J. Lang u.a.: Kulturkampf

Cover
Titel
Kulturkampf. Die Schweiz des 19. Jahrhunderts im Spiegel von heute


Autor(en)
Lang, Josef; Pirmin, Meier
Erschienen
Baden 2016: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
148 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Heinz Nauer, Historisches Inst., Univ. Bern

Es wäre vermessen zu behaupten, der Kulturkampf stehe zurzeit im Fokus des wissenschaftlichen Interesses. Doch sind in den letzten rund zwei Jahrzehnten, seit der erweiterten Neuauflage von Peter Stadlers früherem Standardwerk Der Kulturkampf in der Schweiz (1996), einige wichtige Publikationen erschienen, die sich mit dem Thema befassen.1 Ausserhalb der Schweiz sind zudem mehrere Werke entstanden, die einen komparativen Ansatz verfolgen und die Kämpfe zwischen Katholizismus und säkularem Staat, die im 19. Jahrhundert in vielen Ländern stattfanden, in einen gesamteuropäischen Kontext einbetten.2

Die beiden Autoren des vorliegenden Bandes, der Zuger Politiker und Historiker Josef Lang und der Innerschweizer Intellektuelle Pirmin Meier, interessieren sich nur am Rande für internationale Vergleiche und transnationale Dimensionen des Kulturkampfs. Ihr Interesse gilt der Vielfalt der kulturkämpferischen Auseinandersetzungen, die sich innerhalb der Grenzen der Schweiz abspielten. Hier wird der Leser dafür mit ungemein facettenreichem Detailwissen bedient.

Das Buch, erschienen im Verlag Hier und Jetzt, wartet mit einer originellen Gestaltung auf: Es besteht aus zwei eigenständigen Essays. Je nach Vorliebe kann der Leser mit dem Essay von Josef Lang oder, über die kurze Buchseite gedreht, mit demjenigen von Pirmin Meier beginnen. In der Mitte des Buchs treffen sich die beiden Autoren, moderiert von Verleger Bruno Meier, zu einem Gespräch, wo sie die Brücke zur politischen Gegenwart sowie zu den eigenen, vom katholischen Milieu geprägten Biografien schlagen.

Inhaltlich auffallend ist zunächst die den Essays zugrunde liegende Periodisierung: Lang und Meier fassen den Kulturkampf sehr weit und behandeln die religiös-ideologischen Konflikte zwischen Konfessionen und Nation sowie Tradition und Fortschritt im halben Jahrhundert zwischen etwa 1830 und 1880. Der Fokus liegt dabei auf den beiden Jahrzehnten vor der Bundesstaatsgründung, dem «Kulturkampf avant la lettre», wie ihn Urs Altermatt genannt hat, und nicht, wie ansonsten häufiger der Fall, auf den Auseinandersetzungen in den frühen 1870er Jahren rund um die Bundesverfassung und das Erste Vatikanische Konzil.

Es empfiehlt sich, das Buch mit dem Essay von Josef Lang zu beginnen. Sein dichter und nahe an der einschlägigen Forschung verfasster Text richtet sich nach einer groben Chronologie und ist bemüht um die grossen historischen Linien. Lang schöpft in seinem 63 Seiten starken Essay aus einem tiefen eigenen Reservoir von früheren Publikationen, etwa zur Ultramontanisierung des Schweizer Klerus, zum katholischen Antisemitismus oder zur Judenemanzipation, der «Krone des Kulturkampfs», wie Lang sie nennt (S. 5). Sein Hauptanliegen besteht darin, den Schweizer Kulturkampf als eine im Kern innerkatholische Auseinandersetzung darzustellen, zwischen katholischen Radikalen und Liberalen auf der einen und katholischen Konservativen und Ultramontanen auf der anderen Seite. Interessant ist etwa seine Feststellung, dass der katholische Antijesuitismus stärker antiklerikal ausgerichtet war als der eher patriotisch gesinnte protestantische Antijesuitismus. Kulturkämpferische Konflikte findet Lang auch in der katholischen Innerschweiz, die Peter Stadler noch als «konfliktfreie Zonen» galten. Er stützt sich dabei vor allem auf das Beispiel Obwalden und die wechselhafte politische Karriere des ersten Innerschweizer Ständeratspräsidenten Niklaus Hermann (1818–1888).

Die katholischen Radikalen hätten, so Lang, entscheidend dazu beigetragen, dass aus der konfessionell tief gespaltenen Eidgenossenschaft 1848 ein liberaler und 1874 ein säkularer Bundesstaat wurde. Wer diese Akteure vergesse, so das Fazit des Essays, verpasse die Chance, ein entscheidendes Kapitel der modernen Schweizer Geschichte zu verstehen.

Pirmin Meier wählt einen essayistischeren Zugang zum Thema als Lang. Er führt den Leser auf 54 Seiten an verschiedene Schauplätze des Kulturkampfs und macht ihn mit einer Vielzahl von bekannten und weniger bekannten historischen Akteuren jener Zeit vertraut. Meier interessiert sich nicht nur für die institutionell- politische Dimension des Kulturkampfs; er kennt auch die verschiedensten Ausprägungen der katholischen Massenbewegung und der populären Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts bestens. Es ist eine Stärke seines Texts, dass er nicht nur Grosspolitiker wie Augustin Keller (1805–1883) oder Philipp Anton von Segesser (1817–1888) in seine Darstellung einbezieht, sondern auch Figuren der Volksreligiosität wie den Luzerner Bauern und religiösen Charismatiker Niklaus Wolf von Rippertschwand (1758–1832) oder Thomas Wandeler, genannt «Rigelithommen», einen Propheten des 17. Jahrhunderts, dessen volkstümliche, chiliastische Prophezeiungen in den frühen 1830er Jahren neu herausgegeben und rezipiert wurden.

Meiers Stilmittel ist die Anekdote. Wie wenig das Gedankengut der Französischen Revolution in der Innerschweiz Fuss fassen konnte, illustriert er beispielsweise anhand eines Schimpfworts: Der mündige, aufgeklärte Bürger nach französischem Vorbild, aber auch die Freischärler von 1844/45 sowie pauschal die Bundesräte von 1848 wurden in der Innerschweiz als «Sidiane» beschimpft. Es handelte sich dabei, so Meier, um eine Verballhornung des Worts «Citoyen» (S. 31). Ein wenig störend wirken hingegen die manchmal schnellen Assoziationen zur Gegenwart, die den Essay durchziehen; etwa wenn die Schleifung der Gnadenkapelle in der Klosterkirche Einsiedeln durch die Franzosen im Jahr 1798 mit einer Zerstörung der Kaaba in Mekka durch die Amerikaner verglichen wird (S. 32). Was auf einem öffentlichen Podium als Pointe funktionieren mag, tut es im geschriebenen Text nur bedingt.

Der Doppelessay von Lang und Meier macht die Vielschichtigkeit und regionale Heterogenität des Kulturkampfs textlich erfahrbar. Als Leser bleibt man in diesem wilden Ritt durch die Kulturkampflandschaft aber leider etwas orientierungslos. Vor allem bei Meier, der mitunter von «Kulturkampfgeschichten» spricht, lassen sich die Sprünge von einem lokalen Kulturkampf zum nächsten, von dieser Anekdote zu jener, als Leser nicht immer nachvollziehen. Es stellt sich auch die Frage, ob man für das Gebiet der Schweiz angesichts der zersplitterten Konfliktlage nicht konsequent von Kulturkämpfen im Plural denn von einem Kulturkampf im Singular sprechen sollte. Das gilt vor allem für die 1830er und 1840er Jahre. Aber auch in den ersten Jahrzehnten im Bundesstaat wurden Kulturkämpfe in ganz unterschiedlichen Schattierungen hauptsächlich in den Kantonen oder in einzelnen Bistümern ausgetragen. Man denke an die antiklerikale Politik im Tessin in den 1850er und in St. Gallen ab den frühen 1860er Jahren sowie an die Konflikte zwischen Bischof Eugène Lachat (1819–1886) und den Kantonen im Bistum Basel.

In diesem Zusammenhang lässt sich auch fragen, ob die manchmal starre Zuordnung der historischen Akteure zu politisch-ideologischen Lagern (radikal, liberal, konservativ, ultramontan etc.) letztlich einem tieferen Verständnis nicht zuwiderläuft. Wird man einer breit interessierten und über die Konfessionsgrenzen hinaus vernetzten Figur wie dem Einsiedler Benediktinerpater Gall Morel (1803–1872) wirklich gerecht, wenn man ihn als «ultramontan» etikettiert (Lang, S. 12)? Und wäre das, wenn schon, nicht ein ganz anderer Ultramontanismus als beispielsweise jener der Freiburger Richtung um den Priester Joseph Schorderet (1840–1893)?

1 Stellvertretend für weitere: Heidi Bossard-Borner, Im Spannungsfeld von Politik und Religion. Der Kanton Luzern 1831 bis 1875, Basel 2008; Urs Altermatt, Konfession, Nation und Rom. Metamorphosen im schweizerischen und europäischen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Frauenfeld 2009.
2 Stellvertretend für weitere: Christopher Clark, Wolfram Kaiser (Hg.), Culture Wars. Secular- Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003; Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010.

Zitierweise:
Heinz Nauer: Rezension zu: Patrick Kupper, Bernhard C. Schär (Hg.), Die Naturforschenden. Auf der Suche nach Wissen über die Schweiz und die Welt 1800–2015, Baden: Hier und Jetzt, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 484-488.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 484-488.

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