Cover
Titel
Die Alpen. Kultur, Raum, Geschichte


Autor(en)
Mathieu, Jon
Erschienen
Stuttgart 2015: Reclam
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Romed Aschwanden, Departement Geschichte, Universität Basel

Eine überblickende kulturhistorische Studie über die Alpen stand bisher aus. Es ist das grosse Verdienst des Autors, die Universalgeschichte dieses Raumes, den er rückgreifend auf das Gebiet der Alpenkonvention politisch definiert (S. 25), zu skizzieren. Nebst eigener Forschung bildet ein breites Spektrum an Literatur die Grundlage für Mathieus weitgehend komparatistisch angelegte Arbeit, welche die Geschichte der Alpen als Lebensraum darstellt. Im Reclam-Verlag erschienen, richtet sich das Buch an eine Leserschaft ausserhalb der Fachdisziplin.

Das Buch ist diachron aufgebaut, was teilweise durch thematisch begründete Vor- und Rückgriffe gebrochen wird. Auf zwei Überblickskapitel über die Erforschung und Geschichtsschreibung der Alpen folgen sieben Kapitel von der Frühgeschichte bis in die Gegenwart sowie ein abschliessendes Kapitel Bilanz und Ausblick. Jedes dieser kurzen Hauptkapitel wird durch Untertitel gegliedert, die prosaisch (Die heilige Theorie der Erde), deskriptiv (Konfessionelle Spaltung) oder eine These enthaltend sind (Ungleiche Urbanisierung). Mathieu arbeitet sich an Fernand Braudels Feststellung, die Alpen seien «une montagne exceptionnelle»,1 ab. Dieses Leitkonzept kommt nicht überall gleich zum Tragen: Etwa im Kapitel Religiöse Kultur, frühe Wissenschaft hätte sich die Frage nach dem Exzeptionellen stärker vertiefen und an mentalitätsgeschichtliche Debatten anknüpfen lassen.2

Mathieus Einführung in die historische Alpenforschung setzt sich kritisch mit den Traditionen der historischen und ethnologischen Forschung auseinander. Streifzüge durch die Etymologie der Berg- und Ortsnamen, der Architektur-, Religions- und Sprachgeschichte verdeutlichen die Vielschichtigkeit des angestrebten Projekts. Auch die «problematische» Lage der Alpen als Grenzregion thematisiert Mathieu anhand eines Überblicks über die Nationalstaatenbildung. Dabei rückt er die Sonderstellung der Schweiz als nach dem Ersten Weltkrieg allein übriggebliebenen, transalpinen Staat ins Zentrum. Die Stellung der Schweiz wird auf den Lokalismus des Landes zurückgeführt, «der sich dem Zentralismus der Moderne und den dadurch hervorgerufenen Separationstendenzen widersetzte» (S. 40). Dem gegenüber stellt er die steigende Bedeutung des nach dem Zweiten Weltkrieg aufkommenden Regionalismus im Alpenraum. Die Epochen sind oftmals anekdotisch dargestellt: So dient die Abhandlung über den Fund der Gletschermumie Ötzi der Einführung in die Epoche der Stein- und Bronzezeit, welche anhand des aktuellen Forschungsstandes behandelt wird. Der Autor thematisiert dabei auch die Schwierigkeiten einer solchen Rekonstruktion. Die Darstellung der römischen Eroberung des Alpenraums erfolgt anhand des Strassenbaus und der Siedlungsräume, während die Christianisierung anhand der Bildung von kirchlicher und weltlicher Herrschaft geschildert wird. An dieser Stelle verneint Mathieu Braudels These von der Besonderheit des alpinen Raums für die Zeit vor dem Hochmittelalter.

Mit Konzentration auf die wirtschaftliche Entwicklung beschreibt der Autor den Zeitraum zwischen Hochmittelalter und 19. Jahrhundert, wobei er insbesondere von den urbanen Gebieten im Alpenraum ausgeht. Einprägsam schildert er die Entwicklung der Pastoralisierung des Alpenraums unter der Berücksichtigung regionaler Spezifika. Ausführliche Abschnitte sind stets der Wahrnehmungsgeschichte der Alpen gewidmet, so etwa dort, wo von Tourismus und Nationenbildung die Rede ist. Auch anhand der Umweltbewegungen, deren Geschichte er bis ins 21. Jahrhundert verfolgt, macht Mathieu die kulturelle Konstruktion der Alpen deutlich. Für den Zeitraum vom Hochmittelalter bis ins 21. Jahrhundert sieht Mathieu Braudels These durchaus bestätigt: Die Alpen seien «ganz aussergewöhnliche Berge».

Das vorliegende Buch ist ein gelungener Überblick über die aktuelle Forschung zu den Alpen, es reiht sich in eine kulturgeschichtliche Tradition ein. Mathieu befasst sich mit «immaterieller und materieller» Kultur (S. 32–38), wobei die theoretische Annahme, dass die Alpen in ihrer geographischen wie kulturellen Dimension stets durch Zeitgenossen konstruiert wurden, als zentral erscheint. Dass Braudel derart prominent genannt wird, ist kein Zufall: In Anlehnung an die Annales-Schule verwendet der Autor einen sehr weiten Kulturbegriff, der strukturelle, wirtschaftliche und politische Dimensionen mit einbezieht. Trotz der skeptischen Äusserungen zu den Möglichkeiten, eine histoire totale zu schreiben (S. 14), ist die gewählte Darstellungsart doch als Hommage an eine «Universalgeschichte» dieser Tradition zu verstehen. Der Ansatz führt oft zu einer knappen und leicht simplifizierenden Darstellung, was der «nicht fachlich vorgebildete[n] Leserschaft» (S. 13) zugute kommt. Allerdings dürfte auch dieser Leserschaft das unpraktische Anmerkungsregister missfallen, das zwar zu jedem Unterkapitel Literatur auflistet, aber durch das gänzliche Vermeiden von Fuss- und Endnoten kaum das Zuordnen von Zitaten ermöglicht. Das Buch ist ein gutes Konzentrat der neusten Forschung, geht über diese Funktion aber nur selten hinaus, so etwa dort, wo regionale Vergleiche Erkenntnis über strukturelle Eigenheiten ermöglichen (S. 163–187). Es bietet, wie die Einleitung anmerkt, einen raschen Einstieg für Studierende, eignet sich aber aufgrund des Anmerkungsapparats nicht als Handbuch. Aktuelle Themen wie Infrastruktur, Mobilität, Ökologie und Raum haben ihren Platz in Mathieus Darstellung. Leider greift er jüngste Debatten der Europäischen Geschichte3 nur am Rande auf: Hier läge besonderes Forschungspotential in der Geschichte der Alpen. Eindrücklich beweist das Buch mit seiner dezidiert transnationalen Perspektive, wie gewinnbringend diese Sicht ist und wie viel Potential die Alpen nach wie vor für historische Studien bieten.

1 Fernand Braudel, La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, Paris 1949 (zitiert nach Mathieu, S. 43).
2 Zum Beispiel kritisch zur Katholizismusforschung von Urs Altermatt, vgl. ders., Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1989; oder zum Konzept des homo alpinus von Anselm Zurfluh, vgl. ders., Uri, Modell einer traditionellen Welt? Eine ethno-geschichtliche Studie über die Urner Mentalität, 17.–20. Jahrhundert, Zürich 1994.
3 Hans-Åke Persson und Bo Stråth (Hg.), Reflecions on Europe. Defining a Political Order in Time and Space, Brüssel 2007 (Multiple Europes 37); Patricia Clavin, Time, Manner, Place. Writing Modern European History in Global, Transnational and International Contexts, in: European History Quarterly 40/4 (2010), S. 624–640

Zitierweise:
Romed Aschwanden: Rezension zu: Jon Mathieu: Die Alpen. Kultur, Raum, Geschichte, Stuttgart: Reclam, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 484-486.