Cover
Titel
Krypta. Unterdrückte Traditionen in der Kirchengeschichte


Autor(en)
Wolf, Hubert
Erschienen
München 2015: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
231 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Siegfried Weichlein, Departement Historische Wissenschaften - Zeitgeschichte, Universität Freiburg (Schweiz)

Dies ist ein erfrischendes und gut geschriebenes Buch für ein breites Publikum, das die funkelnde Vielfalt der historischen Arrangements von Kirche und Gesellschaft in Erinnerung ruft. Der Münsteraner Kirchengeschichtler Hubert Wolf interveniert mit diesem Buch in die gegenwärtige Debatte um die Reform der katholischen Kirche an Haupt und Gliedern. Sein Ziel ist es, wie bereits im Titel angedeutet, alternative Traditionen in der Kirchengeschichte aufzuzeigen, die im späteren Gang der Kirchengeschichte und insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert überlagert, verdrängt oder verschüttet wurden. Alle Geschichten aus der Vergangenheit beschäftigen sich mit Problemzonen der Gegenwart: dem Amt des Bischofs und seiner Wahl, der Wahl von Frauen auch zu Bischöfinnen, der Organisation der Bistumsverwaltungen, dem Verhältnis von Papst und Kon¬zil, der Rolle der Kardinäle, dem Verhältnis von Amt und Weihe, der Rolle der Laien, dem Umgang mit Pluralität und mit den Armen. An jedem dieser Punkte zeigt er gewissermaßen in der Krypta des gegenwärtigen Kirchengebäudes alternative Lösungswege, Sichtweisen und Regeln aus der Antike, dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Alle Beispiele verstärken den Eindruck einer großen kirchengeschichtlichen Zäsur in zahlreichen Punkten während des 19. Jahrhunderts.

Umgekehrt macht dieses Buch auch deutlich, wie wenig eindeutig historische Alternativen waren. Das wird an der Erinnerung an den weltfremden Asketen Martin von Tours besonders deutlich: Den Karolingern war er ein Kriegsheiliger, weil er vor seiner Bekehrung römischer Soldat gewesen war. Später faszinierte die Geschichte von der Mantelteilung, die ihn zum Heiligen der Caritas und Nächstenliebe machte. Gourmets (und Gourmands) schätzen den ausgewiesenen Asketen Martin als Patron der Martinsgans, die Narren wegen der fünften Jahreszeit, die er am 11. November einläutet, und die Kinder für den Laternenumzug (127).

Kirchengeschichte wird so nicht nur gegenwartsbezogen lebendig, sondern auch zu einer Quelle der Inspiration für die Reform der katholischen Kirche. Vieles davon ist bekannt, insbesondere die vielen Variationen in den Fragen der Auswahl des Leitungs¬personals. Das gilt vor allem für das Kapitel zur Bischofswahl, das in einem 14 seitigen Galopp durch die Kirchengeschichte einen knappen Überblick über die Variationsbreite der Möglichkeiten von Bischofswahlen gibt. Kirchengeschichtliches Grundwissen findet sich auch im Kapitel zu den Kardinälen, die seit dem 11. Jahrhundert aufstiegen. Allgemeinverständlich und ohne Forschungskontroversen (bis auf die Debatten um Haec sancta 1415 und Pastor aeternus 1870, Seiten 89−92) führt dieses Buch durch Grunddaten der Kirchengeschichte von zwei Jahrtausenden.

Um freilich den Reformstau in der katholischen Kirche anzugehen, dürfte es nicht reichen, auf vergangene Alternativen zu verweisen. Die Gegner des Reformprojektes können sich schließlich aus dem reichen Fundus der Geschichte ebenfalls bedienen und entlegene Beispiele anführen. Sie argumentieren im Kern systematisch und ordnen die Vielfalt der Geschichte so wie es ihnen passt. Wolf selbst ist dies klar, wenn er im Reformbegriff zwei Bedeutungen und Legitimationen unterscheidet, die sich in den historischen Quellen zu «reformatio» finden: die «reformatio in pristinum», also die «Reform im Sinne eines Zurück, einer Rück-Formung zum guten und bewährten Alten durch Beseitigung aller inzwischen eingetretenen Missbildungen und falschen Neuerungen». Davon zu unterscheiden ist die «reformatio in melius», für die kein historischer Idealzustand angegeben werden kann. «Hier geht es um vorbehaltlose Neuerungen und Neuschöpfungen. Die Norm für die Reformen orientiert sich an aktuellen Bedürfnissen und Einsichten.» (20). Historisch wird man das Verhältnis von Vergangenheit und gegenwärtiger Reform genau so beschreiben müssen. Dennoch verwundert, dass ein Theologe hierzu nicht mehr zu sagen hat, als dass die Norm für die Reform vergangene Beispiele oder aktuelle Bedürfnisse und Einsichten sind. Theologisch liegt doch das Argument nahe, dass nichts so sehr den Wandel erfordert wie die Treue zu den Ursprüngen. Systematische Argumente sind daher gefordert, um den Reformstau anzugehen. Kirche hat nicht nur Geschichte hinter sich, sie ist selbst durch und durch geschichtlich. Ansonsten verbleibt die Reformdebatte in einem Zwei-Stockwerke-Denken gefangen: hier die geschichtliche Vielfalt, dort das letztlich ungeschichtliche Prinzip Kirche, wie es im triumphalistischen Kirchenlied Joseph Mohrs zum Ausdruck kommt «Ein Haus voll Glorie schauet, ...» Um den Reformstau zu überwinden, erscheint daher ein Rückgang in die Quellen des Christentums wichtiger als entlegenen exempla zu folgen. Verkürzt: Krypta sollte besser heißen: ad fontes.

Diese Dimension scheint auf in dem Kapitel zum Verhältnis von Weihe und Amt, Vollmacht und religiöser Weihe, Nachfolge und Autorität. Hier geht es um den systematischen Grund für die Vollmacht in der Kirche. Wolf arbeitet anhand eines Quellenberichtes über Martin von Tours dessen asketische Nachfolge lange vor seiner Weihe zum Bischof heraus. Die Nachfolge zuerst der Märtyrer, dann der Asketen und später der Mönche wurde nicht nur in Irland als Sachgrund für legitime Vollmacht und Autorität angesehen. Nicht die kirchliche Weihe, sondern die Nachfolge und «göttliche Kraft» durch Askese ordnete den Raum der Kirche an vielen Orten. Damit gelangt Wolf zu zwei Typen von Kirchen: der priesterlichen Amtskirche und der monastischen Nachfolgekirche. Realistisch möchte Wolf hier keine Alternative zwischen sich ausschließenden Modellen ausmachen. Vielmehr sieht er beide Stränge als systematisch begründet an. Sein Reformmodell ist eines des Gleichgewichts. Es stünde «leitenden Klerikern selbst gut an, ihr Leben so auszurichten, dass Weihe- und Nachfolgevollmacht ins Gleichgewicht kommen.» Nicht Uniformität hält er für das Modell der Zukunft, sondern legitime Vielfalt: «Neben die priesterliche Amtskirche träte wieder die monastische Nachfolgekirche.» (128).

Zitierweise:
Siegfried Weichlein: Rezension zu: Hubert Wolf, Krypta. Unterdrückte Traditionen in der Kirchengeschichte, München, C.H. Beck, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 489-490.

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