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Europäische Ethnologie und Hist. Anthropologie

M. Vogel u.a.: Das Menschenbild im Bildarchiv

 

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Diese Rezension wurde redaktionell betreut von: Beate Binder <h2466g6yrz.hu-berlin.de>

Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/

Autor(en):; ;
Titel:Das Menschenbild im Bildarchiv. Untersuchungen zum visuellen Gedächtnis der Schweiz. Ein Forschungsprojekt der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich
Ort:Zürich
Verlag:Limmat Verlag
Jahr:
ISBN:3-85791-496-3
Umfang/Preis:144 S.; € 27,00

Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Ulrich Hägele, Universität Tübingen
E-Mail: <ulrich.haegeleuni-tuebingen.de>

Archive werden gehegt, sind zugänglich oder von der Öffentlichkeit hermetisch abgeriegelt. Archive lassen sich kaufen, wandern auf den Müll oder verbrennen im Krieg. Archive sind geduldig und in ihnen spiegelt sich das Verständnis von politischer und gesellschaftlicher Kultur. Archive sind voller Bilder. Auch die vergangenen 15 Jahre sind an Archiven nicht spurlos vorbei gegangen. Vor allem die Digitalisierung, aber auch das Internet führten zu einem Paradigmenwechsel. Nicht verwunderlich ist, dass die Demokratisierung der Bildarchive vor allem in den USA vorangetrieben wurde. Dort nämlich sind öffentliche Einrichtungen wie Bibliotheken und Archive qua Verfassung für jeden kostenlos zugänglich. Ein mustergültiges Beispiel für Benutzerfreundlichkeit liefert die Library of Congress in Washington D.C.: Über 100.000 Bilder von der legendären Farm Security Administration aus den 1930er-Jahren können in Sekundenschnelle auf den heimischen Bildschirm geholt werden.

In Europa hingegen tun sich Archive noch schwer, einen benutzerfreundlichen Umgang mit ihren Bildern zu ermöglichen – auch wenn die betreffenden Bildrechte in der öffentlichen Hand, also beim Steuerzahler liegen. Zudem gestalten sich Recherchen meist überaus schwierig, da es keine gemeinsame Inventarisierungspraxis gibt und auch der grenzübergreifende Verbund der Bildarchive noch in den Kinderschuhen steckt. In Deutschland erweist sich vor allem das föderale Prinzip als Hemmschuh: Oft genug ist unbekannt, welche öffentlichen Archive Fotosammlungen besitzen, wo die thematischen Schwerpunkte liegen und nach welchen Kriterien die Nutzung erfolgt. Bei den großen privat geführten Archiven und Bilderdiensten sieht es kaum anders aus: Deutschland, Deine Bildarchive – ein großes Tal der Ahnungslosigkeit.

In der Schweiz hat sich nun das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Das Menschenbild im Bildarchiv“ an der Züricher Hochschule für Gestaltung und Kunst an die Aufgabe gemacht, 15 Pressebildarchive systematisch zu untersuchen und Kriterien für eine bessere Nutzung und Vernetzung zu entwickeln. Hervorgegangen ist das Projekt aus einer früheren Studie über den Gebrauch von Bildern in Schweizer Tageszeitungen, die Stereotype, Musterbildungen im Rollenverständnis und kollektive Wahrnehmungsaspekte analysiert hatte. In einem weitergehenden Schritt geht es nun um den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung, Repräsentation und Imagination. Die öffentlich-mediale Visualisierung, so die These, bewirke eine Wechselwirkung zwischen „mentalen Bildern und Vorstellungen, die sich im Geiste zu Menschen- und Weltmodellen verdichten und den äusseren Bildern“ (S. 8), mit denen sich der Einzelne im Alltag konfrontiert sieht. Im Vordergrund steht die Prämisse, nach der Archive Medien darstellen, die über Sammlungskriterien, Inventarisierung und Erschließung einen gewichtigen Teil zur visuellen Musterbildung beitragen: „Die dadurch generierten Vorstellungen vom Eigenen und Anderen, von der kulturellen, ethnischen, geschlechtlichen oder professionellen Zugehörigkeit prägen das Selbstbild“ (S. 8) und schaffen so in gesellschaftlicher wie politisch-nationaler Hinsicht sinnstiftende Momente für die Rezipienten.

Bei der Auswahl legte die Arbeitsgruppe Wert darauf, dass die Motive von der Vergangenheit bis in die Gegenwart eine Rolle bei der „Konstruktion einer Schweizer Identität“ eingenommen haben. Zudem sollten sie sich in dem Bereich einer visuellen „Repräsentation sozialer Konstellationen“ bewegen (S. 12). Für die Analyse herangezogen wurden Bilder von Familien, bäuerlicher Arbeit und Migration, sodann erfolgte jeweils eine weitere thematische Unterteilung nach Stichwörtern. Aus den umfangreichen Fotosammlungen filterten die Mitarbeiter für jede Bildgruppe rund 80 Einzelbilder heraus, die schließlich in die Endanalyse Eingang fanden.

Methodologisch orientierte sich die Forschergruppe an einem bildanalytisch-fotoikonographischen Vorgehen, das Fotografien als Dokumente und Konstrukte begreift. Bei der Interpretation dienten sieben Fragen (Disposition, Stellung der Abgelichteten im Bildraum, Einstellungsgröße, Hierarchie der Personen, Rollenmuster, Gestik/Mimik, Gesamtatmosphäre) als forschungsleitende Komponenten, deren Ergebnisse in eine empirische Untersuchung einflossen – drei umfangreiche und nach qualitativen Merkmalen erstellte Fragekataloge, die von Medienschaffenden in den untersuchten Archiven unter den Stichworten „Selektion“, „Erschliessung“ und „Zugänglichkeit“ auszufüllen waren. Das Projekt beabsichtigte, detailgenaue Informationen über thematische Ausrichtung, Spezialisierung und Strategien der betreffenden Archive zu gewinnen. Zudem führten die Mitarbeiter Tiefeninterviews anhand von acht ausgewählten Fotografien durch. Daraus resultierte das signifikante Ergebnis: Auch fachlich geschulte Personen „lesen“ ein und dasselbe Foto sehr unterschiedlich und beurteilen es nach differierenden Parametern. Die Autoren führen dieses Phänomen auf eine Berufspraxis zurück, die im professionellen Medienbildarchiv stark von generalisierenden und kategorisierenden Urteilen geprägt sei.

Je nach Herkunft und Entstehungszusammenhang finden Fotografien rasch oder erst nach vielen Jahren Eingang in ein Archiv. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Bildarchiven orientiert sich im übertragenen Sinn nach einem zeitlich-vertikalen Verlauf. Vorrangig archiviert werden zunächst öffentliche Fotografien, meist Auftragsarbeiten aus dem professionellen Umfeld. Die Autoren fanden heraus, dass diese Fotografien einen starken aktuellen Bezug aufweisen, der etwa fünf Jahre anhält. Nach dieser Zeit verlieren die Fotografien oft an Wert. Danach dauert es rund 40 Jahre, bis die einst aktuelle, dann in die Tiefe der Bedeutungslosigkeit abgesunkene Fotografie als kulturhistorisch und quellentechnisch relevantes Dokument wieder in den Fokus eines nun gewandelten Interesses rückt. Private Fotografien hingegen kommen oft erst lange Zeit nach ihrer Entstehung ins Archiv – manchmal erst nach 100 Jahren, wenn sich etwa Nachfahren eines „Knipsers“ entschlossen haben, die Bilder einer öffentlichen Sammlung zu übergeben.

Die anhand der drei Bildkriterien untersuchten Archive repräsentieren sich sehr heterogen. Die Fotografie als mediale – wie alltagskulturelle – Praxis visualisiert besondere Anlässe. Dies begünstigt motivliche Traditionen, während viele lebensweltliche Bereiche von der Kamera nicht erfasst werden. Die Bildarchive reagieren auf die zunehmende Bilderflut mit einer stärkeren Auswahl. Kommerzielle Faktoren wirken darauf begünstigend. Die Autoren kritisieren, dass bei den untersuchten Bildarchiven keine wirklichen Konzepte für die Sammlung von Fotografien vorhanden sind: „Dieser Mangel wiegt besonders schwer, weil bei Fotoarchiven nicht nur über den Ein- und Ausschuss einzelner Objekte entschieden wird, sondern über den ganzer Alben, Nachlässe und Konvolute, wobei es gerade der Kontext verwandter Bilder ist, der einer Fotografie ihre volle Bedeutung verleiht.“ (S. 130) Verglichen mit einem reinen Textarchiv werde ein Bildarchiv vom räumlichen Bedarf her stiefmütterlich behandelt. Hier müsse bei Politik und Verwaltung ein grundsätzliches Umdenken erfolgen. Besonders fragwürdig, weil offensichtlich beliebig, gestaltet sich allerdings die Praxis des Sammelns. Völlig unklar bleibt nämlich, nach welchen Kriterien Bilder im Archiv inventarisiert oder ausgesondert werden. Da in vielen Fällen die kulturgeschichtliche Bedeutung einer Fotografie erst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung zu Tage tritt, plädieren die Autoren dafür, möglichst viele Fotografien zu sammeln und interdisziplinäre Kriterien für die Archivierung zu finden, die als „Teil eines kulturhistorischen Kontextes“ reflektiert werden sollen: „Erst damit formuliert sich ein Archiv vom Aufbewahrungsort zum kulturellen Gedächtnis.“ (S. 130) Die bisherige, nach innen weitgehend unstrukturierte Sammlungspraxis begünstigt hingegen in vielen Schweizer Archiven und darüber hinaus Stereotypisierungen, sich wiederholende Bildmuster, die „als retardierendes Moment“ gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen können: Veröffentlicht werden wenige, leicht zugängliche Bilder. Der größte Teil bleibt in der Versenkung verborgen.

In ihrem Resümee schlagen die Autoren insbesondere die stärkere Vernetzung der Bildagenturen vor. Außerdem sollen die betreffenden Archive klare Vorgaben über ihre Sammelpraxis entwickeln. Ein besonderes Augenmerk gelte jenen Bildthemen, die bislang kaum oder gar nicht vertreten sind. Insbesondere wären Lücken in der Farbfotografie der 1960er- und 1970er-Jahre durch gezielte Ankäufe von öffentlichen oder privaten Sammlungen zu schließen. Größerer Anstrengungen bedarf es zudem bei der besseren Verschlagwortung. Über kurz oder lang sollten sämtliche Bildarchive in ihrer Gesamtheit über das Internet, möglichst im Verbund, zugänglich gemacht werden.

Die Untersuchung „Menschenbild im Bildarchiv“ setzt, ohne sie zu nennen, frühere Versuche fort, die einem systematisierten Gebrauch von Bildarchiven gewidmet waren. So entwickelte die Fotohistorikerin Ellen Maas 1995 für ihre über 100.000 Bilder umfassende Sammlung eine nach 28 thematischen Hauptgruppen gegliederte Exemplarische Microfiche-Photothek (EMPHOTHEK) auf 189 Einzelfiches und machte sie für die wissenschaftliche Bearbeitung zugänglich. Im musealen Bereich nahmen die französischen Ethnographen eine Vorreiterrolle ein. 1997 wurde vom visuellen Bestand des Musée National des Arts et Traditions Populaires (MNATP) in Paris ein Katalog mit etwa 100.000 Nennungen veröffentlicht.[1] Unterteilt nach 40 Stichwörtern brechen die Themen den volkskundlichen Kanon auf und erleichtern dadurch die Nutzung des umfangreichen Bildbestandes erheblich.

Die vorliegende Schweizer Publikation leistet eine herausragende Pionierarbeit bei der Erschließung von zumeist privat geführten Pressebildarchiven. Das Buch liefert einen sehr eindrucksvollen und notgedrungen ausschnitthaften Einblick in die Schweizer Fotosammlungen, deren facettenreiche Vielfalt an Themen, Motiven und historischen Zeugnissen sich nur erahnen lässt. Das Herangehen könnte auch für die öffentliche Hand exemplarisch sein, verweilt es doch nicht im Beschreiben einer zumeist unbefriedigenden Archivsituation, sondern analysiert diese und bietet mustergültige Lösungsvorschläge.

Anmerkungen:
[1] Richard, Philippe; Lozza, Brigitte, Ethnophoto. Thésaurus pour l'analyse de la photographie ethnographique du domaine français (MNATP), Paris 1997.

ZitierweiseUlrich Hägele: Rezension zu: Vogel, Matthias; Binder, Ulrich; Caviezel, Flavia: Das Menschenbild im Bildarchiv. Untersuchungen zum visuellen Gedächtnis der Schweiz. Ein Forschungsprojekt der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich. Zürich 2006, in: H-Soz-Kult, 31.03.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-1-245>.
 
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