H. Sundhaussen: Geschichte Serbiens

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Titel
Geschichte Serbiens.


Autor(en)
Sundhaussen, Holm
Erschienen
Wien 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
514 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Natasa Miskovic, Historisches Seminar, Universität Basel

Mit seiner Geschichte Serbiens im 19. bis 21. Jahrhundert präsentiert der renommierte Berliner Südosteuropahistoriker Holm Sundhaussen die Bilanz seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit Serbien: eine «vorläufige Bestandesaufnahme von zwei Jahrhunderten mit einem offenen Ende» (S. 462). Das über fünfhundert Seiten starke Buch ist eine spannend geschriebene Chronik, verwoben mit souveränen Analysen aus den Forschungsschwerpunkten des Autors. Im Mittelpunkt stehen die «Nations- und Nationalstaatsbildung und deren Konsequenzen» (S. 462). Erstmals widmet der Politik- und Sozialhistoriker deutscher Schule auch der Kulturgeschichte breiten Raum; die Historische Anthropologie bleibt unberücksichtigt.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der kurze erste Teil wirft einen Blick auf Mittelalter und Frühe Neuzeit. Der zweite Teil umfasst unter dem Motto «staatliche und nationale ‘Wiedergeburt’» das «lange» 19. Jahrhundert. Eingebettet in einen kursorischen Überblick über die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Geschichte von der Regierungszeit Milosˇ Obrenovics bis zum Ersten Weltkrieg bespricht Sundhaussen den serbischen Nationsbildungsprozess anhand des 3-Phasen-Modells von Miroslav Hroch. Phasen eins und zwei, Gelehrtenpatriotismus und «politische Agitation einer nationalbewussten Minorität», fielen im serbischen Fall zusammen; es bestand bereits ein autonomer Staat. In Phase drei lösten die «Kriegs- und Krisenerfahrungen» der Jahrzehnte nach der Orientalischen Krise 1875 einen «integralen Massennationalismus» aus (S. 84f.). Eine ent- sprechende Wirkung ging allerdings auch vom Gründerboom nach der Unabhängigkeit 1878 aus, wie ich hier ergänzen möchte.

In der Diskussion der Zadruga übergeht Sundhaussen die wegweisenden Arbeiten von Karl Kaser und Maria Todorova und verzichtet auf eine Trennung zwischen Zadruga-Diskurs und anthropologischer Forschung. Dagegen lässt er sich auf das psychohistorische Experiment der slowenischen Forscherin Alenka Puhar ein, die basierend auf Vera Erlichs grundlegender Untersuchung jugoslawischer Dörfer aus den 1930er Jahren zum Schluss kommt, dass kindliche Traumata für die Gewaltexzesse im Krieg verantwortlich seien. Sundhaussen diskreditiert ihre Resultate gleich selbst (S. 157). Um danach das harte Leben der Frauen in den westbalkanischen Gebirgsregionen darzustellen, hätte er direkt an Erlich anschliessen können.

Im dritten Teil bespricht Sundhaussen die jugoslawische Zeit. Das erste Drittel, über das Königreich SHS, stellt er unter die Frage, weshalb diese Neugründung, eine Verbindung Serbiens mit den südslawischen Teilen der habsburgischen und osmanischen Erbmasse, scheitern musste. Neben äusseren Faktoren sieht er Ursachen in der ambivalenten Haltung der serbischen Eliten. Dem «charakterologischen, biologischen und rassischen ‘Jugoslawismus’» von Wissenschaftlern wie Jovan Cvijic und jugoslawisch orientierten Künstlern wie Ivan Mesˇtrovic oder Ivo Andric stellt er den «neu aufflammenden Sprachenstreit», die «wechselseitige Unkenntnis» sowie das mangelhafte Bemühen gegenüber, integrative jugoslawische Schulbücher zu entwickeln.

Souverän ist Sundhaussens Darstellung des Zweiten Weltkrieges und Tito Jugoslawiens, die das zweite Drittel dieses Teils umfasst. Breiten Raum nimmt schliesslich die Analyse der Jahre seit Titos Tod 1980 ein, die deutlich die nationalserbische Intelligenzia als Schreibtischinitiatoren und Slobodan Milosˇevic als Vollstrecker des gewaltsamen Zerfalls Jugoslawiens benennt und dennoch versöhnlich wirkt. Wiederholt weist Sundhaussen auf Parallelen zu deutschen Erfahrungen hin, wo vor dem Ersten Weltkrieg Künstler als «Einflüsterer der Politik agierten» (S. 443), oder die Bevölkerung ebenfalls überzeugt war, ihre Täter seien «Helden» und stünden zu Unrecht vor dem Kriegsverbrechertribunal (S. 447).

Sundhaussen kommt zum Schluss, es lasse sich «mit einiger Sicherheit […] sagen, dass die Geschichte Serbiens und der serbischen Gesellschaft anders verlaufen wäre, wenn sich die Eliten vor etwa hundert Jahren mehr für die Konsolidierung von Staat und Gesellschaft als für territoriale Expansion interessiert hätten. […] Serbien könnte ein hoch entwickeltes Land sein. Das Potential dazu war vorhanden. Doch es wurde einer ‘grossen Idee’ geopfert, die Serbien Ende der 1990er Jahre um ein Jahrhundert zurückwarf. Die Serben sind weder ein ‘tragisches Volk’, wie Dobrica Cosic formuliert, noch ein ‘himmlisches Volk’, sondern eine ganz ‘normale’ Gesellschaft, die von narzisstischen Priestern, Propheten und Politikern verblendet wurde (wie viele andere Gesellschaften vor ihnen)» (S. 462f.).

Neben der eindrucksvollen, fundierten und umfassenden Darstellung des Inhalts gibt es auch einige Ungereimtheiten zu vermelden. Angesichts des schönen Einbandes ist es schade, dass die 67 Abbildungen des Buches grösstenteils aus dem Internet heruntergeladen oder aus Büchern gescannt worden sind. Manche Formulierungen wirken salopp; dem Text hätte eine stellenweise Überarbeitung gut getan. So schreibt Sundhaussen von der Volksliteratur als einer «völkisch ausgestalteten Einheit» (S. 100), nennt die mündliche Überlieferung der Volksdichtung «oral history», oder spricht für 1900 von «Globalisierungsangst» (S. 182). Irritie rend sind die Anspielungen auf Huntington, etwa wenn er in der «Bergkranz»-Dichtung von Njegosˇ erstmals «konkrete Züge» des «Kampfes der Kulturen» entdeckt (S. 106), oder wenn er den Grundkonflikt der serbischen Gesellschaft als «Zusammenstoss zwischen ‘europäischer’ und ‘(alt)balkanischer’ Zivilisation» (S. 162) beschreibt – selbst wenn er das tut, um sich vom nationalserbischen Historiker Dusˇan Batakovic und seiner Behauptung abzugrenzen, die Serben hätten im Osmanischen Reich einen «jahrhundertelangen ‘Kampf der Kulturen’» ausgefochten (S. 41). Falsch ist, dass Fürst Mihailo kinderlos war, nur seine Ehe blieb es (S. 130), König Petar (nicht Peter) Karad¯ord¯evics Vorgänger hiess Aleksandar (S. 212), und die einseitige Ernährung bezieht sich wohl auf die Wintermonate (S. 147).

Die hier aufgelisteten sowie weitere Mängel sind in einer Neuauflage problemlos zu beheben und mindern in keiner Weise die Bedeutung des Werkes. In Anlehnung an die Herausgeber seiner ebenfalls letztes Jahr erschienenen Festschrift zum 65. Geburtstag schliesse ich: Sundhaussen ist der deutsche Kenner der serbischen und jugoslawischen Geschichte. Wie er im Vorwort selber andeutet, war die Auseinandersetzung mit seinem Forschungsgegenstand nicht immer einfach. Dass er seine Meinung und Emotionen durchblicken lässt, macht seine Qualität aus: Es zeigt ihn als begeisterten Forscher und Hochschullehrer, an dem man/frau sich reiben darf. Anflüge von Bitterkeit seien ihm angesichts der Nicht-Wiederbesetzung seines Berliner Lehrstuhls verziehen.

Zitierweise:
Natasa Miskovic: Rezension zu: Holm Sundhaussen: Geschichte Serbiens. 19.–21. Jahrhundert.Wien, Böhlau, 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 3, 2008, 200 S. 369-371.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 3, 2008, 200 S. 369-371.

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