F. Rauh: Bewegte Bilder für eine entwickelte Welt

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Titel
Bewegte Bilder für eine entwickelte Welt. Die Dokumentarfilme von René Gardi, Ulrich Schweizer und Peter von Gunten in der Schweizer Entwicklungsdebatte, 1959–1986


Autor(en)
Rauh, Felix
Erschienen
Zürich 2018: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
270 S., 50 Farbabb.
Preis
CHF 48,00, € 43,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christine Bischoff, Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Mit seinen ethnografischen Filmen sowie Radio- und Fernsehsendungen prägte der Dokumentarfilmer René Gardi (1909–2000) maßgeblich das schweizerische Afrikabild von den 1950er- bis in die frühen 1980er-Jahre. In seinen Reiseberichten inszenierte und exotisierte er den Kontinent als „urweltliche Landschaft“ und die Menschen als „Könige ohne Untertanen“, wie es im Vorspann seines größten Filmerfolgs „Mandara“ (1959) über die gleichnamige Berglandschaft im heutigen Kamerun heißt.1 Obwohl sich Gardi als unpolitischer Mensch darstellte, war sein Blick auf Afrika von kolonialistischem Denken geprägt: So hob er in seinen Darstellungen immer wieder die positiven Folgen der Kolonisierung hervor.

Bisher haben nur wenige Studien systematisch danach gefragt, inwiefern auch die Schweiz in das Globalprojekt „Kolonialismus“ verstrickt war. Dies ist insofern erstaunlich, als auch hier in wirkmächtigen Reise- und Dokumentardarstellungen wie denjenigen Gardis koloniale Bilder produziert wurden, die bis heute im europäischen Bewusstsein in Form von Vorstellungen von „weißer Herrschaft“ und Exotisierungen fortwirken.2 Der Historiker Felix Rauh kann sich mit seiner Dissertationsschrift nun in die Reihe erfreulicher Ausnahmen einfügen.

Rauh untersucht das Schaffen der drei Berner Filmemacher Gardi, Schweizer und von Gunten im Kontext schweizerischer Entwicklungshilfeorganisationen, die seit Anfang der 1960er-Jahre verstärkt Dokumentarfilme einsetzten, um die Bevölkerung mit „authentischen“ Bildern und Tönen aus Afrika, Asien und Lateinamerika von der Notwendigkeit und Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit zu überzeugen. Vorgeführt in Kirchgemeindehäusern, an Kinomatineen, im Schulunterricht oder in Fernsehsendungen beeinflussten diese Filme lange Zeit den Blick des Publikums auf „das Fremde“ in der südlichen Hemisphäre. In seiner Studie analysiert Rauh aber nicht nur die filmische Inszenierung von Entwicklungsunterschieden zwischen dem globalen Norden und Süden, sondern zeichnet vor allem die Produktions- und Nutzungskontexte dieser Filme nach. Hierfür standen ihm unter anderem Filmquellen aus verschiedenen öffentlichen und privaten Archiven und Sendungen aus dem Archiv des Schweizer Fernsehens zur Verfügung, aber auch schriftliche Dokumente aus den persönlichen Archiven der drei Filmemacher.

Anhand ausgewählter Beispiele zeigt Rauh auf, wie sich der schweizerische Blick auf die Menschen des Südens veränderte und wie sich Film und Entwicklungsdebatte gegenseitig beeinflussten. Die paternalistische Haltung, wie sie insbesondere in den Visualisierungsstrategien René Gardis in den 1960er-Jahren zum Ausdruck kam, wird mit Beginn der 1970er-Jahre zunehmend von kritisch-engagierten Filmschaffenden infrage gestellt, die Entwicklungsdifferenzen als Folge des globalen wirtschaftlichen und politischen Machtgefälles darstellen. Rauh arbeitet heraus, wie schließlich ab den 1980er-Jahren Entwicklungsakteure vermehrt auf Filme aus dem Süden selbst setzten und gleichzeitig im deutschsprachigen Raum Dokumentationen entstanden, die nicht in erster Linie urteilende, sondern neugierig-fragende Blicke auf den Süden richteten.

Gegliedert hat Rauh seine Studie in drei Hauptteile, die sich in einer „Zoombewegung“ (S. 23) den Filmen und ihren Inhalten annähern. Im ersten Hauptteil erörtert er die Themen, Produktionsbedingungen und Verbreitungskanäle der Dokumentarfilme, im zweiten stellt er die Filmschaffenden Gardi, Schweizer und von Gunten als Wegbereiter des entwicklungsbezogenen Gebrauchsfilms vor und im dritten arbeitet er die Motive und Strategien heraus, mit denen „Entwicklungshemmnissen“ in den Filmen inszeniert werden. Diesen Kapiteln ist eine Einleitung vorangestellt, in der Rauh eine kulturgeschichtliche Einordnung des Dokumentarfilms als historische Quelle vornimmt. Es geht ihm dabei nicht nur um den Einfluss von Dokumentarfilmen auf die Schweizer Entwicklungsdebatte während rund eines Vierteljahrhunderts (1959–1986). Vielmehr interessiert ihn auch die Rolle des Fernsehens und der Verleihorganisationen bei der Vermittlung der Filme sowie die Versuche der Entwicklungshilfeorganisationen, als Auftraggeber Themen und Produktionsbedingungen zu beeinflussen.

Im ersten Hauptteil seiner Untersuchung geht Rauh auf die Rahmenbedingungen für die Produktion und den Gebrauch von entwicklungsbezogenen Dokumentarfilmen in der deutschsprachigen Schweiz ein. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er den wichtigsten Verbreitungskanälen von Dokumentarfilmen, den Parallelverleihern, zum Beispiel das Schweizer Schul- und Volkskino (SSVK), und dem Fernsehen. Zeitlich konzentriert er sich auf drei seiner Ansicht nach entscheidende Phasen in der Beziehung zwischen Entwicklungsakteuren und Filmemachern. In der ersten dieser Phasen – Mitte der 1960er-Jahre – befand sich die Entwicklungshilfe in einer Krise: Verschiedene staatliche, kirchliche und private Akteure hofften, mithilfe der dokumentarischen Auftragsfilme die Spendenbereitschaft in der Schweiz zu erhöhen. Entsprechend sollte in den Filmen gezeigt werden, wo und wie schweizerische Helferinnen und Helfer tätig waren und – nach dem Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ – den angeblich „Unterentwickelten“ den Fortschritt brachten (vgl. S. 29). Eine zweite wichtige Phase verortet Rauh zu Beginn der 1970er-Jahre, als die Entwicklungsdebatte durch Fragen des globalen Machtungleichgewichts eine neue Richtung erhielt und gleichzeitig junge Filmschaffende sich kritisch mit der Verantwortung des Westens für die Entwicklungsdefizite des Südens auseinandersetzten. In den 1980er-Jahren macht Rauh die dritte entscheidende Phase aus, die insofern zugleich eine Zäsur bedeutete, weil sich die enge Liaison zwischen Entwicklungsakteuren und Filmschaffenden auflöste: Erstere interessierten sich zunehmend für die wachsende Filmszene im Süden selbst und setzten häufiger Filme direkt aus Afrika, Asien und Lateinamerika für ihre Zwecke ein, während sich wichtige Vertreter des engagierten Dokumentarfilms von ihrer „anwaltschaftlichen Perspektive“ (S. 57) verabschiedeten.

Den zweiten, umfangreichsten Teil seiner Arbeit widmet Rauh den Filmschaffenden Gardi, Schweizer und von Gunten – für ihn die wichtigsten und erfolgreichsten Protagonisten der filmischen Auseinandersetzung mit Entwicklungsthemen im Untersuchungszeitraum. Die drei Filmemacher setzten sich engagiert für die Verbreitung ihrer Filme im Entwicklungskontext – aber auch darüber hinaus – ein und bürgten persönlich für die „Authentizität“ ihrer Filminhalte. Gleichzeitig repräsentierten sie je unterschiedliche Zugänge zum Thema: Aufgrund seiner Popularität, die er insbesondere dem Fernsehen verdankte, spielte René Gardi in der Entwicklungsdebatte der 1960er-Jahre eine wichtige Rolle. In seinen Filmen über afrikanische Kulturen beklagte er regelmäßig deren Niedergang und übte Kritik an falschen Tendenzen in der Entwicklungshilfe. Ulrich Schweizer, der sein Filmhandwerk teilweise bei Gardi gelernt hatte, stellte Rauh zufolge hingegen sein Engagement ganz in den Dienst der Kooperation mit den Evangelischen Kirchen und Missionen in der deutschsprachigen Schweiz. Er verfolgte die Idee, neue inhaltliche und formale Zugangsweisen für Informationsfilme auszuprobieren, um zu zeigen, dass Missionen ein modernes Entwicklungsverständnis in die Welt tragen könnten. Im Zentrum der dritten Fallstudie steht von Gunten als eigentlicher Begründer des entwicklungspolitischen Films, der mit seinen Filmen mehr Breitenwirkung als andere deutschsprachige Filmemacher erzielte. Mit Filmen wie „Bananera Libertad“ (1971)3 propagierte er ein neues Entwicklungsnarrativ. Als Autorenfilmer sei es ihm gelungen, entwicklungsrelevante Themen wie den Einsatz von Befreiungstheologen für bedrängte Bauern in Lateinamerika und die negativen Auswirkungen von großen Infrastrukturprojekten filmisch umzusetzen, so Rauh.

Im dritten Teil seiner Studie analysiert Rauh die Filminhalte und zeigt auf, mit welchen filmischen Mitteln Gardi, Schweizer und von Gunten Wohlstandsunterschiede im Süden anschaulich machten und wie diese jeweils als Entwicklungsprobleme definiert wurden. Wiederkehrende filmische Motive kulturell bedingter „Entwicklungshemmnisse“ sind Rauh zufolge die Anfälligkeit für Konsum- und Vergnügungsangebote, die Arbeitsweisen und die Abhängigkeit von religiösen Praktiken (Aberglaube); die wichtigsten Motive externer Entwicklungshindernisse seien die Darstellung vermeintlich unfähiger, unwilliger neuer Eliten, skrupellose Ausbeuter und die zerstörerische Kraft der Technik. Rauh kommt zu dem Schluss, dass die Entwicklungsakteure in den Filmen ein ideales Mittel sahen, um in anschaulicher Weise die Notwendigkeit von Entwicklungshilfe in Afrika, Asien und Lateinamerika dem heimischen Publikum vor Augen zu führen. Die meisten Filme orientierten sich dabei an dem dominierenden modernisierungstheoretischen Credo, das den Transfer von Technik und Wissen vom Norden in den Süden zur primären Entwicklungsbedingung erklärte. Gegen Ende der 1960er-Jahre begannen dann vor allem christliche Organisationen Filme einzusetzen, die die Entwicklungsdifferenzen zwischen Norden und Süden als Problem globaler Verteilungsgerechtigkeit analysierten und zugleich Zweifel daran äußerten, dass das westliche Entwicklungsmodell einfach auf den Süden übertragbar sei.

Die separate Darstellung der drei zentralen Aspekte der Untersuchung führt zu einigen Wiederholungen und Redundanzen. Insgesamt handelt es sich jedoch um eine sehr gelungene und erkenntnisreiche Studie, die nicht nur die Entstehungs-, Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Filme detailliert untersucht, sondern auch aufschlussreiche Einblicke in die Interessen und Motive institutioneller Auftraggeber (wie etwa die christlichen Kirchen und deren Mediendienste) gibt. Auf Relevanz und Aktualität des Forschungsfeldes verweisen insbesondere die von Rauh im Schlusskapitel herausgearbeitete „Motivkontinuität bis in die Gegenwart“ (S. 234) und seine Vergleiche mit der heutigen audiovisuellen Berichterstattung über den Süden. Gerade in diesen Vergleichen weist Rauhs Analyse besondere Tiefe und Schärfe auf, wenn er etwa zeigt, wie präsent die filmischen Motive, die sich in rund einem Vierteljahrhundert Schweizer Entwicklungszusammenarbeit ausgebildet haben, auch in der heutigen audiovisuellen Berichterstattung über den Süden noch sind: Sie finden sich nicht mehr nur in den Filmen der Entwicklungsakteure, sondern auch in Spartensendern wie Geo-TV oder dem National Geographic Channel, die etwa den Topos der auf „Zeitinseln“ lebenden Kulturen aufgreifen. Die Beharrungskraft und das allzu „anschlussfähige Imaginationsfundament“ (S. 239) der Motive zeige sich aber auch in sogenannten globalisierungskritischen Produktionen, wenn diese mit eindeutigen Zuweisungen von „richtig“ und „falsch“ argumentierten. Mit seiner Studie leistet Rauh einen wichtigen und lesenswerten Beitrag sowohl zur Geschichte der Schweizer Entwicklungsarbeit als auch zur Dokumentarfilmgeschichte.

Anmerkungen:
1 René Gardi (Regie und Produktion): Mandara. Dokumentarfilm, Schweiz 1959, 85 Min.
2 Zu nennen ist hier der Sammelband „Postkoloniale Schweiz“, der u.a. auch einen Beitrag zu Gardis Kamerunreise enthält; vgl. Patricia Purtschert / Barbara Lüthi / Francesca Falk (Hrsg.), Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien, Bielefeld 2012.
3 Peter von Gunten (Regie und Produktion): Bananera Libertad. Dokumentarfilm, Schweiz 1971, 55 Min.

Redaktion
Veröffentlicht am
18.04.2019
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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