U. Fuhrmann: Die Entstehung der "Sozialen Marktwirtschaft" 1948/49

Titel
Die Entstehung der "Sozialen Marktwirtschaft" 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse


Autor(en)
Fuhrmann, Uwe
Erschienen
Konstanz 2017: UVK Verlag
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 39,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Mischa Suter, Universität Basel, zur Zeit Gastwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin

Die späten 1940er-Jahre waren ein globaler Moment sozialer Unrast. Das Ende des Zweiten Weltkriegs öffnete ein weltweites Fenster für Forderungen von Arbeiter/innen und Kolonisierten. Ein Kurvendiagramm der Arbeitskämpfe der ganzen Welt im 20. Jahrhundert – salopp gesagt, „global labor history in one picture“ – weist zwei peaks auf: der erste Höhepunkt, wenig überraschend, am Ende des Ersten Weltkriegs. Der zweite fällt auf die Jahre 1946-1948. Ist die erste Welle gut bekannt, weiß man über die zweite fast nichts. Fokussiert man indes allein die koloniale und semikoloniale Welt, verändert sich das Bild: auch hier ein sprunghafter Anstieg nach 1945, aber danach folgt kein Rückgang, sondern die Kurve verzeichnet Spitzenwerte bis in die 1960er-Jahre.1 Die Dekolonisierung war mitunter eine jahrzehntelange Streikserie.

Uwe Fuhrmanns Studie über Streiks, Marktproteste und Massendemonstrationen zur Zeit der westdeutschen Währungsreform verbleibt zwar im nationalstaatlichen Rahmen. Das hochinteressante Buch lädt jedoch zu Querverweisen wie den eben genannten ein. Die Dissertation interveniert in die Debatte um die Genese der „Sozialen Marktwirtschaft“ und liefert eine umfassende Deutung des vergessenen Generalstreiks vom 12. November 1948. Dabei wird aufgezeigt, wie prekär und umkämpft die Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft nach 1945 verlief. Für Westdeutschland folgt daraus, so lautet der Einsatz des Autors, dass die Geschichte des Begriffs „Sozialen Marktwirtschaft“ umgeschrieben werden müsste. Vereinfacht gesprochen entstand er nicht an Ludwig Erhards Reißbrett, sondern entwickelte sich erst aus der Reaktion auf den massiven Widerstand, dem die Wirtschafts- und Währungsreform begegnete, zum zentralen Leitbegriff. Während der Mythos von Währungsreform und Wirtschaftswunder bereits wiederholt demontiert worden ist, macht Fuhrmann die Konfliktdimension dieses Prozesses stark. Dazu greift er auf Michel Foucaults Begriff des Dispositivs als einem Ensemble von Kräfteverhältnissen zurück. Die „Soziale Marktwirtschaft“ bildete die Neuausrichtung eines Dispositivs, das unter Druck geraten war. So zeichnet Fuhrmann einen Vierer-Schritt aus Notstandssituation, Strategie der kapitalistischen Restrukturierung, Widerstand gegen diese Strategie und schließlich der Modifizierung hin zur „Sozialen Marktwirtschaft.“ Fuhrmann untersucht mit hoher quellenmäßiger Auflösung einen kurzen Zeitraum. Zur Verwendung kommen Akten des Länderrats sowie der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets, OMGUS-Files, lokale Polizeiberichte, umfangreiche Gewerkschaftsquellen, Presse, Rundfunksendungen und Fotos (zu den konsultierten Archiven vgl. S. 46, Fn. 22).

Während in der unmittelbaren Nachkriegszeit Hunger, Schwarzmarkt, Kohlenklau den Alltag bestimmten, erhielten Forderungen nach der Sozialisierung der Betriebe Auftrieb. Wirtschaftsdemokratie geriet zur Leitmetapher innerhalb einer höchst heterogenen „antikapitalistischen Grundstimmung“ (S. 83ff.), die der Autor ausmacht und die von den Basisstreiks in der britischen Zone im Frühjahr 1947 (mit über einer Million Streikenden) bis zum Ahlener Programm der CDU reichte. Hatten die Militärregierungen zunächst versucht, die Gewerkschaften kleinzuhalten, so avancierten diese bald zu einem „Ordnungsfaktor“ (S. 165) mit starkem Bemühen, die Basis zu kontrollieren und Proteste zu kanalisieren. Der allgemeine Lohnstopp, der noch aus der Nazizeit stammte, schränkte die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht ein. Umso bemerkenswerter erscheinen dem Autor die massiven spontanen Mobilisierungen.

In diesem Zusammenhang bedeuteten Währungs- und Wirtschaftsreform einen wichtigen Vorstoß. Unter der Voraussetzung, dass die Eigentumsverhältnisse unangetastet bleiben sollten (S. 135), wurde die Währungsreform klar zugunsten der Unternehmer abgewickelt, während auf eine soziale Abfederung vorerst verzichtet wurde. Mindestens so weitreichend war die Wirtschaftsreform, mit der Marktverhältnisse durchgesetzt wurden. Wichtiger als Erhard war hier das ordoliberale SPD-Mitglied Leonhard Miksch. Dieser beabsichtigte mittels staatlichen Rahmungen den Markt aktiv zu schaffen, nicht freizulegen (S. 146). Erhard allerdings setzte auf eine weitaus weniger abgestufte Preispolitik, die moralisch ummantelt war – „’oberste Preisgrenze ist der Wucher’“, hieß es in einer Vorberatung (S. 149) – und mittels einer spektakulär verwirrenden Informationspolitik umgesetzt wurde. Die partielle Preisfreigabe sorgte für Chaos, weil niemand wusste, welche Waren noch reguliert waren und welche nicht. Der Autor diskutiert die interessante These, dass Undurchsichtigkeit ein wichtiges Element bei der Durchsetzung der neuen Verhältnisse darstellte, weil im Moment der Überraschung Fakten geschaffen wurden. Nicht nur der Schwarzmarkt, auch seine Beseitigung war begleitet von Konflikten über Transparenz und Intransparenz.

Mit den Reformen kamen Preissteigerungen. Die Waren lagen nun in den Läden, aber waren kaum erschwinglich, zumal Lohnstopp herrschte. Gleichwohl hatte sich die Ernährungssituation verbessert. Der Autor ordnet die folgenden Preisproteste explizit nicht als Hungerunruhen ein (S. 167). Vielmehr sei in ihnen eine politische Subjektivität gegen die neuen Marktverhältnisse zu erkennen. Ein quellenmäßiger Glücksfall, eine Sammlung von Resolutionen lokaler bayerischer Protestversammlungen, gibt Einblick in die Motive, Problematisierungen und Forderungen vor Ort (S. 187–192). Mancherorts, etwa in den so genannten „Stuttgarter Vorfällen“ vom 28. Oktober, weiteten sich die Demonstrationen zu veritablen riots aus. Der „torsohafte Generalstreik“ (S. 230), zu dem die Gewerkschaftsführungen in der Bizone schließlich aufriefen, kam nur unter Druck der Basis zustande. Schätzungsweise zwischen sieben und neun Millionen Menschen streikten in der Bizone. In der französischen Zone war der Streik dagegen verboten worden. Mit der „Arbeitsruhe“ (wie der Streik DGB-intern genannt wurde) wurden Forderungen gegen „Preiswucher“ und für Wirtschaftsdemokratie gestellt. Der Streik war äußerst defensiv angesetzt: nur 24 Stunden Dauer, kein Streikgeld, keine Demonstrationen, keine Streikposten, gleichwohl kam es in Köln zu einer Massenkeilerei zwischen Streikenden und Streikbrechern (S. 226). Nach dem Streik flauten die Proteste ab, nicht zuletzt, weil die Aufhebung des Lohnstopps die gesellschaftliche Auseinandersetzung von der Straße in die Betriebe verlagerte.

Zeitlich überlappend – und insofern nicht einer simplen Reaktion entsprechend – begann im Sommer 1948 die „Modifizierung“ des Dispositivs Freie Marktwirtschaft. Hier hebt der Autor besonders das „Jedermann-Programm“ hervor, das preisdämpfend wirkte und in dem ironischerweise genau jene Bedarfsartikel reguliert wurden, deren Preise Erhard vormals hatte deregulieren wollen. Die Konzepte gingen nicht auf Erhards, sondern vor allem auf Mikschs Konto, doch Erhard verstand es, deren Erfolge als sein Verdienst zu verbuchen. In diesem Kontext tauchte die Rede von der „Sozialen Marktwirtschaft“ auf, ein lexikalischer Platzhalter, den der Autor als „Leeren Signifikanten“ nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe interpretiert und der sich bis November 1948 von der verstreuten Äußerung zur dezidierten Aussage verfestigte. Neben Miksch wird vor allem Alfred Müller-Armack als prägend für die Wortschöpfung betrachtet. Allerdings war letzterer zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den Kreis der regierungspolitischen Entscheidungsträger aufgerückt (S. 260), wie überhaupt der Begriff bis „weit in das Jahr 1948 hinein“ nur unter Spezialisten zirkuliert hatte und der Öffentlichkeit unbekannt war (S. 261). Bezeichnenderweise verwendete Erhard den Begriff zum ersten Mal, als die SPD ein Misstrauensvotum gegen ihn vorbrachte. In der angespannten Lage stiftete die Chiffre „sozial“ einen Konsens zwischen christlicher Soziallehre und Sozialdemokratie. Unter dem Signum der „Sozialen Marktwirtschaft“ gelang der CDU 1949 der Wahlsieg. Dieser Moment inaugurierte denn auch den geschichtspolitischen Mythos von der „Sozialen Marktwirtschaft“, gegen den der Autor dieser Studie anschreibt.

Dies ist ein materialreiches, gründliches und urteilsfreudiges Buch. Fuhrmann verhehlt seine eigene Position nicht, argumentiert aber stets quellennah. Die Methode der Dispositivanalyse wird ausführlich vorgestellt und Fuhrmann betont, damit kein mechanisches Aktion/Reaktion-Schema bedienen zu wollen. Gleichwohl führt die kausale Logik über die verschiedenen Etappen des Jahres 1948 zu einigen Zwangsläufigkeiten. Solche zeigen sich auch in der eindeutigen Ausrichtung, die vom Autor den gesellschaftlichen Akteuren zugewiesen wird: Die Basis war ungeduldig, die Gewerkschaftsspitze zögerlich, die Wirtschaftspolitiker strategisch. Manchmal hätte man sich mehr Raum für Ambivalenzen in diesem grundsätzlich flüssigen Narrativ gewünscht; allerdings ermöglicht das vorbildlich ausgebreitete Quellenmaterial dem/der Leser/in auch eigene Deutungen. Dazu gehört, dass die Konflikte über Alltagspreise vor allem Kämpfe um soziale Reproduktion darstellten. In diesen Auseinandersetzungen, die auf dem Marktplatz als Ort der sozialen Interaktion (und eben nicht im Betrieb) stattfanden, spielten Frauen die zentrale Rolle.2 Die betriebliche Optik der Gewerkschaftsgeschichte vermag solche Dimensionen nur ein Stück weit einzufangen. In noch einer weiteren Hinsicht bleibt die Arbeit limitiert. Foucault liefert den methodischen Ansatz, aber seine Thesen zum deutschen Neoliberalismus bleiben außen vor. Es macht neugierig, wie der Autor vor dem Hintergrund seiner Quellenkenntnis Foucaults Einschätzung beurteilen würde. Hier gäbe es Möglichkeiten für einen Brückenschlag zwischen Sozial- und Ideengeschichte. Bekommt die Community zur intellectual history des Neoliberalismus mit, dass hier ein Sozialhistoriker den Ordoliberalismus vom Druck der Straßenproteste her beleuchtet? Es wäre auf jeden Fall zu hoffen.

Anmerkungen:
1 Solche Grafiken, ebenso atemberaubend in ihrem Erkenntniswert wie in ihrer schneidenden Komplexitätsreduktion, finden sich bei: Beverly Silver, Forces of Labor. Workers’ Movements and Globalization since 1870, Cambridge 2003, S. 126–128.
2 Zum Konzept der sozialen Reproduktion in der feministischen Debatte vgl. jetzt Thitti Bhattacharya (Hrsg.), Social Reproduction Theory. Remapping Class, Recentering Oppression, London 2017.

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Veröffentlicht am
25.04.2018
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