C. Manasse: Der Schriftsteller Karl Lieblich

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Titel
Auf der Suche nach einer neuen jüdischen Identität. Der Schriftsteller Karl Lieblich (1895–1984) und seine Vision einer interterritorialen Nation


Autor(en)
Manasse, Christoph
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anika Reichwald, Archiv und Sammlungen, Jüdisches Museum Hohenems

Christoph Manasses Studie Auf den Spuren nach einer neuen jüdischen Identität wirft einen detaillierten Blick auf den Schriftsteller Karl Lieblich und seine Vorstellungen sowohl «einer interterritorialen Nation», wie es der Untertitel der Dissertationsschrift verrät, wie auch einer neuen jüdischen Identität. Methodisch nähert sich Manasse aus einer mikrohistorischen Perspektive der Frage an, inwiefern Karl Lieblich die Debatten seiner Zeit aufgenommen, verarbeitet und in Form neuer Ideen und konkreter Konzepte weitergedacht hat. Manasses Ansatz stellt die kulturpolitischen Vorstellungen und Werke Karl Lieblichs in einen komplexeren zeitgenössischen Diskurszusammenhang, indem er bisher noch unbekanntes Material in seine Analyse miteinfliessen lässt und die Bedeutung politischer Theorien und Bewegungen aus der Zeit der Weimarer Republik in den Fokus nimmt. Manasse erforscht entlang der Vorträge und Veröffentlichungen Lieblichs – beginnend in den späten 1920er Jahren – dessen Welt- und Gesellschaftsbild sowie dessen Sicht auf die Rolle des Judentums in der modernen Gesellschaft. Wichtige Referenzen für die Auffassungen Lieblichs sieht Christoph Manasse dabei in den immer wieder aufgegriffenen Themenkomplexen um Chassidismus und Antisemitismus, wie auch in Lieblichs Reflexionen über die Werke und Gedanken bedeutender zeitgenössischer jüdischer Intellektueller, beispielsweise Simon Dubnow oder Martin Buber.

Karl Lieblich, der neben seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt in Stuttgart auch schriftstellerisch tätig war, machte zwischen 1928 und 1932 mit Vorträgen auf sich aufmerksam, die später zusammengefasst in den Sammelbänden Wir jungen Juden. Drei Untersuchungen zur jüdischen Frage (1931) und Was geschieht mit den Juden? Öffentliche Frage an Adolf Hitler (1932) erschienen. Für Karl Lieblich, das tritt bereits bei seinem ersten Vortrag Judenhass als Judenschicksal. Über das Problem jüdischer Vergangenheit im November 1928 hervor, wurde die Frage nach einer Lösung des Antisemitismusproblems zum Ausgangspunkt seiner kulturpolitischen Überlegungen. Laut Manasse verstand Lieblich den Antisemitismus als eine von Gott auferlegte Prüfung, die es zu bestehen galt und er verstand ihn als vielleicht wichtigstes Merkmal des Judentums: Judenhass als identitätsstiftendes Moment und essentielle Überlebensrundlage des Judentums. Nicht traditionelle Werte, sondern die Bedrohung durch den Antisemitismus sowie der stetige «Konkurrenz- und Verteidigungskampf» (S. 29) gegen andere Völker stärkten den Zusammenhalt des jüdischen Volkes in der Diaspora. Diese Beobachtungen formten Lieblichs politisches Hauptanliegen einer fundamentalen Umwandlung des Judentums, das nicht mehr negativ durch eine äussere Bedrohung konstituiert sein sollte. Eine Idee, die nicht nur die Gründung des Bundes für Neues Judentum zur Folge hatte, sondern letztlich, wohl als Reaktion auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933, in einem Gesetzesentwurf zur jüdischen Kulturautonomie gipfelte. Anders als die Zionisten sah Karl Lieblich diese Neuordnung jedoch nicht an einen neuen geographischen Ort für das Judentum gebunden, vielmehr strebte er eine «innere Emanzipation»1 an – eine Befreiung von Starrheit durch alte, festgefahrene Traditionen innerhalb der jüdischen Religion. Für ihn wurde der Chassidismus zu einem zweiten identitätsstiftenden Moment, das Lieblich vor allem literarisch aufgriff. Das chassidische Lebensethos, so stellt es Christoph Manasse anschaulich dar, zeichnete dabei jedoch keineswegs den Weg in eine Erneuerung des Judentums auf, sondern wurde zur Grundlage einer Vorstellung für eine Gesellschaft, wie sie Karl Lieblich dann durch seine Vereinigung Bund für Neues Judentum auf praktische Weise umzusetzen versuchte.

Neben Lieblich befassten sich auch andere zeitgenössische jüdische Intellektuelle mit den Bewegungen, die sich durch das moderne nationalstaatliche Denken und den erstarkenden Antisemitismus entwickelten und denen Lieblich nicht unkritisch gegenüberstand: Assimilation, Zionismus oder ein jüdischer Nationalismus. Es entstand, so skizziert es diese Forschungsarbeit, ein reger Austausch, sei es als Reaktion auf Lieblichs Vorträge und spätere Veröffentlichungen oder in Form persönlicher Treffen oder Korrespondenzen. Dass er dabei für seine Ideen und Konzepte nicht nur gelobt wurde, verdeutlicht Christoph Manasse, indem er etwa Karl Lieblichs Briefwechsel mit Martin Buber und anderen detailliert bespricht. Buber, wie auch Dubnow, fand zwar Komplimente für Lieblichs Denkansätze, übte aber auch harsche Kritik an einigen seiner Ideen – gerade auch, um seine eigenen Theorien und Überlegungen, die sich bei Lieblich immer wieder erkennen lassen, davon abzugrenzen. Christoph Manasse hebt die Bedeutung Bubers für Lieblichs Konzepte zwar deutlich hervor, daneben unterstreicht er aber auch seine These zur Komplexität und diskursiven Vernetzung von Lieblichs politischen Konzepten mit fundierten Auseinandersetzungen zu verschiedenen zeitgenössischen Entwicklungen und Denkströmungen. So gibt er Einblick in den sich gesellschaftlich weiter verstärkenden Antisemitismus während des Ersten Weltkriegs oder arbeitet die Entwicklung kulturpolitischer Konzepte zur Frage eines inter- oder intraterritorialen Judenstaates und deren Umsetzung und Entwicklung in den baltischen Staaten zwischen 1919 und 1940 auf.

Manasse schafft es, die Person Karl Lieblich sowie dessen politisches Denken in einen wissenschaftlichen Fokus zu rücken; gleichzeitig greift er auch zeitgenössische Tendenzen präzise auf und stellt sie in Zusammenhang mit den von Lieblich entworfenen Gesellschaftsideen. Das Produkt ist eine Forschungsarbeit, die mehr ist als die Präsentation der intellektuellen Arbeiten eines Individuums; sie verhandelt auf hochkomplexe Weise zeitgenössische jüdische wie nichtjüdische Denkmuster im Gesellschafts- und Weltgefüge im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

1 Arbeitsheft Nr. 3 ab 1927, Deutsches Literaturarchiv, Marbach, A: Lieblich, 89.98.10., S. 77.

Zitierweise:
Anika Reichwald: Rezension zu: Christoph Manasse, Auf der Suche nach einer neuen jüdischen Identität. Der Schriftsteller Karl Lieblich (1895–1984) und seine Vision einer interterritorialen Nation, Köln: Böhlau Verlag, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 129-131.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 129-131.

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