D. Steiner: Dem fremden kleinen Gast ein Plätzlein decken

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Titel
Dem fremden kleinen Gast ein Plätzlein decken. Julie Bikle und die Beherbergung deutscher Kinder in der Schweiz, 1919-1924


Autor(en)
Steiner, Dorothea
Erschienen
Zürich 2016: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
153 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Helena Kanyar Becker

Der Titel dieser Monografie ist ein Zitat aus der Korrespondenz Julie Bikles, die nach dem Ersten Weltkrieg ein Kinderhilfswerk initiierte und insgesamt 47'000 unterernährte deutsche Kinder zur Erholung in die Schweiz holte. Die Autorin des hier angezeigten Buches, Dorothea Steiner, arbeitete vor allem mit dem Nachlass der Winterthurerin Bikle, der sich in der dortigen Stadtbibliothek befindet. Die Protagonistin, die noch während der dreissiger Jahre des vorigen Jahrhunderts zu den populären Persönlichkeiten zählte, ist wie die meisten Kinderhelferinnen in Vergessenheit geraten. Dank der lokalen historischen Forschung wurde jedoch 2008 eine Strasse in Winterthur nach ihr benannt.

Die Aktivistin Julie Bikle (1871-1962) gründete gleich nach Kriegsbeginn 1914 mit einigen freiwilligen Helferinnen eine erfolgreiche Ermittlungsstelle für Vermisste. Sie unterstützte auch Gefangene mit Nahrungsmitteln und Kleidung. Um die Wartezeiten für die Briefe bei den Zensurstellen zu beschleunigen, übersetzte sie Gefangenenkorrespondenz in die jeweilige Landessprache. Julie Bikle engagierte sich ebenfalls beim Austausch von Schwerverwundeten, deren Transporte durch die Schweiz sie begleitete. Weil die Familie Bikle aus Süddeutschland stammte, interessierte sich die Tochter Julie für das Schicksal der deutschen Soldaten. Aus den Korrespondenzübersetzungen und dem eigenen Briefverkehr wurde sie über die katastrophalen Folgen der Hungersnot in Deutschland informiert, die nicht zuletzt durch die alliierte Seeblockade verursacht wurde. Sie appellierte in Flugblättern an die Schweizer Behörden und Bevölkerung, den leidenden Nachbarn zu helfen.

Julie Bikle ergriff erneut die Initiative, als sie im März 1919 die Inserate von Emil Abderhalden las. Der Schweizer Arzt und Professor für Physiologie in Halle suchte Unterstützung für hungernde und kranke deutsche Kinder. Julie Bikle begann Pflegeplätze bei Familien und in Heimen zu suchen und baute das Hilfswer Abderhalden Kinder auf. Ab Herbst 1919 reisten unterernährte Kinder zur Erholung in die Ostschweiz, zuerst für sechs, später für acht Wochen. Anfänglich wurde noch Geld für die tuberkulösen Kinder gesammelt, um sie in Sanatorien zur Kur schicken zu können. Weil die paar Wochen zu deren Genesung nicht ausreichten, konzentrierte sich Bikle dann auf die Ferienaufenthalte. Abderhalden wählte gefährdete 6- bis 14-jährige, später 5- bis 13-jährige aus ganz Deutschland aus. Die Ferienkinder durften unter keinen ansteckenden Krankheiten leiden und mussten «brav» sein. Die Pflegefamilien konnten ihre Vorstellungen über das Kindergeschlecht und Alter einbringen; das führte dazu, dass zwei Drittel der Pflegekinder Mädchen und nur ein Drittel Knaben waren. In den Kinderzügen reisten ein- oder zweimal monatlich 400 bis 800 Ferienkinder ein und aus.

Ab Februar 1920 wurde die erschöpfte Julie Bikle, die das Hilfswerk alleine organisierte, entlastet. Fortan wirkte sie als Sekretärin der Winterthurer Hilfsaktion, also des lokalen Ablegers, allerdings neben ihrer Brotarbeit im Familien- handel mit Furnierhölzern. Im Oktober 1920 wurde Julie Bikle zur Leiterin der Schweizer Fürsorge für deutschee Kinder gewählt, sodass sie ihre Kompetenzen in der ganzen Schweiz einbringen konnte. In all ihren Funktionen arbeitete sie eng mit Emil Abderhalden (1877-1950) zusammen, der für die deutsche Zentrale für die Kindunterbringung verantwortlich war.

Die politischen Unruhen, die schwierige Wirtschaftslage und die galoppierende Inflation in der Weimarer Republik spitzten sich nach der Besetzung des Ruhrgebiets durch Franzosen und Belgier Anfang 1923 zu. Dank einer Sympathiewelle für das gebeutelte Nachbarland konnten nun mehr hungernde deutsche Kinder in die Schweiz einreisen als zuvor. Um die Hilfsaktionen besser koordinieren zu können, führte man sie im Schweizer Hilfskomitee zusammen, mit der Zentrale in Bern, die direkt dem Bundesrat unterstellt war. Julie Bikle wurde als Leiterin des Büros Ostschweiz angestellt. Trotz der Bürokratisierung ihrer Tätigkeiten gelang es ihr, eine grossangelegte Sammlung durchzuführen, die Geld- und Sachspenden im Wert von etwa 60'000 Franken einbrachte (was heute ca. 1,2 Mio Franken entspräche). Vom März 1923 bis Ende 1924 erholten sich ungefähr 12'000 deutsche Kinder in der Schweiz.

Nach Abschluss der Kinderhilfsaktion litt Julie Bikle unter der Einsamkeit, gesundheitlichen Problemen und der zunehmenden finanziellen Not, die sich während der Wirtschaftskrise in den dreissiger Jahren verschärfte. Dreimal versuchte man, Julie Bikle für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen (1935-1937). Als eine politisch denkende Frau engagierte sie sich nun für die bedrohten Juden, die von Schweizer Familien oder in den Häusern der Menschlichkeit aufgenommen werden sollten. In ihrem Mietshaus wurde Ende 1940 eine Städtische Krankenstation für polnische Studenten eingerichtet. Im Juli 1944 appellierte sie an Adolf Hitler, mit allen Gewaltakten aufzuhören. Über ihre letzten Jahre ist nicht viel bekannt.

Die Autorin charakterisiert die Kinderhilfsaktionen als einen Teil der Frauengeschichte. Ein qualifiziertes Vorwort von Bernd Haunfelder, das die Schweizerische Hilfe für die deutschen Kinder nach den beiden Weltkriegen einem Vergleich unterzieht, ergänzt den Band.

Zitierweise:
Helena Kanyar Becker: Rezension zu: Dorothea Steiner, Dem fremden kleinen Gast ein Plätzlein decken. Julie Bikle und die Beherbergung deutscher Kinder in der Schweiz, 1919-1924, Zürich: Chronos Verlag, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 252-254.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 252-254.

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