Cover
Titel
Morgarten. Die Inszenierung eines Ortes


Autor(en)
Hess, Silvia
Erschienen
Baden 2018: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 49,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis, Europainstitut, Universität Basel

Wie entsteht ein historischer Ort? Die vorliegende Studie widmet sich dieser allgemeinen Frage am konkreten Beispiel der im Kanton Zug liegenden und mit einem Denkmal ausgestatteten „Stätte“, wo 1315 die Schlacht von Morgarten stattgefunden haben soll. Dabei entwickelt die Monografie Einsichten generalisierbarer Art und verarbeitet auch allgemeine Literatur zum Thema (von Hans Magnus Enzensberger bis Timothy Mitchell). Ein besonderes Interesse gilt dem Anteil des Tourismus an der Herausbildung dieses Ortes, ausgehend von den einzelnen und einsamen Reisen gegen Ende des 18. Jahrhunderts bis zum anschwellenden Breitentourismus späterer Zeiten. Die Luzerner Dissertation ist aus der Schule von Valentin Groebner hervorgegangen, der bereits 2013 zum touristischen Geschichtegebrauch einen Aufsatz publiziert und jüngst dem Thema eine stark beachtete selbständige Publikation gewidmet hat.1

Die einleuchtende Hauptthese der vorliegenden Arbeit betont, dass nicht der Ort zu seinem Gedenken führt, sondern ein spezifisches Gedenkbedürfnis den Ort schafft. Dafür ist „Morgarten“ besonders geeignet, weil das zugeschriebene Ereignis im Dunstkreis der Sagenwelt liegt und trotz der Erwähnungen in den alten Chroniken keine eindeutige Überlieferung hat. In Kombination mit elementarem geschichtlichem Vorwissen konnte der Ort mit seiner pittoresken Landschaft – dem See und dem Blick in die Alpen – eine inspirierende Qualität bekommen, die von grösserer Bedeutung war als das darin angesiedelte historische Ereignis. Die Autorin kommt so auch zum Befund, dass in der weiteren Entwicklung zuerst ein Denkmalort geschaffen wurde und erst sekundär daraus ein Ereignisort entstand (S. 122). In der gleichen Logik wurde das Denkmal hundert Jahre nach seiner Errichtung, also im Jahr 2008, selber zum historischen Gedenkgegenstand (S. 242). Eindrücklich sind sodann die Belege der Retrohistorisierung von nachträglich hergestellten Zeugnissen, insbesondere mit dem 1940 erfundenen Schlachtbrief, von dem 1965 scheinbar geschichtsbewusst, aber ohne tatsächliche Kenntnis der Realgeschichte gesagt wurde, dass er Teil einer „alten Tradition“ sei (S. 188).

In der Beleuchtung und Ausleuchtung dieser Problematik liegt die verdienstvolle Leistung. Betont werden die paradoxen Umstände, dass mit anti-touristischen Parolen, welche die Abgelegenheit und Einsamkeit des Orts betonen, in Morgarten der Tourismus geradezu angelockt wird und dass mit dem dort möglichen Blick in die Ferne gefühlte Nähe der imaginierten Vergangenheit aufkommt (S. 254). Dies wird vor allem mit Zeugnissen aus dem deutschsprachigen Raum belegt, was die Frage aufwirft, ob die französische und französisch-schweizerische Sensibilität im frühen 19. Jahrhundert da anders funktionierte.2 1915 und in den Jahren nach 1918 war Morgarten für die Romands jedoch ebenfalls ein wichtiger Bezugspunkt (S. 163, 183ff.).

Die Studie ermöglicht und belegt die Einsicht, dass die Herstellung des Morgarten-Orts nicht nur das Resultat eines nationalen und militärischen, sondern eben auch eines touristischen Geschichtsgebrauchs ist (S. 137). Ob des mit gesamtschweizerischer Bedeutung ausgestatteten Kults sollte jedoch das sehr lokale und regionale Bedürfnis nicht übersehen werden, sich mit dem Griff nach dem Nationalen höhere Bedeutung und im Wettbewerb des gesamtschweizerischen Patriotismus einen Platz und damit – über das touristische Interesse hinaus – für sich selber eine identitätsstiftende Bedeutung zu schaffen. Morgarten wird mit Betonung der landschaftlichen Analogie als „zweites Rütli“ bezeichnet und nach der ersten Station des Rütli-Schwurs als Ort der Bewährung („Bluttaufe“) im Narrativ der Nationalgeschichte zur zweiten Station gedeutet.

Die Untersuchung verfolgt die Herausbildung dieses Geschichtsortes im Laufe von rund 200 Jahren. Unerklärt bleiben die Ursachen für die offensichtliche Zunahme des Interesses für Morgarten gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Diente die Betonung des Gesamtschweizerischen der Überwindung der konfessionellen Gegensätze, die immerhin noch 1712 bei Villmergen zu einer grossen innereidgenössischen Schlacht geführt haben? Die Studie verzichtet auf eine weitergehende sozio-politische Kontextualisierung und gibt darum auch keine Aufschlüsse zur scheinbar paradoxen Verbindung von Aufklärung und Proto-Nationalismus. Auch in späteren Phasen bleibt der gesellschaftspolitische Rahmen wenig sichtbar, obwohl er das Bedürfnis nach Selbsteinordnung in eine Perspektive siegreicher Abwehrkämpfe mindestens mitbestimmt hat. Warum propagierte eine Morgartengesellschaft 1844 die Errichtung eines Denkmals (S. 91)? Wahrscheinlich entstand der Vorschlag unter dem Eindruck der im gleichen Jahr in Basel durchgeführten Grossfeier zur Schlacht von St. Jakob an der Birs von 1444.3 Erhellend hätte wohl auch ein konsequenter komparatistischen Blick auf die Entwicklung des da und dort am Rande erwähnten Gedenkens für die Schlacht von Sempach (etwa S. 73, 244) sein können, die offenbar ein weit weniger attraktives touristisches Reiseziel war und 2011 eine bemerkenswerte Umgestaltung von einem militärisches Treffen in ein ziviles Bürgerfrühstück erfuhr.4 Auch wäre es wünschbar gewesen, dass insbesondere zur Geschichte des Schlachtgedenkens noch der eine oder andere Anschlusspunkt, wenn nicht weiterverfolgt, so doch deutlicher markiert worden wäre: Etwa beim Hinweis, dass bereits 1781 ein Morgarten-Spiel publiziert und zehn Jahre später in Solothurn aufgeführt wurde (S. 61). Warum 1781? In Erinnerung an das Stanser Verkommnis von 1481? Und warum Solothurn? Als Spektakel in der Ambassadorenstadt?

Nicht im Fokus der Betrachtung liegen die historiografischen Vorläufer, die wahrscheinlich mit der Chronik eines Franziskanermönchs aus den 1340er-Jahren einsetzten (also 25 Jahre nach der geschilderten Begebenheit) und im 16. Jahrhundert vom humanistischen Geschichtsschreiber Aegidius Tschudi weitergetragen wurden.5 Tschudis Darstellung kann, weil erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts gedruckt und dann sicher wenig gelesen, kaum als „populär“ (S. 64) bezeichnet werden. Erst Johannes von Müller dürfte 1780 die Morgarten-Story halbwegs populär gemacht haben.

Die Bedeutung von und der Umgang mit Morgarten in den Zeiten vor dem ausgehenden 18. Jahrhundert werden punktuell berührt, liegen aber nicht im Zentrum der Untersuchung. So erfährt man, dass 1521, also wenige Jahre nach der bekannten Schlacht von Marignano von 1515, im Kanton Schwyz ein Morgartengedenken beschlossen wurde, dies um „die Verluste und die Niederlage von Marignano zu verarbeiten“ (S. 75). Gab es in den späteren Zeiten des 19. und 20. Jahrhunderts anderes, was mit dem Morgartenkult ebenfalls zu verarbeiten gewesen wäre? Die Vorbereitungen der 650-Jahr-Feierlichkeiten von 1965 sind, wie überzeugend dargelegt, gewiss als steigernden Weiterführung einer bestehenden Gedenktradition zu verstehen, sie könnten aber auch die Funktion gehabt haben, ein Gegengewicht zur skandalös liederlichen Beschaffung des Kampfflugzeugs Mirage zu bilden. Die Kultivierung archaischer Vergangenheit dürfte vor allem auch eine Antwort auf Entfremdungserfahrung im Zuge der beschleunigten Modernisierung gewesen sein, wie sie beispielsweise Hermann Lübbe immer wieder thematisiert hat. Sie fand im Falle Morgartens in der drohenden Überbauung des vermuteten Schlachtgeländes durch „fremde“ Bauherren (einer DDR-Gesellschaft) ihren fassbaren Ausdruck. Eindrücklich ist auch die Schilderung, wie mit modernsten Kommunikationsmitteln (dem 1965 noch jungen Fernsehen) Geschichtsgedenken unter die Leute gebracht wurde (S. 215ff). Das erscheint als Neuauflage der mit Radio in alle „Gaue“ der Schweiz übertragenen Rütli-Feier von 1941, die so als gesamteidgenössische Landsgemeinde gefeiert werden konnte. 2015 werden im Rahmen des 700-Jahr-Gedenkens am historisch gewordenen Ort Touchscreens aufgestellt, die eine „Berührung“ der Vergangenheit erlauben. Bezeichnenderweise wird dabei das traditionelle Geschichtsbild nicht ganz aufgegeben, sondern bleibt als eine Variante neben anderen „Blicken“ in die Vergangenheit erhalten (S. 259ff).

Es ist mehr als eine Schlussfloskel, die einen versöhnlichen Ausgleich für die angebrachten Bemängelungen herstellen möchte, wenn abschliessend nochmals anerkennend betont wird, dass diese innovative Studie für die Auseinandersetzung mit dem Geschichtsgebrauch eine substantielle Bereicherung ist.

Anmerkungen:
1 Valentin Groebner, Touristischer Geschichtsgebrauch. Über einige Merkmale neuer Vergangenheiten im 20. und 21. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 296 (2013), S. 408–428; ders., Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen, Frankfurt am Main 2018.
2 Ansätze von Antworten dazu könnte man in den Arbeiten von François Walter finden, etwa: Les Suisses et l’environnement. Une histoire du rapport à la nature du XVIII siècle à nos jours, Genf 1990 ; ders., Les figures paysagères de la Nation. Territoire et paysage en Europe (16e–20e siècle), Paris 2004.
3 Philipp Sarasin, „Ihr Tod war unser Leben“. Die St. Jakobsfeiern im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Werner Geiser (Hrsg.), Ereignis – Mythos – Deutung, 1444–1994. St. Jakob an der Birs, Basel 1994, S. 83–125, hier S. 88.
4 Georg Kreis, Was mit „Sempach“ anfangen? Historisches Gedenken als Gestaltungs- und Erinnerungsaufgabe, in: Der Geschichtsfreund 165 (2012), S. 113–133.
5 Zu den chronikalischen Schilderungen vgl. vor allem den Aufsatz von Rudolf Gamper im Jahrbuch „Der Geschichtsfreund“ des Historischen Vereins Zentralschweiz, dessen 168. Band von 2015 aus Anlass des 700-Jahr-Gedenkens ganz den „neuen Sichten auf Morgarten“ gewidmet ist.

Redaktion
Veröffentlicht am
07.11.2018
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
Weitere Informationen