B. Stalder u.a.: Von Bernern und Burgern

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Titel
Von Bernern & Burgern. Tradition und Neuerfindung einer Burgergemeinde


Autor(en)
Stalder, Birgit; Stuber, Martin; Meyrat, Sibylle; Schnyder, Arlette; Kries, Georg
Erschienen
Baden 2015: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
2 Bde. 863 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Emil Erne

Noch 2003 galt die Geschichte der Burgergemeinde Bern als aufgearbeitet, weshalb deren Exponenten die neue Stadtgeschichte Berns als alleinige Sache der Einwohnergemeinde deklarierten.1 2008 verursachte dann die Publikation einer Dissertation über den Konservatismus der Burgergemeinde einen schweizweiten Medienwirbel.2 Die «doppelte Empörung» (Georg Kreis, S. 757) betraf einerseits fragwürdige Haltungen von Angehörigen der Burgergemeinde in den 1930er-Jahren und andererseits die Tatsache, dass diese Haltungen in den 1960er-Jahren bei Karrierechancen überhaupt keine Rolle spielten. Auch die Rechtmässigkeit der Vermögensausscheidung zwischen Burger- und Einwohnergemeinde Bern im Jahre 1852 wurde infrage gestellt. Die Burgergemeinde vermochte die Divergenzen zwischen ihrem Selbstbild und den kritischen Fremdbildern nur abzufangen, indem sie die vertiefte Aufarbeitung ihrer Ge schichte im 19. und 20. Jahrhundert durch ein burgergemeinde-externes Historikerteam veranlasste. Christophe v. Werdt als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats legt einleitend diese «Geschichte eines bernischen Bilderstreits» (S. 19) offen dar.

Das vorliegende Werk ist in sieben Kapitel gegliedert, die jeweils ein Thema quasi monografisch durch den ganzen Zeitraum hindurch behandeln – ausgenommen Kapitel VI –, womit sich zwangsläufig gewisse Wiederholungen ergeben, die in den Anmerkungen durch Verweise vermerkt sind. Nur punktuell werden die Zünfte und Gesellschaften berücksichtigt (S. 276, Anm. 349), die als unabhängige öffentlich- rechtliche Personalkorporationen in einem engen, rechtlich aber unklaren Verhältnis zur Burgergemeinde stehen und unterschiedliche Entwicklungen durchmachten. Hingegen werden burgerliche Sachverhalte zum besseren Verständnis immer wieder mit analogen Entwicklungen in der Einwohnergemeinde der Stadt Bern und im Kanton Bern verglichen.

Im ersten Kapitel stellen Birgit Stalder und Martin Stuber die wichtigsten Etappen der institutionellen Entwicklung der Burgergemeinde vom Ancien Régime über die Entstehung des heute noch gültigen Gemeindedualismus von Einwohnergemeinde und Burgergemeinde 1832 bis zur vollständigen Satzungsrevision von 1998 dar. Die Burgergemeinde erscheint dabei als eine Körperschaft, die einerseits ihre Tradition und Traditionen wahrte und andererseits sich wiederholt «neu erfinden» musste, um den Anfechtungen von aussen zu widerstehen und sich veränderten politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen anzupassen. Ihr Vermögen und die Privilegierung ihrer Mitglieder führten mehrmals zur Forderung nach Abschaffung der Burgergemeinde. Indem sie den Burgernutzen aufhob und sich dem Gemeinwohl in Stadt, Region und Kanton verpflichtete, sowie durch vermehrte Einburgerungen vermochte sie ihre Weiterexistenz zu rechtfertigen und ihre Position zu stabilisieren. Mit dem Verlust an politischer Macht gegenüber der Einwohnergemeinde wurde sie als Oberschichtsphänomen zum Rückzugsort der alten Berner Geschlechter.

Facettenreich analysiert Birgit Stalder im Kapitel II zunächst die Burgerrechtspolitik, worunter die Dringlichkeit, die Anforderungen und das Verfahren der Einburgerung fallen. Es bestand nie ein Anspruch auf das Burgerrecht, aber es konnte – fast ausschliesslich an Männer – für spezielle Verdienste verschenkt werden, beispielsweise an Chirurg Theodor Kocher, Geschichtsprofessor Richard Feller und Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen. Aufgrund der Auswertung der abgelehnten Bewerbungen konstruiert die Autorin als Idealtypus des aufzunehmenden Burgers den finanziell abgesicherten, jüngeren und gesunden, mit Bern eng verbundenen Familienvater. Zu den wichtigsten Begründungen der sich um das Burgerrecht Bewerbenden gehörte die «Liebe zu Bern». Beruflich dominierten die Angehörigen des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums. Vergleiche mit der Einbürgerungspraxis der Einwohnergemeinde seit 1917 relativieren gewisse Befunde als nicht ausschliesslich burgerspezifisch. In den folgenden Abschnitten werden burgerlich-typische Lebensformen und Handlungsweisen behandelt, die sich durch die Verbundenheit mit Berns Geschichte auszeichnen, u.a. der patrizische Habitus, die Wohnungseinrichtung, die Geselligkeit und der Soziolekt. Das Kapitel schliesst mit berühmten Burgerinnen wie Julie Bondeli, Helene v. Mülinen und Madame de Meuron.

Das weitaus umfangreichste dritte Kapitel widmet Martin Stuber dem Grundbesitz der Burgergemeinde und ihrer Bodenpolitik. Hier werden ihre ökonomische Macht und ihr politischer Einfluss in der Stadt Bern zum Thema, das bisher entweder «unkritischaffirmativ » oder «polemisch-zugespitzt» (S. 282) dargestellt worden ist. Auf einem langen Weg verschafft Stuber den Leserinnen und Lesern eine neuartige und ausgewogene Gesamtschau. Er holt aus bei den Stadtfeldern als Subsistenzgrundlage im Ancien Régime, erörtert Schritt für Schritt den dramatischen Kampf um die Nutzungsrechte 1826– 1888 und führt über die Hochbrücken, die erst die Stadterweiterung ermöglichten, und durch den multifunktionalen Stadtwald (Versorgung, Rendite, Erholung) an der Autorennstrecke im Bremgartenwald vorbei schliesslich zum burgerlichen Finanzhaushalt, dem Dreh- und Angelpunkt der burgerlichen Tätigkeiten ebenso wie aller externen Anfeindungen. Als grösste Grundeigentümerin in der Berner Stadtregion war die Burgergemeinde einerseits der Allgemeinheit verpflichtet, musste aber andererseits stets den maximalen Ertrag zur eigenen Existenzsicherung anstreben. Haupteinnahmequelle waren zunächst die burgerlichen Wälder, ab 1950 die Domänen, grösste Ausgabeposten die Museen und die Bibliotheken. Die Bodenpolitik der burgerlichen Liegenschaftsverwaltung bewegte sich «zwischen Gemeinwohl und Rendite» (S. 429); hinsichtlich des Denkmalschutzes produzierte sie «Sündenfälle und Vorzeigeobjekte» (S. 462), als jüngste Beispiele den Abbruch der Kocherhäuser (1993) und die Restaurierung der Felsenburg (2002).

Die Wahrung des historischen Erbes ist das Hauptanliegen burgerlicher Kulturpolitik, die Sibylle Meyrat im Kapitel IV unter die Stichworte Sammeln, Schenken, Fördern subsumiert. Davon profitieren sowohl Institutionen, welche die Burgergemeinde alleine trägt, wie das Naturhistorische Museum, die Burgerbibliothek und das Kultur- Casino, als auch solche, die sie zusammen mit der Einwohnergemeinde und dem Kanton finanziert, wie das Historische Museum und die frühere Stadt- und Universitätsbibliothek. Sibylle Meyrat resümiert Entstehungsgeschichte und Unterbringung dieser Einrichtungen, woraus sich Grundzüge burgerlicher Kulturpolitik ableiten lassen. Ausführlich werden die verschiedenen städtischen Musik- und Gesellschaftshäuser bis hin zum repräsentativen Casinobau von 1909 dargestellt. Im «Ringen um Geschichte» (S. 586) beanspruchte die Burgergemeinde zur Legitimation ihrer Existenz die «Deutungshoheit der bernischen Geschichte» (S. 588), was bei städtischen Jubiläumsfeiern wie auch bei historischen Vereinen und Publikationen zum Ausdruck kam. In der Frage der rechtmässigen Nachfolge des alten bernischen Stadtstaates entwickelte sich aus der Rivalität zwischen Kanton, Stadt und Burgergemeinde schliesslich ein enges Zusammenwirken.

Die burgerlichen Waisenhäuser und das Burgerspital waren die Aushängeschilder für die burgerliche Sozialpolitik. Ihnen sind vier kommentierte Bildstrecken gewidmet. Dazwischen erörtert Arlette Schnyder im fünften Kapitel die burgerliche Vormundschafts- und Armenpflege in drei ausgewählten Zeiträumen (1888–1898, 1912–1927, 1970–2000), in denen jeweils wesentliche Neuerungen bis hin zu einem professionalisierten Sozialhilfesystem nach allgemeingültigen schweizerischen Grundsätzen erfolgten, wobei allerdings einzelne Bezeichnungen traditionell geblieben sind («Armengut», «Almosner», «Oberwaisenkammer»). Auch wenn die Burgergemeinde primär für die eigenen Mitglieder zuständig bleibt, ist doch allmählich eine Öffnung zu einer aktiveren Rolle in der städtischen Sozialpolitik feststellbar.

Das Kapitel VI weicht sowohl vom Verfasser wie auch vom Inhalt her von den bisherigen Kapiteln ab. Während die übrigen Autorinnen und Autoren grösstenteils jüngere, freischaffende Historiker und Historikerinnen sind, berief die Projektleitung für das nur wenige Jahre betreffende Thema der «politischen Herausforderungen der Zwischenkriegszeit » den emeritierten Professor und profunden Kenner der Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts Georg Kreis. Es ist denn auch – wie eingangs geschildert – das in der Öffentlichkeit exponierteste Stück burgerlicher Vergangenheit. Kreis rekapituliert zunächst die Befunde über das Verhältnis der Burgergemeinde resp. einzelner ihrer Exponenten zu rechtsextremen Bewegungen der 1930er-Jahre, stellt sodann die infrage kommenden «rechtskonservativen bis frontistischen» Organisationen (S. 726) kurz vor und bezieht auch die bürgerlichen Traditionsparteien (Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, Freisinnig-demokratische Partei, Katholisch-konservative Partei) sowie die Neue Helvetische Gesellschaft mit ein, die teilweise «ebenfalls eine gewisse Nähe zu den Fronten» hatten (S. 738). Die abschliessende «historische Einordnung» bleibt einigermassen vage. Was Georg Kreis über das Abklingen der frontistischen Sympathien der Burger nach dem «Anschluss» von Österreich 1938 sagt, gilt eigentlich für die ganze Thematik: «Belegen lässt sich das bei der gegebenen Quellenlage nicht, hingegen können wir das angesichts der allgemeinen Entwicklung vermuten.» (S. 756) Statt Belegen also Vermutungen, dass die Mitglieder der Burgergemeinde sich in den 1930er- Jahren nicht «in ausserordentlichem Mass» im Frontismus engagiert hatten und dass in den 1960er-Jahren das burgerliche Desinteresse für eine problematische Vergangenheit der «damals gängigen Haltung» entsprach (S. 763).

Einen besonderen Effort leisten Birgit Stalder und Martin Stuber im letzten Kapitel VII, wo sie die Burgergemeinde Bern in den schweizerischen Kontext stellen und sie mit andern Bürgergemeinden, Ortsgemeinden und Korporationen der Schweiz vergleichen. Die historische Einordnung in diese vielfältige, unterschiedlich gut aufgearbeitete Landschaft ergibt vielerlei Parallelen und Unterschiede bezüglich Bürgerrecht, Kollektivressourcen, Kulturförderung, Sozialhilfe und Habitus. Der Abschnitt bietet gleichzeitig eine pointierte Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen zur Burgergemeinde Bern aus den vorangehenden Kapiteln.

Die Autorinnen und Autoren ergänzen die reichhaltige, aber disparate bestehende Forschungsliteratur (die Bibliografie umfasst über 850 Titel) mit gezielten Tiefenbohrungen in die umfangreichen Quellenbestände, wobei das Archiv der Burgergemeinde, das sich in der Burgerbibliothek befindet, im Zentrum steht. Ferner wurden eigens für dieses Projekt aufwändige Datenerhebungen durchgeführt und dazu am Historischen Institut der Universität Bern Masterarbeiten verfasst, auf deren Basis Lukas Künzler, Beat Hatz, Fabian Moser, Beda Lötscher, Emanuel Antener und Sarah Baumgartner je einen der eingestreuten Kasten beigesteuert haben.

Die Illustrierung der beiden Bände besticht nicht durch Hochglanzabbildungen, sondern durch die Vielfalt der über 300 dynamisch angeordneten historischen und aktuellen Dokumente im Format von der Visitenkarte bis zur ganzen Seite und in Schwarz- Weiss und Farbe. Mit etwas Mehraufwand hätten im Personenregister die Lebensdaten der erfassten Personen vervollständigt werden können; auch wäre angesichts des Handbuchcharakters des Werks ein Sachregister angemessen gewesen. Pointiert, aber politisch unkorrekt ist der Haupttitel, in welchem Frauen nur mitgemeint sind; oder sollte etwa damit die bis in die jüngste Zeit bestehende Unterordnung der Frau angedeutet werden? Und was assoziiert eigentlich das kaufmännische Et-Zeichen?

Die Thesen von Katrin Rieder werden verschiedentlich aufgegriffen. Häufig wird ihre Dissertation affirmativ als Referenz nachgewiesen. Ein direkterer Bezug besteht neben dem sechsten Kapitel im Kapitel III, wo Martin Stuber die Frage nach der Macht der Burgergemeinde differenziert beantwortet: «Bis heute besitzt die Burgerschaft durch ihren Grundbesitz die Möglichkeit, ihre städtebaulichen Vorstellungen gegen die Mehrheit des Stimmvolks durchzusetzen. Dies allerdings nur bis zu einem gewissen Grad, was die Burgergemeinde im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in verlorenen Abstimmungen erfahren musste.» (S. 476). Insgesamt geht das Buch weit über eine Widerlegung Rieders hinaus und war auch explizit nicht als solche intendiert (S. 21/29). Mit diesem Projekt hat sich die Burgergemeinde Bern eine breit angelegte, gut lesbare Gesamtdarstellung ihrer Geschichte und der Entwicklung der Burgerschaft Berns im 19. und 20. Jahrhundert geschaffen, die nicht nur ihr als selbsternannter Hüterin bernischer Tradition in allen Fragen zu ihrem Selbstbild eine aktuelle, wissenschaftlich fundierte Antwort gibt, sondern die auch für eine erweiterte, historisch interessierte Öffentlichkeit das unverzichtbare Pendant zur Geschichte der Einwohnergemeinde bildet. Erst in diesem Verbund von Standardwerken ist die Stadtgeschichte Berns komplett.

1 Barth, Robert; Erne, Emil; Lüthi, Christian (Hrsg.): Bern – die Geschichte der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert. Stadtentwicklung, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Kultur. Bern: Stämpfli 2003.
2 Rieder, Katrin: Netzwerke des Konservatismus. Berner Burgergemeinde und Patriziat im 19. und 20. Jahrhundert. Zürich: Chronos 2008.

Zitierweise:
Emil Erne: Rezension zu: Stalder, Birgit; Stuber, Martin; Meyrat, Sibylle; Schnyder, Arlette; Kreis, Georg: Von Bernern & Burgern. Tradition und Neuerfindung einer Burgergemeinde. Baden: Hier und Jetzt 2015. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 2, 2016, S. 70-75.