: Jerusalem in the Alps. The Sacro Monte of Varallo and the Sanctuaries of North-Western Italy. Turnhout 2019 : Brepols Publishers, ISBN 978-2-503-58057-9 XII, 310 S. € 85,00

: Sacri Monti. . Turin 2019 : Einaudi, ISBN 978-88-06-24040-0 XVI, 379 S. € 38,00

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jon Mathieu, Historisches Seminar, Universität Luzern

Sacri Monti sind besondere Wallfahrtsorte, die seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert im westlichen Teil der Erzdiözese Mailand entstanden und sich heute mehrheitlich in der Region Piemont befinden. Angelegt als Imitation der christlichen Stätten von Jerusalem, nahmen sie im 16. und 17. Jahrhundert im Zeichen der katholischen Reform und barocken Kultur einen grossen Aufschwung. Das Modell für diese Gruppe von Wallfahrtsorten ist der Sacro Monte von Varallo südlich des Monte Rosa. Fast zeitgleich sind vor kurzem zwei wichtige, reich bebilderte Bücher dazu erschienen. Die Untersuchung von Geoffrey Symcox (langjähriger Professor an der University of California at Los Angeles und bekannter Experte der piemontesischen Geschichte) legt das Gewicht auf den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kontext. Die Publikation von Guido Gentile (ehemaliger Archivdirektor im Piemont und grosser Kenner der Sacri Monti) befasst sich vor allem mit ideen- und kunstgeschichtlichen Aspekten. Beide Autoren können sich auf eine Forschungstradition stützen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte und sich im späten 20. Jahrhundert stark intensivierte. Seit 1980 integrierte die piemontesische Verwaltung die Sacri Monti in ihre öffentlichen Schutzgebiete. Später gründete man ein Dokumentationszentrum und 2003 wurden neun Sacri Monti von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt.

Geoffrey Symcox beginnt seine Studie mit der intellektuellen Odyssee des englischen Künstlers und homme de lettres Samuel Butler, der den Sacro Monte von Varallo in Kreisen der Kunst- und Italien-begeisterten anglophonen Welt bekannt machte. Seit seinem fast zufälligen ersten Besuch von 1871 kehrte er oft dorthin zurück und befreundete sich mit den lokalen Kennern von Geschichte und Kunst des Wallfahrtsorts. Butler war begeistert von den idyllisch gelegenen Kapellen, in denen religiöse Szenen mit lebensgrossen, farbigen Terracotta-Statuen und Fresken realistisch nachgestellt waren. Er publizierte dazu in den 1880er-Jahren zwei Bücher. Vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen mit Kunstakademien verteidigte er die mehrheitlich populäre Kunst der Monte Sacri gegen die auf Florenz, Rom und andere Kunststädte fixierten kulturellen Meinungsmacher. Das Werk der regionalen Künstler pries er als sozial verankert und weder durch akademischen Geschmack noch durch das Streben nach Gewinn und Anerkennung verdorben. Dass die Statuen aus Lehm hergestellt waren und nicht aus Marmor oder Bronze, machte für Butler keinen Unterschied. Wesentlich war ihr lebensechter, kraftvoller Charakter (S. 4–5).

Hergestellt wurden viele dieser Werke von Meistern aus der Valsesia. Das von der Poebene in die Hochalpen führende Tal mit dem Hauptort Varallo lebte hauptsächlich von zwei Erwerbszweigen. Auf der einen Seite von der Subsistenzlandwirtschaft, betrieben von Kleinbauern und ihren Frauen mit einigen Äckern und Wiesen und wenigen Stück Vieh, das sie im Sommer auf die Alpweiden trieben. Andererseits gab es seit dem Spätmittelalter eine umfangreiche saisonale Migration: Viele Männer verliessen im Frühjahr das Tal, um in den Städten Italiens, manchmal auch nördlich der Alpen, als Steinmetzen, Stukkatoren, Maler und Bauhandwerker zu arbeiten. Bei Winterbeginn kehrten sie in der Regel mit dem Erlös zu ihren Familien zurück. Diese spezifische Wirtschaftsform teilte die Valsesia mit benachbarten Tessiner und Comasker Gebieten. Sie bildete die Basis für den Bau, die Weiterentwicklung und den dauerhaften Unterhalt des Sacro Monte. Symcox zeichnet ein detailliertes Bild dieses mobilen Milieus von kleineren und grösseren Meistern. Bei der Besprechung ihrer bedeutenden Werke fügt er meistens einen kurzen Lebenslauf hinzu.

Der Wallfahrtsort von Varallo begann um 1490 bescheiden mit einer Kapelle, welche das Heilige Grab Christi (Santo Sepulcro) in der Grabeskirche von Jerusalem imitierte. Gründer war Bernardino Caimi, ein später selig gesprochener Franziskaner der Observanten Richtung. Wer sich eine Pilgerreise nach Palästina nicht leisten konnte oder wollte, dem stand seither dieser nahe gelegene Ort zur Erlangung spiritueller Verdienste zur Verfügung. Im Laufe der Zeit entstand daraus eine religiöse Landschaft mit Dutzenden von Kapellen, Hunderten von Statuen und Tausenden von gemalten Fresko-Figuren. Sie sollten die Besucherinnen und Besucher in ihrem Glauben und religiösen Wissen stärken. Caimi wollte den Ort zu einer Replik der heiligen Stätten von Jerusalem machen. Aus dieser „topomimetischen“ Idee wurde immer mehr eine narrative Sequenz, welche die Passionsgeschichte von Jesus nachstellte. Gleichzeitig gewann die Gottesmutter, der zunächst nur eine Nebenrolle zugedacht worden war, an Bedeutung (S. 162). Mit ihrem Realismus und ihrer aufwändigen Inszenierung erzielen einige Szenen eine grosse emotionale Wirkung. So enthält die Kapelle zum Kindermord in Betlehem mehr als neunzig Figuren, die in ein schreckenerregendes Massaker verwickelt sind (S. 135).

Symcox betont, dass Gewalt auch in der Valsesia keine Seltenheit war. Das Tal erlebte viele turbulente Momente. Schmuggler, Briganten und angeheuerte Parteigänger machten es immer wieder unsicher. Grössere Aufstände gegen die Obrigkeit und einzelne dominante Familien gab es 1518/19 und 1678. Als terra separata des lombardischen Herzogtums besass die Region eine relative Autonomie, war aber unter Einfluss des Senats von Mailand und dessen jeweiligen Herren, seit 1535 von Spanisch-Habsburg. Die geistliche Betreuung des Monte Sacro oblag den Observanten Franziskanern. Mit den weltlichen Verwaltern von Varallo lieferten sich diese Mönche ein Dauergefecht. Beteiligt am Ringen um Einfluss waren auch der Erzbischof von Mailand, der Bischof von Novara und der Papst. 1603 wurden die Observanten von ihrer traditionellen Wirkungsstätte ausgewiesen und ersetzt durch ihre Reformierten Ordensbrüder. 1765 hatten sich wieder so viele Konflikte angestaut, dass auch die Reformierten Observanten Varallo verlassen mussten. Der Sacro Monte wurde jetzt von sechs Weltpriestern betreut. Damals befand sich die Region schon mehr als fünfzig Jahre im Herrschaftsbereich des Herzogtums Piemont beziehungsweise Königreichs Sardinien. Die Monarchen der Casa di Savoia trieben die Zentralisierungspolitik in der Valsesia nur vorsichtig voran. Besonders nützlich für ihren politischen Einfluss war die Patronage, die sie über den berühmten Sacro Monte ausbreiten konnten.

Zum Schluss behandelt Symcox weitere Wallfahrtsorte des Piemont und der angrenzenden Lombardei, die im unterschiedlichen Mass Merkmale von Varallo aufweisen und in der Regel von dort beeinflusst waren. Sie befinden sich in Orta, Crea, Oropa, Ghiffa, Varese, Domodossola, Osuccio, Belmonte, Graglia und Arona. Laut dem Autor waren sie nicht das Ergebnis eines Masterplans, mit dem Carlo Borromeo, der gegenreformatorische Erzbischof von Mailand, ein Bollwerk gegen den Protestantismus im Norden errichten wollte, wie später behauptet wurde. Ihre Existenz verdankten sie meist lokalen Interessen, die sich in einem bestimmten allgemeinen Klima verwirklichen liessen. Zuerst war es die Idee, ein neues Jerusalem vor Ort zu gründen. Nachher sorgte der selbstbewusst auftretende nachtridentinische Katholizismus für eine günstige Atmosphäre. Erst im Nachhinein nahm man die Sacri Monti dann als einheitliches System wahr (S. 206–207).

Konventioneller als das Buch von Symcox ist dasjenige von Guido Gentile, das sich kurz und bündig Sacri Monti nennt und auf ein genügend eingeweihtes Publikum vertraut. Seine recht umständliche Sprache und das Fehlen einer Gesamtbibliografie und eines Registers dürften sich nachteilig auf die wissenschaftliche Rezeption auswirken. Dafür sind die Bilder sehr gut gewählt und reproduziert. Dazu kommt die profunde Quellenkenntnis des Autors bei den ideen- und kunstgeschichtlichen Aspekten, die ihn interessieren. Dies zeigt sich gerade im ersten Kapitel über die Gründungsgeschichte des Sacro Monte von Varallo. Bernardino Caimi hielt sich 1478 im Auftrag des Ordens als Interimswächter der heiligen Stätten in Jerusalem auf. Tief ergriffen von der leiblichen Erfahrung der biblischen Orte behandelte er das Thema später in Predigten. Die Zuhörer wussten und taten ihrerseits kund, dass er ein erstrangiger Kenner der „Mysterien von Jerusalem“ war, wie man die denkwürdigen Stationen des Lebens und Leidens von Jesu oft bezeichnete. Ähnliche Botschaften verkündeten andere Medien und Autoren: Meditationsliteratur, Predigtsammlungen, illustrierte religiöse Texte und Drucke, Fresken mit der Geschichte Christi im Innenraum der Kirchen. Verschiedene Elemente schufen so eine lebhafte Nachfrage nach der Nähe zum Heiligen. Bezeichnenderweise wurde der Wallfahrtsort in der Valsesia anfänglich als Santo Sepulcro di Varallo bezeichnet. Der Ausdruck Sacro Monte ist erst seit den 1560er-Jahren nachzuweisen (S. 28).

Andernorts hielt sich der sprachliche Bezug zur berühmten Kirche im fernen Palästina unverändert über die Zeit. So beim „Heiligen Grab“ von Görlitz im Osten Deutschlands, auf das der Autor als Parallelfall hinweist. Das Grab bildet den zentralen Teil eines Ensembles von topomimetischer religiöser Architektur, das auch als „Görlitzer Jerusalem“ bekannt ist und etwa in der gleichen Zeit wie Varallo entstand (S. 129–130). Gentile nennt in der Folge zahlreiche weitere Parallelfälle und „besondere Typologien“, für Europa und vereinzelt bis nach Lateinamerika. Erwähnt sei hier lediglich das „Jerusalem von San Vivaldo“ in der Nähe von Florenz, das sich historisch und konzeptuell am besten mit Varallo vergleichen lasse. Es sei vielleicht der erste unter seinem Einfluss entstandene Wallfahrtsort dieser Art; möglicherweise sei er aber auch selbständig entstanden. Im Unterschied zu Varallo gab es in dieser leicht gewellten Waldlandschaft zuerst einen Kult um einen lokalen Eremiten. In den Jahren nach 1500 kam der Jerusalem-Kult dazu, baulich konkretisiert im Santo Sepulcro und in Kapellen zu weiteren heiligen Orten der biblischen Stadt (S. 111–112).

Insgesamt kann man sagen, dass sich die beiden hier besprochenen Publikationen von Symcox und Gentile erstaunlich gut ergänzen. Beide befassen sich aber vor allem mit den historischen Umständen und Ergebnissen der Herstellung der Sacri Monti und weniger mit den – meist auch schwer fassbaren – Wahrnehmungen von Seiten der Wallfahrer und Wallfahrerinnen. Ganz ausgelassen wird die Benutzung und Interpretation der Sacri Monti in der jüngsten Geschichte und Gegenwart. Interessante Hinweise dazu gibt eine grossformatig bebilderte Publikation der Beiträge zum Kongress Religioni e Sacri Monti, der 2004 im Gefolge der Anerkennung als Weltkulturerbe durch die UNESCO stattfand.1 Thematisiert wurden hier heilige Berge rund um den Erdball. Vertreten waren: Judentum, katholisches und orthodoxes Christentum, Islam, Hinduismus, Jainismus, Buddhismus, chinesische und japanische Glaubensrichtungen. Die Idee zum interkulturellen Grossanlass hatte ein Indologie-Professor der Universität Turin, dem auch die abschliessende Synthese zugestanden wurde. Mit Verve betont er darin die Heiligkeit der Berge in allen Religionen (S. 375).

Anders äussert sich der Leiter des genannten Dokumentationszentrums als Vertreter der piemontesischen Geschichte und Kultur. Er stellt die Frage: „Sacri Monti o monti sacri“? Der Ausdruck Sacri Monti wird in der Gegend mehr als Eigenname aufgefasst. Wer wirklich heilige Berge meint, sagt monti sacri. Der Leiter unterstreicht die Verankerung der regionalen Wallfahrtorte in der katholischen Kultur und will keinen allgemeinen Bergmythos zelebrieren (S. 13). Tatsächlich wurde Varallo, wie oben gesehen, erst seit Mitte des 16. Jahrhunderts als Sacro Monte bezeichnet, anfänglich sprach man vom Santo Sepulcro. Im Zentrum standen die Jerusalem-Mimesis und die christliche Heilsgeschichte. Die Berge spielten ideell so gut wie keine Rolle. Auch physisch war ihr Beitrag unerheblich: Der Aussichtspunkt, auf dem sich die Kapellen von Varallo befinden, liegt auf einer Höhe von knapp 600 Metern, der Hauptgipfel der unweit gelegenen Monte Rosa-Gruppe steigt auf über 4.600 Meter. Das passt zum naturabgewandten Charakter des herkömmlichen, stark gemeinschaftszentrierten Christentums. Der Kongress von 2004 illustriert den Anpassungsdruck, dem diese vormoderne Tradition durch die Globalisierung des Austauschs und neue Umweltwahrnehmungen unterliegt. Wenn heilige Berge heute weltweit so attraktiv sind, wäre es da nicht möglich, solche in der eigenen Geschichte vorzuweisen?

Anmerkung:
1 Amilcare Barbero / Stefano Piano (Hrsg.), Religione e Sacri Monti. Atti del Convegno Internazionale Torino, Moncalvo, Casale Monferrato, 12–16 ottobre 2004, Ponzano Monferrato. Centro di Documentazione dei Sacri Monti 2006.

Redaktion
Veröffentlicht am
08.07.2019
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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