Chr. Dejung: Aktivdienst und Geschlechterordnung

Titel
Aktivdienst und Geschlechterordnung. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte des Militärdienstes in der Schweiz 1939-1945


Autor(en)
Dejung, Christof
Erschienen
Zürich 2006: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
446 S.
Preis
€ 44,80
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Christof Strauß, Staatsarchiv Freiburg

Dass militärische Konflikte tiefgreifende Auswirkungen auf die Gesellschaften der beteiligten Staaten haben, mag als offenkundige und banale Feststellung abzutun sein. Dass Gleiches indessen auch für Länder gilt, die nicht aktiv am Kriegsgeschehen teilnehmen, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Christof Dejung widmet sich mit seiner Zürcher Dissertation genau diesem Thema, indem er den sogenannten Aktivdienst in der Schweiz von 1939-1945 aus kultur- und alltagsgeschichtlicher Perspektive einer eingehenden Untersuchung unterzieht, wobei Dejungs besonderes Augenmerk geschlechtergeschichtlichen Aspekten gilt.

Unter Aktivdienst wird in der Schweiz im Allgemeinen die Ableistung des Militärdienstes in Zeiten äußerer Bedrohung verstanden. Im alltäglichen Sprachgebrauch wurde der Begriff jedoch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zugleich zu einem Synonym für die Zeit von 1939 bis 1945. Die Schweiz erscheint in gleich dreierlei Hinsicht als interessanter und lohnenswerter Untersuchungsgegenstand: Zum einen war die Eidgenossenschaft zwar nicht aktiv am Kriegsgeschehen beteiligt, seit 1940 aber geografisch vollständig vom Einflussbereich der Achsenmächte umschlossen und somit potentiell in seiner territorialen Integrität bedroht. Zum anderen bewirkt das eidgenössische Milizsystem bis in die heutige Zeit hinein eine spezifische Vermischung von ziviler und militärischer Sphäre. Schließlich zeitigte die wichtige Rolle des Militärs lange Zeit bedeutsame Auswirkungen auf die Geschlechterordnung unseres Nachbarlandes, sofern das Wahlrecht als Gegenleistung für den Militärdienst angesehen wurde und dieses der weiblichen Bevölkerung folglich bis weit in die Nachkriegszeit hinein verwehrt blieb.

Nach einem kompakten und hilfreichen Abriss der schweizerischen Militärgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie der Beschreibung der sogenannten „geistigen Landesverteidigung“ – eines vor allem von offiziellen Stellen propagierten nationalen Konsenses in Zeiten äußerer Bedrohung – formuliert Dejung fünf Thesen, die die schon vor 1945 in der Schweiz einsetzende Mythenbildung kritisch hinterfragen, wonach das Schweizer Volk im Zeichen der Gefahr tatsächlich einig zusammengestanden und lediglich die eidgenössische Wehrhaftigkeit einen deutschen Einmarsch verhindert habe. Gleiches gilt für die Überhöhung der Bedeutung des Aktivdienstes für das Selbstbild der Schweiz nach 1945.

In seinen Thesen argumentiert Dejung erstens, dass der Kriegsausbruch 1939 den hohen gesellschaftlichen Stellenwert der militärischen Landesverteidigung bis in die Nachkriegszeit hinein noch weiter gesteigert habe. Zweitens stützte sich die propagierte „geistige Landesverteidigung“ vor allem auf die gemeinschaftliche Erfahrung der Männer im Wehrdienst und zeitigte so negative Folgen für die Gleichstellungsbemühungen der Frauen nach 1945. Drittens spielte das Ideal wehrhafter Männlichkeit eine wichtige Rolle bei Richtungsstreitigkeiten innerhalb der Armee in den dreißiger und vierziger Jahren. Viertens bestanden starke wechselseitige Abhängigkeiten und Differenzen zwischen den heroisierenden Diskursen über den Aktivdienst in der Öffentlichkeit und der oft frustrierenden alltäglichen Lebenswirklichkeit der Soldaten. Fünftens schließlich zementierte der Aktivdienst die männliche Prägung der Politik in der Schweiz, die Dominanz bürgerlich-konservativer Deutungsmuster hinsichtlich der Kriegszeit und die Marginalisierung abweichender (linker) Erinnerungsstränge im öffentlichen Bewusstsein.

Dejung arbeitet seine Thesen an den drei Bereichen der militärischen und nationalistischen Propaganda der Kriegszeit, den Vorstellungen der Angehörigen der militärischen Elite und der Binnenorganisation des militärischen Sozialsystems ab. Die Quellenbasis gestaltet sich entsprechend: Für den ersten Bereich kommen vor allem behördliche Propagandatexte aus der Zeit der „geistigen Landesverteidigung“ zum Einsatz, ebenso militärische Erziehungsschriften, die potentielle Rekruten vor dem Wehrdienst mit einem entsprechenden geistigen Rüstzeug versehen sollten. Militärtheoretische Schriften und Nachlässe hochrangiger Offiziere decken den zweiten Bereich ab. Für das Alltagsleben der Soldaten und deren subjektive Perspektive des Aktivdienstes existieren indessen kaum archivalische Quellen. Dejung greift daher neben gedruckten Erinnerungen folgerichtig auf Interviews mit Augenzeugen zurück. Neben bereits vorhandenen Berichten, die im Rahmen des Projektes „Archimob“1 gewonnen wurden, führte er zusätzlich 20 Augenzeugeninterviews durch. Die am Ende der Arbeit beigefügten Fragebögen machen dieses Unterfangen transparent und stellen es zusammen mit den theoretischen Ausführungen auf eine solide methodische Basis. Dejung ist sich bewusst, dass mit ‚Oral History’ eine Repräsentativität im Sinne sozialwissenschaftlicher Meinungsumfragen nicht zu erzielen ist, während die Gleichartigkeit vieler Augenzeugenberichte hinsichtlich bestimmter Probleme aber sehr wohl signifikante Schlüsse zulässt. Die Analyse von Pressetexten und Akten der Militärjustiz hätten, so Dejung, eigene Studien erfordert. Die Beschränkung auf die Deutschschweiz bleibt für die Leser/innen freilich bedauerlich, da man angesichts des Krieges zwischen Deutschland und Italien einerseits sowie Frankreich andererseits interessante Auswirkungen bei den jeweiligen Volksgruppen der Eidgenossenschaft erwartet hätte.

In der Schweiz prägte lange Zeit vor allem die Erinnerungsliteratur ehemaliger Offiziere das Bild des Aktivdienstes. Es folgten wissenschaftliche Studien, die den common sense der wehrhaft neutralen und „geeinten“ Republik zunächst ebenso unkritisch propagierten. Negative Aspekte wie die restriktive Flüchtlingspolitik der Schweiz oder ihre wirtschaftliche Kooperation mit den Achsenmächten konnten so lange Zeit erfolgreich überdeckt werden. Die Relativierung ihres „Saubermannimage“ traf die Schweiz dann in den neunziger Jahren mit voller Wucht, bedingte aber eine Konjunktur für kritische wissenschaftliche Studien. Mit dem alltags- und geschlechtergeschichtlichen Zugang zum Aktivdienst schließt Dejungs Arbeit jedoch zweifellos eine Forschungslücke.

Die Studie gliedert sich in fünf große Abschnitte. Der erste Teil über die Mobilmachung widmet sich zunächst dem Fahneneid der Wehrmänner als Initiationsritus in einen „Schmelztiegel der Nation“, der Frauen explizit ausschloss. Viele der einfachen Soldaten übernahmen das offizielle Deutungsmuster, dass erst der Wehrdienst den Mann zum Manne und damit zum vollwertigen Staatsbürger mache. Während die Verschonung der Schweiz von kriegerischen Handlungen das makellose Bild des Vaterlandsverteidigers weitgehend unangetastet ließ, konnte die weibliche Bevölkerung mit ähnlichen „Leistungen“ nicht aufwarten. Entsprechend kritisch sahen konservative Kreise auch die Aufstellung eines erst zivilen, dann militärischen Frauenhilfsdienstes. Sie präferierten eindeutig das vor allem in offiziellen Schriften propagierte Bild der treusorgenden und sockenstrickenden Soldatenfrau. Die Leistungen des Frauenhilfsdienstes wurden nach dem Krieg daher auch nicht mit politischer Partizipation entlohnt.2

Mit den Topoi einer „Schule der Nation und der Männlichkeit“ sowie der „Erziehung zum Gehorsam“ leuchten der zweite und dritte Teil alle signifikanten Facetten des militärischen Alltags aus. Die Armeeführung war bestrebt, die einer zivilen „weiblichen“ Friedensgesellschaft entstammenden Männer in die „männliche“ Welt des militärischen Dienstes einzugliedern. Die Praxis des militärischen Alltags verfestigte die bürgerlich-patriarchale Gesellschaftsordnung nachhaltig. Besondere Aufmerksamkeit widmet Dejung der Kameradschaft und dem männerbündischen „Korpsgeist“, der disziplinierte, aber auch Phänomene einer latent widerspenstigen soldatischen Subkultur ausprägte. Seit der Jahrhundertwende schwelte zudem ein Richtungsstreit innerhalb der Schweizer Armee: Vertreter der „nationalen Richtung“ unter General Guisan präferierten das Konzept des Bürgersoldaten, eine „neue Richtung“ um Däniker und Wille jun. sympathisierte dagegen mit dem preussisch-deutschen Soldatentum des harten Drills und zeigte Affinitäten für die nationalsozialistische Ideologie.

Der vierte und fünfte Teil beleuchten unter anderem die Erfahrungen jüdischer Soldaten zwischen Diskriminierung und Solidarität sowie den so genannten Reduitmythos. Demzufolge habe der Rückzug der Schweizer Armee ins Hochgebirge die territoriale Integrität des Landes gesichert. Es gehört zu den kuriosen Widersprüchen dieses Mythos, der auch nach dem Krieg weiter gepflegt wurde, dass mit dieser Maßnahme weite Teile des Landes ungeschützt blieben und der Schweizer Soldat in dieser Rückzugsposition keinesfalls seiner Rolle als männlicher Verteidiger schutzloser Frauen und Kinder hätte nachkommen können.

Die immense Bedeutung, die der Aktivdienst als kollektive Erfahrung der männlichen Schweizer für die gesellschafts- und geschlechterpolitische Nachkriegsordnung der Schweiz besaß, wird bei Dejung überaus deutlich. Das Konzept der „geistigen Landesverteidigung“ beherrschte die Einschätzung der Zeit von 1939-1945 bis weit in die Nachkriegszeit hinein und überdeckte kritische Ansätze. Der breite geschlechtergeschichtliche Analysekontext läßt die Studie nie eindimensional erscheinen, und sie zeigt ihre Stärken vor allem beim Kontrastieren der offiziellen Propaganda mit dem Alltagsleben der Soldaten. Zu bemängeln sind lediglich Quisquilien wie ein allzu knapper Index und die fehlende optische Hervorhebung von Zitaten. Auch wäre eine größere Zahl an Augenzeugeninterviews möglicherweise hilfreich gewesen, um die Signifikanz der gewonnenen Ergebnisse zu stärken. Doch liefert Dejung mit seiner Studie einen facettenreichen und fundierten Beitrag zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Ein durch Archivquellen nur unzureichend erschließbarer Untersuchungsgegenstand wird umfassend ausleuchtet und vermag hinsichtlich der verwendeten Quellen sicherlich auch methodisch Anstöße für zukünftige Studien zu geben.

Anmerkungen:
1 Der Verein Archimob führte von 1999 bis 2001 insgesamt 555 Interviews mit Zeitzeuginnen des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz durch. Die Interviews entstanden zu einer Zeit, in der die Rolle der Eidgenossenschaft im Krieg wegen der so genannten nachrichtenlosen Vermögen von Holocaust-Opfern auf Schweizer Banken intensiv diskutiert wurde.
2 Vgl. etwa: Chiquet, Simone, Viel Selbstbewusstsein – wenig Erfolg. Der Schweizerische FHD-Verband, in: Jaun, Rudolf; Studer, Brigitte (Hg.), Weiblich – männlich. Geschlechterverhältnisse in der Schweiz: Rechtsprechung, Diskurs, Praktiken, Zürich 1995, S. 185-194. Vgl. auch: Stämpfli, Regula, Mit der Schürze in die Landesverteidigung. Frauenemanzipation und Schweizer Militär 1914-1945, Zürich 2002.

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Veröffentlicht am
09.08.2006
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