M. Delgado u.a. (Hrsg.): Religion und Öffentlichkeit

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Titel
Religion und Öffentlichkeit. Probleme und Perspektiven


Herausgeber
Delgado, Mariano; Jödicke, Ansgar; Vergauwen, Guido
Erschienen
Stuttgart 2009: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Franziska Metzger, Seminar für Zeitgeschichte

Der von Mariano Delgado, Ansgar Jödicke und Guido Vergauwen herausgegebene dritte Band der Publikationsreihe «Religionsforum» der Universität Fribourg vereinigt internationale Beiträge zweier Tagungen, die sich aus religionssoziologischer, theologischer, philosophischer, religionshistorischer und -pädagogischer Perspektive mit Phänomenen und Verhältnisbestimmungen von Religion und Öffentlichkeit in den europäischen Gesellschaften der letzten Jahrzehnte sowie der Gegenwart befassen. Dabei changiert der Sammelband multiperspektivisch zwischen verschiedenen Beobachtungspositionen – auch bewusst normativen – und verschiedenen Religionsgemeinschaften, in erster Linie dem Christentum und dem Islam. Verschiedene Beiträge sind für eine konzeptionelle und theoretische Weiterführung der wissenschaftlichen Diskussion über Religion im öffentlichen Raum äusserst gewinnbringend, wodurch der Band über die Ergebnisse verschiedener neulich erschienener Publikationen zu einer ähnlichen, zumeist ebenfalls interdisziplinär angegangenen Themenstellung hinausgeht. Dies ist besonders für die Aufsätze von Karl Gabriel in soziologisch-theoretischer Perspektive auf Religion in der Moderne und von Reinhard Schulze mit einem ebenso theoretischen Blick auf den Islam als öffentliche Religion der Fall.

Nach einem breiten Zugang auf Religion in der Moderne aus soziologischer, theologischer und philosophischer Perspektive durch Karl Gabriel, Rémi Brague, Pierre Gisel und Paul M. Zulehner, verschränken sich im zweiten Teil normativ ausgerichtete Beiträge von Leo Karrer und Kurt Koch, die der Frage nach dem Nutzen öffentlicher Religion und dem damit verbundenen Wandel in den Religionen nachgehen, mit Analysen der Verhältnisse von Religion und Öffentlichkeit in Christentum und Islam in den heutigen europäischen Gesellschaften durch Mariano Delgado, Reinhard Schulze, Emilio Platti, Rotraud Wielandt und Karénina Kollmar-Paulenz. Im dritten Teil befassen sich Ansgar Jödicke und Jean-François Mayer mit zwei ausgewählten Feldern öffentlicher Präsenz von Religion: mit dem Ethikunterricht in Deutschland und dem religiösen Faktor in der Diplomatie. Im Folgenden werden jene Aufsätze ausführlicher besprochen, welche für religionsgeschichtliche und theoretisch-konzeptionelle Überlegungen zu Religion im öffentlichen Raum besonders weiterführend erscheinen.

In seinem begrifflich differenzierenden Beitrag geht Karl Gabriel von einem komplexen Verhältnis von Religion in der Konstitution und der Grenzziehung von Privatem und Öffentlichem aus. Er beschreibt sich überlagernde Prozesse der Ausdifferenzierung der staatlich-politischen Öffentlichkeit wie der Sphäre des Privaten in der modernen Gesellschaft ebenso wie die Ausdifferenzierung eines Raumes diskursiver Meinungsbildung und eines medialen Öffentlichkeitssystems, ein Ansatz, der es ihm erlaubt, eine Pluralität von Phänomenen öffentlicher Religion in den Blick zu nehmen. Besonders die beiden letztgenannten Faktoren sind auch für einen diskurs- und semantikgeschichtlichen Ansatz interessant, insofern als Öffentlichkeit die Funktion einer «diskursiven Selbststeuerung der Gesellschaft und der Legitimation politischer Ordnungen und Entscheidungen» (16) erhält und eine massenmediale Öffentlichkeit der differenzierten modernen Gesellschaft die Selbstbeobachtung ermöglicht. Insgesamt hätten daran anschliessend die Rolle und die diskursive Präsenz von Religion in der Öffentlichkeit etwas ausführlicher thematisiert werden können.

Bedauerlicherweise schliessen die auf Karl Gabriels soziologischen Input folgenden Beiträge der ersten Sektion etwas wenig an dessen ins Zentrum der Fragestellung des Bandes zielende konzeptionelle Ausführungen an, was darauf – aus (pastoral)theologischer Sicht – die Beiträge von Leo Karrer und Kurt Koch in einem stärkeren Ausmass tun. So kommt Kurt Koch zum Schluss: «Das Christentum muss die Öffentlichkeit jenseits seiner möglichen Privatisierung bzw. Verstaatlichung suchen.» (118)

Der ausgezeichnete Beitrag von Reinhard Schulze zum Islam im öffentlichen Raum bzw. zum Islam als öffentliche Religion schafft es, das Defizit an Anschlussfähigkeit verschiedener Beiträge im vorliegenden Sammelband wettzumachen, indem er, einen Zugang der historischen Semantik zur Situierung des Öffentlichkeitsbegriffs in der Mitte des 19. Jahrhunderts und in dessen wissenschaftsgeschichtlicher Tradition wählend, den konstruktivistischen Öffentlichkeitsbegriff Gabriels präzisiert und darauf aufbauend das Konzept der öffentlichen Religion in zweifacher Hinsicht konturiert: im Sinne von Religion als mögliches Attribut von Öffentlichkeit und im Sinne von Öffentlichkeit als mögliches Attribut von Religion – zwei konvergierende Prozesse, die gerade den Blick auf sich daraus ergebende Transformationen von Religion öffnet. Öffentliche Religion oder «public religion» konzeptionalisiert Schulze als «Repräsentation des Religiösen in Form einer Öffentlichkeit, insofern politische, ökonomische und symbolische Felder gleichermassen durch eine religiöse Normativität beziehungsweise Symbolik ausgestaltet werden» (150), eine theoretische Grundlegung, die über den Islam hinaus auch für die Analyse anderer Religionsgemeinschaften verwendbar ist. Äusserst interessant über den Islam hinaus sind auch Schulzes Differenzierungen, die er in Bezug auf den Islam im öffentlichen Raum vornimmt. So kommt er zum Schluss, dass es die Strukturen des öffentlichen Raums sind, die «jede öffentliche Religion und damit auch einen ‹öffentlichen Islam› bestimmen und ethische Normativität konstruiert», wobei es sich um eine jeweilige Neukonstruktion des Religiösen im öffentlichen Raum handelt. Damit wandelt sich der Ort der Religion im öffentlichen Raum und ist es gerade die Entgrenzung der Kopplung des öffentlichen Raums an den Machtbereich eines Staates, der zu einer transnationalen Öffentlichkeit führt, in der in den letzten Jahrzehnten am stärksten eine Islamität ausformuliert worden ist. Dem Islam als öffentlicher Religion setzt Schulze den Islam in der Privatheit gegenüber – eine gerade für die Katholizismusforschung zum 19. und 20. Jahrhundert inspirierende Sicht –, welcher sich auf Solidaritätsnetzwerke basiert und in sozialmoralischen Milieus äussert und im Fundamentalismus seine typischste Ausprägung hat.

Differenziert kommen die Verschränkungsverhältnisse von Religion und Öffentlichkeit auch in Karénina Kollmar-Paulenz Beitrag zur tibetischen Exilgesellschaft zum Ausdruck, wo sich nicht nur eine grosse binnenreligiöse Diversität zeigt, sondern die Konfliktualität derselben noch durch die zentrale Rolle öffentlicher Inszenierung von Religion und deren Politisierung im nationalen Identitätskontext gesteigert wird. Im gegenwartsanalytischen Beitrag von Ansgar Jödicke stehen die Schnittbereiche der Definition von Ethik zwischen dem religiösen und anderen gesellschaftlichen Systemen – Erziehung, Politik – im Zentrum. In der Debatte des Ethikunterrichts am Beispiel Berlins, in welcher Religion eine «Orientierungsleistung neben anderen» darstellt (227–228) stehen die Kirchen, für die das Feld religiöser Erziehung einen wesentlichen Bereich in der Selbstpositionierung im öffentlichen Raum darstellt, zumindest teilweise in Konflikt mit nichtkirchlichen Deutungsansprüchen. Gut stellt Jödicke die kirchlichen Ambivalenzen in der Verschränkung von Konfessionalität der eigenen religiösen Tradition und Selbstdarstellung im Rahmen gesellschaftlich legitimierbarer Normativität von «Verständigung» und «Toleranz» dar.

Es sind vor allem die die Verschränkungsverhältnisse von Religion und Öffentlichkeit reflektierenden Beiträge des vorliegenden Sammelbandes, welche für die interdisziplinäre Forschung richtungsweisend sein können, indem sie in Bezug auf interreligiös vergleichende und auf die postmodernen, räumlich zunehemend entgrenzten (Migrations)gesellschaften gerichtete Fragestellungen substantielle Inputs leisten.

Zitierweise:
Franziska Metzger: Rezension zu Mariano Delgado/Ansgar Jödicke/Guido Vergauwen (Hg.), Religion und Öffentlichkeit. Probleme und Perspektiven, Stuttgart, W. Kohlhammer, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 329-331.

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