C. Dordin u.a.: Das Tagebuch eines k. u. k. Soldaten im Ersten Weltkrieg

Cover
Titel
Das Tagebuch eines k. u. k. Soldaten im Ersten Weltkrieg. Edition und Analyse


Autor(en)
Cordin, Carla; Ettore, Cordin
Herausgeber
Haumann, Heiko
Reihe
Menschen und Strukturen. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien 20
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Moritz Pfeiffer

2014 jährt sich zum 100. Mal der Ausbruch des Ersten Weltkrieges – jener «Urkatastrophe» des 20. Jahrhunderts. Während zahlreiche Publikationen die Gesamtheit der Ereignisse abzubilden und zu erklären versuchen, belegt Carla Cordins lesenswertes Buch, dass die Geschichtswissenschaft den Blick auf die Mikroebene des persönlichen Erlebens unbedingt braucht. Mehr noch: Cordin zeigt anhand ihrer inhaltlich wie methodisch hochwertigen Studie, dass Geschichte immer auch Familiengeschichte ist. Es ist schade, dass nur wenige Wissenschaftler den Mut aufbringen, familiäre Ego-Dokumente zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Cordin (Jahrgang 1987) lässt sich von dem Umstand, mit familiengeschichtlicher Forschung eher belächelt zu werden, nicht abhalten und ermöglicht dem Leser anhand der Analyse und der Edition des Kriegstagebuches ihres Urgrossvaters väterlicherseits einen spannenden Einblick in Kriegserlebnis und
-wahrnehmung eines Soldaten im Alpenkrieg in Norditalien. Dabei beweist sie jederzeit wissenschaftliche Seriosität, ohne deswegen auf eine gewisse Nähe zum Protagonisten ihrer Untersuchung zu verzichten. Ihr Urgrossvater Ettore Cordin (Jahrgang 1884) ist ein «in der Deutschschweiz aufgewachsener, italienischsprachiger Tiroler, der eine Zeit lang in Deutschland arbeitet und dann für Österreich im Trentino gegen Italien kämpft» (S. 122). Als zentrale Fragestellung möchte die Autorin Ettore Cordins Wahrnehmung der Zeit des Weltkrieges herausarbeiten und einen «Beitrag zur Erforschung von Kriegsalltag und Kriegserleben» leisten (S. 27). Ihre Studie möchte Carla Cordin verstanden sehen als Versuch, «etwas zu verstehen und nicht als Anmassung, etwas zu wissen» (S. 13) – eine in der Geschichtswissenschaft seltene, angenehm zurückgenommene Grundhaltung.

Ihr Quellenkonvolut sind die mit «1915 – Kriegs-Erinnerung – 1919» betitelten Tagebücher des Urgrossvaters, die dieser während seiner Zugehörigkeit zur Armee führte. Da Ettore Cordin vorher und nachher kein Tagebuch führte, unterstreicht dies die Besonderheit, die er dem Kriegserlebnis beimass. Anhand nachträglicher Verbesserungen kann Carla Cordin die Absicht des Autors nachweisen, das Tagebuch anderen zum Lesen zu geben. Die Autorin nähert sich der Quelle zunächst in zwei grundlegenden Kapiteln, in denen Quellenwert und Aussagekraft von Selbstzeugnissen (Kap. 2) und der Forschungsstand zum Ersten Weltkrieg rekapituliert werden (Kap. 3). Die auffallende Kürze dieser beiden einleitenden methodologischen Kapitel erweckt jedoch den Eindruck einer Pflichtübung. Mit spürbarer, charmanter Freude widmet sich Cordin dem Quellenkonvolut selbst (Kap. 4). Dabei erläutert sie zunächst ihre Fragestellung (Kap. 4.1), diskutiert am konkreten Beispiel des Kriegstagebuches erheblich ausführlicher und problembewusst den Quellenwert (Kap. 4.2), liefert die biographischen Hintergrundinformationen zu Ettore und stellt die Formalia des Kriegstagebuchs und ihren wissenschaftlichen Umgang damit vor. Die Auswertung der Quelle ist aufgeteilt in eine chronologische und eine thematische Analyse (Kap. 4.4 und 4.5). Dabei lässt Carla Cordin ausführlich die Quelle selbst sprechen und ergänzt die umfangreichen Zitate mit Hintergrundinformationen. Das ist sinnvoll, jedoch wird hier der Lesefluss erschwert durch den ständigen Wechsel zwischen Präsens (wenn auf Ettores Erlebnisse eingegangen wird) und Präteritum (wenn die Kriegssituation erläutert wird o. ä.). Mit welcher Intention schrieb Ettore sein Kriegstagebuch? Was verrät der Schreibstil über den Autoren? Was wird offensichtlich verschwiegen? In mehreren solchen quellenkritischen Einschüben zeigt Carla Cordin, wie multiperspektivisch sie ihre Quelle analysiert. Sie kommt zu dem Schluss, dass ihr Urgrossvater mit seinem Tagebuch bezweckte, «möglichst genau festzuhalten, worin seine Zeit als Soldat besteht und wie das Leben im Militär, im Krieg, aussieht» (S. 112). In diesem Kontext fällt auf, dass Ettore auf selbstreflexive Gedanken oder die Schilderung von Gefühlen eher verzichtete. Nur bei eigenen Frontaufenthalten schrieb er über den Kriegsverlauf und die Intensität der Kämpfe. Bei Aufenthalten im Hinterland oder Lazarett verlor er kein Wort über die politisch-militärische Entwicklung. Obwohl also offensichtlich keine emotionale Identifikation mit den Kriegszielen vorlag, akzeptierte Ettore den Referenzrahmen des Soldaten: Abgesehen von verständlichen Versuchen, sich aus allzu bedrohlichen Situationen fernzuhalten und den Krieg möglichst zu überleben, zeigte Ettore das Bestreben, ein «guter» Soldat zu sein. Erst im Jahr 1918 zeigt sich eine zunehmende Friedenssehnsucht. Die deutsch-österreichische Niederlage erklärte Ettore sich mit schlechter eigener Ausrüstung und mangeln dem Nachschub. Dem Gegner sprach er in teils harschen Worten den militärischen Sieg, ja sogar die Befähigung zum Kämpfen überhaupt ab. Hier zeigt sich bereits die Legende eines «im Felde unbesiegten» Heeres, die in den Folgejahren der «Urkatastrophe» des 20. Jahrhunderts noch für so viel Unheil sorgen sollte.

Die vollständige Edition (Kap. 6) des Kriegstagebuchs Ettore Cordins und die vorherige stringente Analyse durch seine Urenkelin sind ein Plädoyer für eine «Geschichte von unten». Neben aller wissenschaftlichen Sachlichkeit hätte Carla Cordin gerne auch etwas ausführlicher erwähnen können, wie sich die Bearbeitung dieses familiengeschichtlichen Stoffes auf sie selbst ausgewirkt hat. Zweifelsohne beweist sie jedoch, dass die Quellen für eine erkenntnisreiche wissenschaftliche Arbeit nicht zwangsläufig in einem Archiv liegen müssen, sondern – wenn man den Mut und die Innovationskraft dazu aufbringt – auch auf dem eigenen Dachboden.

Zitierweise:
Moritz Pfeiffer: Rezension zu: Carla Cordin, Ettore Cordin. Das Tagebuch eines k. u. k. Soldaten im Ersten Weltkrieg. Edition und Analyse, Frankfurt a. M.: Peter Lang Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 3, 2014, S. 530-533.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 3, 2014, S. 530-533.

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