G. Althoff u.a.: Ironie im Mittelalter

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Titel
Ironie im Mittelalter. Hermeneutik – Dichtung – Politik


Autor(en)
Althoff, Gerd; Christel, Meier
Erschienen
Darmstadt 2011: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Benedikt Tremp, Schweizerisches Literaturarchiv BAK

Dass die Menschen des Mittelalters zu Ironie fähig gewesen sein könnten, ist in der Forschung bislang stark bezweifelt worden. Dafür erscheint uns diese Epoche «zu ernsthaft, zu religiös, zu moralisch oder didaktisch, wohl auch etwas zu einfältig» (12). Entsprechend gering ist in der aktuellen Ironieforschung, die v.a. in den Gebieten der Literaturwissenschaft, Rhetorik und Linguistik angesiedelt ist, das Interesse an Untersuchungen zu mediävistischen und darüber hinaus geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen.

Christel Meier und Gerd Althoff legen mit der hier zu besprechenden Monographie den Versuch vor, diesem Vorurteil dezidiert entgegenzuwirken und weiterführende Forschung zu dieser unkonventionellen Thematik anzuregen. In Zusammenarbeit mit Stipendianten der Studienstiftung des Deutschen Volkes entstand eine interdisziplinär angelegte Untersuchung, die auf der Grundlage eines sehr grosszügigen und vielfältigen Quellenmaterials querschnittartig Anwendungsmöglichkeiten und Funktionen von Ironie im Mittelalter aufzeigen will. Analysiert wird sie unter dem Gesichtspunkt jener zwei Formen, in denen sie grundsätzlich auftreten kann: als rhetorisches Mittel, wie es in der alltäglichen Kommunikation zwischen Menschen angewandt wird, und als literarische Strategie.

I. Ein erster, von Meier verantworteter Teil der Untersuchung widmet sich den Wegen, über die Vorstellungen von Ironie in mittelalterliche Schulen gelangten und weitervermittelt wurden: jenen der theoretischen Rezeption antiker Rhetorik- und Ethiklehren, u.a. bei Beda Venerabilis (672/3–735, Einflüsse Donats) und Thomas von Aquin (1225–1274, Rezeption der ‹Nikomachischen Ethik›), sowie der praxisbezogenen Dichtungslektüre und -erklärung in Kommentarliteratur und Bibelexegese, u.a. bei Wilhelm von Conches (ca. 1080/90–1154) bzw. Rupert von Deutz (ca. 1070–1130). Meier zeigt dabei auf, mit welcher überraschenden Vertrautheit und Selbstverständlichkeit hochmittelalterliche Autoren einerseits über Schwierigkeiten in Ironiedefinitionen reflektierten (u.a. im Zusammenhang mit der Frage nach Beschaffenheit des ‹Gegensatzes› von Wort und Sinn, der konstitutiv ist für ironische Rede) und andererseits in der Kommentierung und Auslegung von säkularen Dichtungen und der Bibel Ironie als bewährtes stilistisches Mittel identifizierten und diskutierten.

II. Althoff präsentiert in seinem Teil der Untersuchung eine Vielzahl bestens bekannter narrativer Quellen des Mittelalters, von einschlägigen historiographischen Werken bis hin zu Brieftraktaten, in denen er auf Zeugnisse ironischen Sprechens «in der politischen Interaktion der rang- und ehrbewussten mittelalterlichen Gesellschaft» (17) gestossen ist. Diese beleuchtet er unter dem Gesichtspunkt verschiedener konstellatorischer Bedingungen (Ironie u.a. zwischen Herrschenden und Untergebenen oder zwischen Gleichgestellten), Funktionen und Intentionen (Ironie u.a. als Ausdruck vernichtender, polemischer Kritik des Siegers gegenüber dem Besiegten oder wohlwollenden, konzilianten Tadels für Verbündete und Vertraute) und unterstreicht eindrücklich, dass Ironie als wirkungsvolles Mittel in typischerweise agonalen Kommunikationssituationen einen gesicherten Platz zumindest in der Vorstellungswelt mittelalterlicher Gesellschaften besessen haben muss.

III. Neuerlich von Meier verantwortet, behandelt der letzte, literaturwissenschaftliche Teil der Monographie «ironieaffine Gattungen» in der mittellateinischen Literatur und, als kurzer, abschliessender Ausblick, des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Anhand einer bunten Serie von Einzeluntersuchungen einiger ausgewählter Beispiele aus den Bereichen von Satire, Invektive, Tierepos sowie ironischen Kleingattungen wie u.a. dem Grabepigramm, der Vagantendichtung oder der Fazetie präsentieren sich hier verschiedenste Spielarten der damaligen Autoren mit literarischen Ironiestrategien: etwa hartnäckige Ironieleugnung in Nikolaus’ von Bibra (gestorben nach 1307) bissigem Occultus Erfordensis, die letztlich nichts anderes als «potenzierte Ironie» (164) ist, oder ironische Invertierung einer anderen (nicht-ironischen) Gattung, wie das Tierepos (u.a. der Ysengrimus) gemäss Meier mit dem hohen Epos verfährt.

Das Grundkonzept der Monographie, eine weitläufige ‹Neu-Lektüre› altbekannten Quellenmaterials vermittels eines neuen, spannenden Zugangs, ist gleichermassen simpel wie erfrischend. Auswahl und Behandlungsumfang der verschiedenen Texte und Textgattungen erscheinen im Grossen und Ganzen sinnvoll und ausgewogen; es fehlen jedoch Werke aus der deutschsprachigen Dichtung, die für die Ironiethematik möglicherweise von Interesse sein dürften, so etwa Sebastian Brants Narrenschiff. Die Annahme, Ironie sei im Mittelalter nicht existent gewesen, dürfte infolge der Textanalysen von Meier und Althoff auf jeden Fall unhaltbar geworden sein.

Zitierweise:
Benedikt Tremp: Rezension zu: Gerd Althoff/Christel Meier, Ironie im Mittelalter. Hermeneutik – Dichtung – Politik, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 673-674.

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