F.-W. Kersting u.a. (Hrsg.): Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert. Geschichts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven


Herausgeber
Kersting, Franz-Werner; Zimmermann, Clemens
Erschienen
Paderborn 2015: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Martin Schaffner

Die Dichotomie Stadt–Land gehört zu den Grundpfeilern der Diskursarchitektur, welche die Sozialwissenschaften seit ihrer Entstehung in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufzubauen begannen. Mit Hilfe des Gegensatzpaares Stadt– Land verdichteten sie die Erfahrung der Urbanisierungsschübe, die sich seit 1850 in den Industrieregionen Europas abzuzeichnen begannen. Das Begriffspaar wurde zum unverzichtbaren Bezugsrahmen, auch der Sozialgeschichte, und behauptete seine Nützlichkeit als idealtypische Unterscheidung bis in die Gegenwart. Doch inzwischen ist die Gegenüberstellung von Stadt und Land zum epistemologischen Problemfall geworden, wie der von F. W. Kersting und C. Zimmermann herausgegebene Sammelband eindrücklich zeigt.
Alle dreizehn Beiträge des Bandes problematisieren in der einen oder anderen Weise die Dichotomie Stadt–Land. Sie sind aus einer 2012 durchgeführten Tagung hervorgegangen; die fünf Teile des Bandes entsprechen den Sektionen der Tagung (1. Forschungsgeschichte/-konzepte, 2. Politische Planungen und ihre Folgen, 3. Kulturelle Aufbrüche und soziale Bewegungen, 4. Visuelle Repräsentationen, 5. Internationale Perspektiven). Mit Ausnahme von drei Beispielen (Irland, Österreich, Schweiz) beziehen sich die Fallstudien auf Deutschland, womit der geographische Horizont eng gezogen ist.
Der Band, in dem unterschiedliche Positionen, Aspekte und Themen zur Geltung kommen, verschafft einen insgesamt anregenden und informativen Überblick über den Stand der Debatte. Drei Richtungen zeichnen sich ab: Die erste hält an der Dichotomie Stadt–Land fest, die zweite erweitert sie um ein drittes Konzept, und die dritte gibt sie auf.
In seinem prägnanten Rückblick unter dem Titel Geschichte der Stadt-LandBeziehungen im 20. Jahrhundert. Geschichtsund kulturwissenschaftliche Perspektiven beharrt F. W. Kersting auf der Gegenüberstellung von Stadt und Land, mahnt aber an, die Analyse des Stadt-Land-Schwerpunktes der «Darmstadt-Studie», die in den 1950er Jahren vom Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt durchgeführt wurde und der sein Interesse gilt, «noch zu vertiefen», und zwar wie diese mit «Blick auf die übergreifenden Prozesse» (S. 54). Auch M. Frese legt seiner Untersuchung über Land und Stadt im Fokus des Tourismus in Westfalen 1945–2010 die Stadt-Land-Beziehung zugrunde, betont aber, diese hätte im Tourismusbereich «eine neue Form» gewonnen (S. 221). Als Fazit seines materialreichen Textes (Zwischen ländlicher Tradition und städtischer Jugendkultur? Musikalische Praxis in Dörfern) konstatiert G. Mahlerwein, dass nach wie vor «gravierende Unterschiede zwischen städtischem und ländlichem Musikleben» bestünden. Von «Entgrenzung der Lebenswelten» könne «für den hier untersuchten Zeitraum» kaum die Rede sein (S. 135). K. Stütz präsentiert erste Ergebnisse ihres Forschungsprojektes über Stadt-Land-Visualisierungen im Amateurfilm. Deutschland und die Niederlande im Vergleich 1930–1980. Daraus ergebe sich, dass Filmund Fotoamateure Stadt und Land als «Sujets gleichermassen im Blick hatten», wobei «Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede in den Visualisierungen» erkennbar seien (S. 195). Auch B. Gammerl (Jenseits der Metronormalität? Westdeutsche Lesben und Schwule zwischen Land und Stadt) betont aufgrund seiner empirischen Einblicke, dass «die Stadt-Land-Differenz mitnichten bedeutungslos, sondern immer wieder mit neuen Bedeutungen aufgeladen» worden sei (S. 174).

Andere Autoren schlagen vor, das Stadt-Land-Modell konzeptionell zu erweitern. In seinem Beitrag Die «Suburbanisierung» als Konzept der Stadt-LandBeziehungen plädiert C. Zimmermann mit überzeugenden Argumenten dafür, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu entstandenen «Zwischenund Siedlungsformen» und ihre spezifischen Lebensformen mit dem Begriff «Suburbanisierung» zu konzeptualisieren (S. 67). In die gleiche Richtung weisen die von H. W. Schmuhl aufgrund von Interviews gemachten Beobachtungen, wonach sich in den 1970er Jahren aufgrund kommunaler Gebietsreformen im Gebiet von Bielefeld eine «hybride Sonderidentität der Menschen in einer Art ‹Zwischenstadt› ausbildete»; hier sei die Stadt-Land-Dichotomie «aufgehoben» (Mentalitäten und Identitäten in ländlichen Vororten nach der kommunalen Gebietsreform der 1970er Jahre. Das Beispiel Bielefeld, S. 108). In seiner wahrnehmungsgeschichtlichen Studie über Visualisierungen und Images urbaner und ruraler «Armut» im deutschdeutschen Vergleich stellt C. Lorke fest, dass Stadt und Land als soziale Konstruktion «entscheidende Prägekraft» besassen (S. 250), auch wenn es in der DDR «auf der Darstellungsebene zu einem klaren Verschwinden der ‹alten› Dichotomie Stadt–Land» gekommen sei (S. 252).
Eine dritte Gruppe von Beiträgen problematisiert die Dichotomie Stadt– Land mit dem Ziel, sie aufzulösen. ‹Raum› wird hier eine zentrale Kategorie. S. Beetz tritt in seinem wissenschaftsgeschichtlichen und methodenorientierten Artikel über die Erklärungskraft des Begriffs ‹Land› aus der Sicht der Soziologie für eine «räumlich orientierte Soziologie» ein, welche «die unterschiedlichen räumlichen Strukturen systematisch aufbereitet» (S. 83). In ihrer packenden Studie über Protestund Mobilisierungskulturen in ländlichen Gesellschaften am Beispiel der politischen Emanzipationsbewegungen von Frauen (1970 bis 1990) postuliert J. Paulus für «eine dezidiert mehrdimensionale Perspektive auf die Verschränkung von Räumen und sozialen Netzwerken» (S. 153). Damit komme das Innovationspotential der ‹Provinz› in den Fokus. Als wirksame Strategie, den Gegensatz Stadt–Land aufzulösen, erweist sich ferner ein diskursgeschichtlicher Ansatz, wie E. Langenthaler und U. Schwarz demonstrieren (Vom Gegenpol zum Massstab. Stadt-Land-Beziehungen in Agrarmediendiskurs und bäuerlicher Wirtschaftspraxis in Niederösterreich 1945–1985). Sie verbinden in ihrer methodisch raffinierte Analyse den Agrarmediendiskurs mit der bäuerlichen Wirtschaftspraxis, um nachzuweisen, wie sich in einem dreistufig gedachten «fordistischen Übergang» der «Gegensatz von Stadt und Land schrittweise auflöste» (S. 287), was nicht «‹totale› Urbanisierung» bedeute, sondern zu einer «urban-ruralen Hybridität» geführt habe (S. 288). ‹Raum› ist auch im methodisch und thematisch anregenden Beitrag von P. Moser der Leitbegriff (Unterschiedliche Entfaltungsmöglichkeiten. Stadt und Land in Irland und der Schweiz 1800–1989). P. Moser versteht Stadt und Land als «kommunikative und materielle Räume» (S. 319) und wählt einen komparativen Ansatz, um die Prozesse zu beschreiben, in denen sich die «ländliche Gesellschaft, die über ein eigenständiges Entwicklungspotential verfügte» (S. 291) und ihre Beziehung zur Stadt wandelten.
Auch wenn die Dichotomie Stadt–Land da und dort noch immer als «wechselseitige Ressource der kulturellen Selbstdefinierung» genutzt wird (S. 42): Die Beiträge dieses Bandes demonstrieren, dass die Historiographie auf die Krücken des Stadt-Land-Gegensatzes verzichten kann, wenn sie die Sozialgeschichte Europas im 20. Jahrhundert schreibt. Diese Einsicht ist nicht neu, aber die hier vorgelegten Arbeiten sind dennoch wertvoll, und dies nicht zuletzt durch ihre empirischen Analysen. Denn diese sind es, welche die konzeptionelle Gegenüberstellung von Stadt und Land überzeugend destabilisieren und damit der Forschung weitere Perspektiven eröffnen. Dass dies gelingt, liegt nicht zuletzt daran, dass in ihrem relationalen Ansatz das ‹Land› (seine Eigenständigkeit) stärker gewichtet wird als die ‹Stadt›.

Zitierweise:
Martin Schaffner: Rezension zu: Franz-Werner Kersting, Clemens Zimmermann (Hg.), Stadt­Land­Beziehungen im 20. Jahrhundert. Geschichts­ und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Paderborn, München, Wien, Zürich: Ferdinand Schöningh, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 135-137.