht, auch ein grosses Verdienst dieser Forschungsarbeit, da das genaue Beleuchten von Einzelheiten im Kontext der juristisch-taktischen Argumentationen und strategischen LügengebaÅNude eine absolute Notwendigkeit darstellt. Mit diesem Band hat die Verfasserin eine Arbeit vorgelegt, die aufgrund der rekonstruierten Vernetzung von internationalen und nationalen, politischen und privaten Kreisen, die zur Legendenbildung der ‘sauberen Wehrmacht’ in Italien beigetragen haben, und der Fülle von neuem Material vor allem in Fachkreisen von grossem Wert sein wird.

Zitierweise Alexandra Locher: Rezension zu: Kerstin von Lingen: Kesselrings letzte Schlacht. Kriegsverbrecherprozesse, Vergangenheitspolitik und Wiederbewaffnung: Der Fall Kesselring (= Krieg in der Geschichte, Bd. 20). Paderborn, Ferdinand Schöningh, 2004. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 2, 2005, S. 250-253. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=17803>
 
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