Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 26

Cover
Titel
Diplomatische Dokumente der Schweiz. Documents Diplomatiques Suisses. Documenti Diplomatici Svizzeri. Band 26 (1.1.1973–31.12.1975)


Herausgeber
Zala, Sacha; u.a.
Reihe
Diplomatische Dokumente der Schweiz 26
Erschienen
Zürich 2018: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
584 S.
Preis
CHF 78.00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Gees Berner Fachhochschule, Departement Wirtschaft thomas.gees@bfh.ch

Wie bei jedem Band der «Diplomatischen Dokumente der Schweiz» (DDS) steht auch hier der Zeitraum nicht in einem historischen Begründungszusammenhang. Für den Band 26 hat die unter der Leitung von Sacha Zala arbeitende Forschungsgruppe knapp 200 Dokumente aus der Zeit von Januar 1973 bis Dezember 1975 ausgewählt und annotiert. Es handelt sich um eine Auswahl von über 2000 Dokumenten, welche bereits auf der Datenbank Dodis.ch zugänglich sind. Was also macht die Lektüre eines «echten» Buches mit editierten Quellen zu den internationalen Beziehungen aus Schweizer Perspektive aus?
Die strikt chronologische Anordnung hat ihren ganz speziellen Reiz. Man erhält rasch einen Überblick über die wichtigsten Themen, welche damals nicht nur in der Schweiz verhandelt wurden. Vielmehr sind es die unverkennbaren Interpretationen schweizerischer Akteure zum Weltgeschehen: die West-Ost-Entspannung in Europa, der Zusammenbruch der Währungsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg (Bretton-Woods-System), der Nahostkonflikt (Jom-Kippur-Krieg), das zunehmend weltweit kritisierte Apartheid-Regime Südafrikas, die Öl- und Wirtschaftskrise oder die Entdeckung des chinesischen Marktes. Greift man zu diesem Band 26 aus der Zweiten Serie der «Diplomatischen Dokumente» (1945–1989, Kalter Krieg) sind die Erwartungen erst einmal nicht sehr hoch, weil in der Schweiz kein herausragendes Ereignis in die Zeit von 1973–1975 fällt. Allerdings ist man dann doch überrascht, wie diese drei Jahre eine Art Sattelzeit zwischen der «goldenen» Nachkriegsphase und der noch nicht erkennbaren neuen Ordnung der 1980er-Jahre darstellen und sich in ihnen Entwicklungen vollziehen, welche die ganze Welt betreffen und die auch wirtschaftliche Folgen für eine ökonomische Mittelmacht wie die Schweiz haben werden.

In einer Phase, wo alles über den Brexit spricht, ist es beispielsweise zunächst einmal interessant nachzulesen, wie der Direktor der Handelsabteilung im Volkswirtschaftsdepartement, Paul Jolles, am noch jungen Weltwirtschaftsforum in Davos die Folgen des Beitritts Grossbritanniens (zusammen mit Irland und Dänemark) zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft thematisiert (1. Februar 1973). Nicht ohne Stolz verweist Jolles auf die «Entwicklungsklausel» im neuen Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der EWG, welches 1973 – gleichzeitig mit der ersten Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften – in Kraft getreten ist. «Gerade deshalb aber wird von manchen die Frage gestellt, welche Möglichkeiten der Konsultation und des Zusammenwirkens für einen Kleinstaat als Freihandelspartner mit der EWG bestehen und wie am besten mit der Entwicklung Schritt gehalten werden kann, ohne an die Grenzen der Neutralitätspolitik zu stossen, aber auch ohne in ein Abhängigkeitsverhältnis zu geraten.» (Dokument Nr. 4, 1. Februar 1973, S. 14–15) Aussenwirtschaftspolitiker wie Paul Jolles ahnten damals wohl noch nicht, dass dieses Abkommen nur 20 Jahre später zum Rettungsanker für den neuen «Bilateralismus» nach dem EWR-Debakel werden sollte.
Aufschlussreich ist auch das Dokument Nr. 7 unter dem wenig spektakulären Titel «Währungssituation». Festgestellt wird die Aufwertung des Schweizer Frankens, am stärksten gegenüber dem US-Dollar. Die Spitzen der Wirtschaftsverbände berieten – wie damals üblich – zusammen mit den Spitzenbeamten der Verwaltung, welche Massnahme für die Schweizer Wirtschaft zu treffen seien. Bemerkenswert ist die Aussage des damaligen BIGA-Direktors (heute Seco) Albert Grübel: «Wir kämpfen seit Jahren mit dem Fremdarbeiterproblem mittels einer unbefriedigenden Oberflächentherapie, nur eine Beruhigung der Konjunktur könnte eine richtige Lösung ergeben.» Diese Aussage, so beiläufig sie in einem Dokument erscheint, spricht Bände. Seit bald zehn Jahren versuchte der Bundesrat nämlich auf Druck des Parlamentes, der Gewerkschaften und später der aufstrebenden Rechtskonservativen um James Schwarzenbach, die Zuwanderung zu drosseln, allerdings erfolglos. Was der BIGA-Direktor in diesem Dokument meinte, sollte später Realität werden: In der Wirtschaftskrise ab 1974/75 brach die Konjunktur ein, betroffen davon waren viele Arbeitsmigranten aus Südeuropa, welche keine permanente Aufenthaltsbewilligung hatten und deshalb nicht sozialversichert waren. Später sollte man dieses Phänomen «Export der Arbeitslosigkeit» nennen. Dass verwaltungsintern die Massnahmen gegen die Zuwanderung als Oberflächentherapie bezeichnet wird, ist in dieser Deutlichkeit einmalig: Schon deshalb verdient das Dokument die Aufnahme in den Band. Die Fussnoten des Forschungsteams führen zu weiteren Dokumenten und zum Kontext, was den eigentlichen Mehrwert der Buchpublikation gegenüber den in der Datenbank virtuell verfügbaren Quellen ausmacht. Was das Forschungsteam, das sonst eine hervorragende Editionsarbeit geleistet hat, leider vergessen hat, ist die Indexierung dieses Dokuments im Anhang unter die «Migrations- und Flüchtlingspolitik» (S. 523).

Das «Thematische Verzeichnis» (Table Méthodique) ist sehr hilfreich und bietet einen hervorragenden Zugang zu neuen Fragestellungen. Es umfasst neun Oberthemen der schweizerischen Aussenpolitik: Schwerpunkte bilden die «diplomatischen Beziehungen» generell, die Themen Finanzplatz, Doppelbesteuerung, Kriegsmaterial, die Ölkrise, die Beziehungen zur UNO, die Europapolitik, die Humanitäre Hilfe (erste Aktion des Katastrophenhilfskorps im Tschad) und die KSZE-Konferenzen in Genf und Stockholm. Nicht gerade glücklich gewählt erscheint das Thema «Migrations- und Flüchtlingspolitik», gefolgt von den «Innenpolitischen Aspekten der Aussenpolitik». Hier wäre eine Überarbeitung nach Politikfeldern in alphabetischer Reihenfolge angezeigt. Die innenpolitischen Aspekte – dazu gehörten eigentlich auch die Wirtschaftsfragen mit der Doppelbesteuerungsproblematik – werden wie eine Residualkategorie behandelt. Doch gerade hier liegt der Reiz der Quellenedition: Nicht nur der/die klassische Diplomatiehistoriker/in wird in den DDS fündig, auch Wirtschafts- und Sozialhistoriker finden aufschlussreiche Quellen, sofern sie den Bezug zu «Aussen-» und «Innenpolitik» zu erkennen vermögen. Die unter «Innenpolitische Aspekte» subsumierten Unterthemen wirken etwas zufällig (Wissenschaft, Kultur, Öffentlichkeit, Eidgenössische Behörden). Man vermisst hier beispielsweise das Thema Umwelt (die erste grosse UNO-Umweltkonferenz fand 1972 in Stockholm statt), aber auch die Thematik «Frauen», die doch immerhin einen «Megatrend» in der Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellt. So erwähnen die Herausgeber die erste UN-Weltfrauenkonferenz in Mexiko-City 1975 nicht, auf der ein «Welt-Aktionsplan» verabschiedet und die «UN-Dekade der Frau» (1976–1985) vereinbart wurde.
Der Band 26 der DDS ist ein weiterer sorgfältig editierter Band von exemplarischen Quellen, welche mit Blick auf ihre Diversität und Vernetzungsmöglichkeiten mit dem erweiterten Quellenkorpus in der Dodis-Datenbank ausgewählt wurden. Dass die herausgebende Kommission – erstmals unter der Leitung von Madeleine Herren – mit ihm erst in der Mitte der 1970er-Jahre angekommen ist, sollte allerdings zu denken geben. Das selbstgesteckte Ziel der Kommission ist schliesslich, möglichst zeitnah hinter der Dokumenten-Sperrfrist von 30 Jahren zu edieren. Davon ist man weit entfernt: Inzwischen sind die Quellen bis 1987 zugänglich! Für die dritte Serie der DDS (ab 1990) wäre dem von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften getragenen Projekts zu wünschen, etwas «vorwärts machen» zu können. Schliesslich wartet die zeithistorische Forschung gespannt auf die Quellen für die Jahre 1989–1992, als die Schweizer Diplomatie mit dem «grössten Fehler seit dem Zweiten Weltkrieg» fertig werden musste (um mit Franz Blankart zu sprechen), den der Bundesrat mit dem EU-Beitrittsgesuch während der EWR-Abstimmung begangen hatte. Diese Phase war einschneidend für die jüngste Schweizer Geschichte, weil sie vieles verändert hat. Es ist zu wünschen, dass die Forschungsstelle DDS in den nächsten fünf Jahren die relevanten Quellen für die Jahre vor und kurz nach 1990 der Forschung und der interessierten Öffentlichkeit zeitnah zur Verfügung stellen wird.

Zitierweise:
Thomas Gees: Rezension zu: Diplomatische Dokumente der Schweiz. Documents Diplomatiques Suisses. Documenti Diplomatici Svizzeri, Band 26 (1.1.1973–31.12.1975), hrsg. von Sacha Zala et al., Zürich: Chronos 2018.

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