H. Rusterholz: Paul Vogt, Karl Barth und das Schweizerische Evangelische

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Titel
, «... als ob unseres Nachbarn Haus nicht in Flammen stünde». Paul Vogt, Karl Barth und das Schweizerische Evangelische Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland 1937–1947


Autor(en)
Rusterholz, Heinrich
Erschienen
Zürich 2015: Theologischer Verlag Zürich
Anzahl Seiten
712 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Benjamin Ziemann

Mit diesem wichtigen und substanziellen Werk wendet sich Heinrich Rusterholz einem Kapitel aus den gemeinhin als «Kirchenkampf» bezeichneten Auseinandersetzungen innerhalb der evangelischen Kirche Deutschlands und mit dem NS-Staat zu, das sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz wohl kaum bekannt ist. Der Pfarrer Paul Vogt und der reformierte Theologe Karl Barth gründeten 1937 das Schweizerische Evangelische Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland (SEHBKD), um für Angehörige der Bekennenden Kirche (BK) materielle Hilfe zu leisten und zugleich den Kampf der BK theologisch in seiner Bedeutung für die schweizerischen Protestanten zu reflektieren. Seine Studie beruht auf einer umfangreichen und entsagungsvollen Sichtung aller vorhandenen Primärquellen, zuvörderst dem in der ETH Zürich verwahrten Nachlass von Vogt und im Karl Barth Archiv in Basel, sowie einer breiten Heranziehung der Sekundärliteratur zum Kirchenkampf in Deutschland, den kirchlichen Verhältnissen in der Schweiz und den internationalen kirchlichen Zusammenhängen. Rusterholz zitiert wiederholt ausführlich aus wichtigen Briefen und den Protokollen von Sitzungen und erhöht damit den Nutzwert der Darstellung. Zwei Anhänge – der erste mit Kurzbiographien von Unterstützern des Hilfswerkes und einigen von ihm unterstützten Personen, der zweite mit einer Chronik reformierter Reaktionen in der Schweiz auf den Kirchenkampf – runden den Band ab.

Paul Vogt (1900–1984) hatte seit 1929 als Pfarrer in Walzenhausen amtiert. Er war dort direkt mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise konfrontiert, die sich in der endemischen Arbeitslosigkeit in der Appenzeller Textilindustrie manifestierte. Mit Unterstützung von Freunden und Gemeinde gründete Vogt zunächst ein Hilfswerk für Arbeitslose, und erwarb dann 1933 eine Immobilie für das Sozialheim «Sonneblick» in Walzenhausen für Schulungskurse und Erholungsaufenthalte. Über die Arbeit im «Sonneblick» wurde Vogt bald zur Anlaufstelle für Flüchtlinge aus dem «Dritten Reich», denen er mit bescheidenen Mitteln zu helfen versuchte. Dies setzte sich fort auch nachdem Vogt im November 1936 an die Gemeinde Seebach in Zürich berufen wurde. Vogt war bekannt, dass sich bereits verschiedene Hilfswerke um die Not der Flüchtlinge kümmerten, darunter die bereits nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Europäische Zentralstelle für kirchliche Hilfsaktionen, die als offizielles Hilfswerk der SEK fungierte. Doch in diesem relativ dicht gespannten Netzwerk war eine Lücke, die Hilfe für Pfarrer der BK in Deutschland und deren Angehörige. Vogt war 1936 in einem Kinderheim in Trogen drei Kindern des Dahlemer Pfarrers Martin Niemöller begegnet, die sich dort zur Erholung aufhielten. Vogt wurde an Karl Barth verwiesen, der dessen Idee vorbehaltlos unterstützte. Bereits der erste Rundbrief an Pfarrer in der deutschsprachigen Schweiz im Mai 1937 wurde von einem Komitee unterzeichnet. Den dritten Rundbrief vom September 1937 zeichnete dann auch Barth, der dem Hilfswerk bis zu seiner Auflösung 1947 als treibende Kraft verbunden blieb.

Mit der Bereitstellung von Ferienplätzen für die Kinder von Pfarrern der BK begann die Arbeit des Hilfswerkes. Die Information reformierter Kreise und einer breiteren Öffentlichkeit in der Schweiz über den Kampf der BK und die Anbahnung von persönlichen Kontakten durch Besuche in Deutschland waren weitere Schwerpunkte der Arbeit. Bald jedoch rückte die Hilfe für eine besondere Gruppe von Flüchtlingen in den Mittelpunkt, deren Situation auch für die Gründung des deutschen Pfarrernotbundes 1933 durch Niemöller von entscheidender Bedeutung gewesen war, die der sog. «nichtarischen» Christen, also jener Pfarrer in den evangelischen Landeskirchen, die durch Taufe vom Judentum zum Christentum übergetreten waren. Durch die Gründung eines «Subkommission für evangelische Judenchristen im Ausland» im September 1938 richtete die SEHBKD ihr besonderes Augenmerk auf diese Gruppe. Nach Abstimmung der Aufgaben mit dem von Adolf Keller geleiteten kirchlichen Hilfskomitee für kirchliche Flüchtlinge betreute das SEH-BKD 1939 123 und bis 1942 zu jedem Zeitpunkt zwischen 70 und etwas mehr als 100 Flüchtlingen (225). Dafür waren erhebliche finanzielle Mittel nötig, die Vogt in mühevoller Kleinarbeit, erst seit dem Sommer 1942 von der Gemeindearbeit freigestellt und ganz der Flüchtlingshilfe gewidmet, mit der Sammlung für den «Füchtlingsbatzen» aufbrachte.

Diese caritative Arbeit des SEHBKD wurde bald von theologischen Diskussionen und Reflexionen begleitet. Ihnen dienten die Wipkinger Tagungen für Laien und Theologen, die von 1938 bis 1942 jährlich stattfanden und von bis zu 400 Teilnehmern besucht waren. Mehrere dieser Wipkinger Tagungen waren durch die Präsenz und die Thesen von Karl Barth geprägt und führten zu weitreichenden Auseinandersetzungen um die Rolle des Bekenntnisses in der Politik und um die Rolle des Judentums für die christliche Offenbarung. Auf der Tagung im November 1941 kam es dabei beinahe zum Austritt Barths aus dem SEHBKD, nachdem eine Mehrheit der Anwesenden eine von Emil Brunner stammende Motion unterstützte. Diese interpretierte den Satz «Das Heil kommt von den Juden» (Joh 4,22) so, dass der «grundsätzliche Antisemitismus mit der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde unvereinbar» sei (275). Barth hatte sich für eine Streichung des einschränkenden «grundsätzlich» ausgesprochen, stieß aber mit seiner «präsentistischen» (274) Deutung des «kommt» auf erheblichen Widerstand unter den versammelten Tagungsteilnehmern und in der anschließend weiterwogenden Debatte. Der Konflikt innerhalb des SEHBKD ließ sich nur dadurch bereinigen, und ein Austritts Barths vermeiden, indem das Hilfswerk fortan auf eine theologische Begleitung und Reflexion der caritativen Tätigkeit verzichtete.

Doch die Konflikte um eine angemessene Reaktion der Reformierten auf den Antisemitismus waren damit nicht ausgestanden. Durch das seit 1942 im Hilfswerk Konturen gewinnende Wissen um die zum Holocaust gehörenden Deportationen und Vernichtungsaktionen in Osteuropa gewannen sie vielmehr noch an Schärfe. Paul Vogt trat im Wissen um die Vernichtung der Juden als die treibende Kraft eines christlichjüdischen Dialogs hervor, der sich zuerst im Juni 1942 in einem Treffen mit Vertretern des Israelitischen Gemeindebundes und einem Referat von Rabbiner Zwi Taubes materialisierte. Doch die Abfassung eines öffentlichen Wortes entzweite das Komitee des Hilfswerkes und führte zu Divergenzen, die Vogt in tiefer «Enttäuschung» darüber zurückließen, dass der «Ernst» des Treffens «zu Tode geredet worden sei» (341). Der schließlich verabschiedete «Weihnachtsbrief an die Juden der Schweiz» zeigte diese Ambivalenzen auf, indem er neben einem Eingeständnis christlicher Schuld weiter von der «Schuld der Juden» durch ihre Nichtanerkennung Jesu als Erlöser sprach (345). Vogt jedoch motivierte die Zerstörung des europäischen Judentums zu vermehrter Hilfstätigkeit, ganz konkret in einer «Freiplatzaktion», mit der er ab 1943 Unterkünfte für mehrere Hundert jüdische Flüchtlinge in jüdischen und christlichen Familien organisierte. Damit erweiterte Vogt die Arbeit des Hilfswerkes über den Kreis der BK hinaus, und erklärte zugleich ganz explizit, dass die Freiplatzaktion nicht etwa als eine Lizenz zur Missionierung unter den Kindern jüdischer Flüchtlinge missbraucht werden dürfe (375).

Die Not der Flüchtlinge blieb auch nach Kriegsende zentral für die Arbeit des Hilfswerkes. Strittig war unter anderem, ob geflüchtete Juden nach Deutschland zurückkehren sollten, was Vogt gegen manche Kritik befürwortete. Zugleich trat das Hilfswerk mit einer programmatischen Erklärung zu Fragen der individuellen und kollektiven Schuld nach dem Holocaust hervor (465ff). Daneben kam es zu öffentlichen Kontroversen um die BK, die sich bereits bei der Gründung des Hilfswerkes angedeutet hatten. Denn manche Stimmen kritisierten, dass Niemöller und die BK sich nicht von Anfang gegen den Nationalsozialismus gewandt hätten, sondern erst nachdem dieser die Kirche attackierte. Die diakonische Arbeit des SEHBKD ging bald an das Hilfswerk der Evangelischen Kirche der Schweiz über. Damit blieb noch die Option, an die theologische und kirchenpolitische Programmatik der BK anzuknüpfen. Doch in Kontakten mit Deutschland und nach der ersten Reise Martin Niemöllers in die Schweiz im Frühjahr 1946 mussten Vogt und seine Mitstreiter erkennen, dass die Bekennende Kirche in Deutschland nicht mehr existierte. Damit war dem SEHBKD die Geschäftsgrundlage entfallen.

Die Arbeit des Schweizerischen Evangelischen Hilfswerks für die Bekennende Kirche ist ein wichtiges Kapitel der schweizerischen und europäischen Kirchen- und Religionsgeschichte im 20. Jahrhundert. In der Arbeit des Hilfswerkes zeigen sich wie in einem Brennspiegel zentrale Konfliktlinien der schweizerischen Geschichte im Gebiet der Flüchtlingspolitik und in der Auseinandersetzung mit dem völkischen und dem christlichen Antisemitismus. Die umfassend recherchierte und sorgfältig argumentierende Arbeit von Heinrich Rusterholz ist deshalb jedem an der kirchlichen Zeitgeschichte Interessierten nachdrücklich zur Lektüre empfohlen.

Zitierweise:
Benjamin Ziemann: Rezension zu: Heinrich Rusterholz, «... als ob unseres Nachbarn Haus nicht in Flammen stünde». Paul Vogt, Karl Barth und das Schweizerische Evangelische Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland 1937–1947, Zürich, TVZ, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 453-456.