R. Dellsperger: Kurze, zuverlässige Nachricht von der Brüder-Unität

Cover
Titel
Kurze, zuverlässige Nachricht von der Brüder-Unität. das Zeremonienbüchlein (1757) von David Cranz


Herausgeber
Dellsperger, Rudolf
Reihe
Unitas fratrum 23
Erschienen
Herrnhut 2014: Herrnhuter Verlag
Anzahl Seiten
108 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hartmut Haas, Bern

In seiner feinsinnigen Art führt uns Rudolf Dellsperger, emeritierter Professor für Theologiegeschichte und Mitherausgeber der Ökumenischen Kirchengeschichte der Schweiz auf einen spannenden kirchenhistorischen Pfad tief in das 18. Jahrhundert hinein und öffnet dabei gleichzeitig den Blick für theologische und gesellschaftliche Aufgaben des 21. Jahrhunderts.

Auf gut einhundert Seiten erhalten wir zweierlei. Die «kurze, zuverlässige» Selbstdarstellung einer heute in der Schweiz exotisch anmutenden, verschwindend kleinen, den evangelischen Konfessionen zuzuzählenden Kirche, deren Geschichte aber unmittelbar zu einer der nachhaltigsten Auswirkungen des Konstanzer Konzils vor 600 Jahren führt, zum Prozess und allen Folgen um die Ermordung von Jan Hus. Mit der historischen Einbettung dieser Schrift rund um ihr Erscheinungsjahr 1757 erhalten wir ausserdem in elf übersichtlichen Abschnitten einen sehr interessanten Zugang zu Akteuren und Ereignissen, die uns durch das Kirchengeschehen in das Europa des 18. Jahrhunderts führen.

Deshalb sind beide Teile dieser Schrift, die Einleitung von Rudolf Dellsperger und die Abschrift (Peter Lauber) der Kurzen, zuverlässige Nachricht für alle mit grossem Gewinn zu lesen, die sich mit innerkonfessionellen Fragen beschäftigen, sich der Ökumene der Kirchen verpflichtet wissen und an den Themen des interreligiösen Dialogs arbeiten.

In seiner Einleitung geht Rudolf Dellsperger der Entstehungsgeschichte der Kurzen, zuverlässigen Nachricht, dem Zeremonienbüchlein auf den Grund. Die Verfasserschaft von David Cranz bestreitet er nicht, stellt dessen Beitrag eher als den eines Redakteurs dar, der zusammenführt, was viele andere mitverfasst haben. Als Erscheinungsjahr firmiert das Jahr 1757, es erinnert an einen 300jährigen Geburtstag. So heisst es im Vorwort: «es gereichte zu einem Vergnügen, dass dieses Werk bis in dieses 1757te Jahr verzögert worden, weil die meisten Geschichtsschreiber den Anfang (der Brüder-Kirche) in das Jahr 1457 setzen, da die echten Nachfolger des Böhmischen Märtyrers, Johann Huss sich von den ausgearteten Hussiten, den Calixtinern und Taboriten, gänzlich abgesondert hatten eine eigene Verfassung (Kirche) worden sind.»

Der Erscheinungsweg dieser Schrift über eine bereits 300jährige böhmisch-mährische Kirche, die in der sächsischen Oberlausitz mit der Gründung des Ortes Herrnhut neue Wurzeln fassen konnte und Ableger in der Schweiz bildete, führt nach Zürich. Der eigentliche Herausgeber ist in einem Kryptogramm der Schrift versteckt. Gemeint ist Johann Caspar Ulrich, der im Jahr 1745 Pfarrer am Zürcher Fraumünster wurde. In Berlin hatte er David Ernst Jablonsky kennen gelernt, den Enkel von Johann Amos Comenius (1592–1670) des letzten Bischofs der «alten» Brüder-Unität, der bei der Einsetzung eines gültigen Bischofs der «erneuerten» Brüder-Unität mit Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760) eine wichtige Rolle spielen sollte. Ulrich, der reformierte Pfarrer am Fraumünster, war ein Freund dieser «erneuerten» Brüder-Unität und darüber hinaus ein Kenner und Liebhaber des Judentums und der Juden, der eine schweizerische Judenchronik erstellte und mit Rabbinern seiner Zeit regen Austausch pflegte.

Überrascht schon diese Herausgeberschaft, so überraschen die verlegerischen Absichten noch mehr, die hinter der Entstehung des Zeremonienbüchleins stecken. Rudolf Dellsperger macht auf eine leicht zu überlesende Anmerkung aufmerksam, die zur Abfassung unserer Schrift führt. Sie entstand «bey Gelegenheit des berühmten Herrlibergschen Ceremonien-Werks» zur «Completierung» desselben.

Dazu sollte man sich die im Heft abgedruckte Grafik, den Frontispiz des von David Herrliberger (1697–1777), dem «bedeutendsten Zürcher Grafik-Verlegers des 18. Jahrhunderts» geschaffenen Zeremonienwerkes genau anschauen. Männer und Frauen aller nur denkbaren Kulturen und Religionen sind da über einen Marktplatz hinaus versammelt und stellen bis an den Horizont mit Büchern, Zeichen und Handlungen – in friedlichem Eifer, so scheint es – ihre Sicht auf Gott, Gottesdienst und die Welt dar. Zur Komplettierung dieser atemraubenden Vielfalt war also das Herrnhuter Zeremonienbüchlein bestimmt, es sollte Teil dieser umfassenden Schau auf das religiöse Leben der Schweiz und der Menschheit werden.

Warum es letztlich nicht dazu kam, dass die Kurze, zuverlässige Nachricht in diesem Herrlibergerschen Werk erschien, darüber kann Rudolf Dellsperger nur spekulieren, aber eine seiner Vermutungen führen ganz tief hinein in die Grundfragen der interreligiösen Begegnung und des Dialogs zwischen Konfessionen und Religionen heute. Will man nämlich in den Begegnungen mehr erreichen, als «über die anderen» Bescheid zu wissen, dann kommt man nicht darum herum, das sich selbst angeeignete Wissen, auch das mit wissenschaftlichem Anspruch erarbeitete Fachwissen, zu einem wesentlichen Teil auf die Seite zu legen. Denn es geht dann darum, den Menschen zuzuhören, die innerhalb ihrer Konfession und Religion, aber auch innerhalb ihrer Kultur und Tradition selbst bestimmt ihre Weltsicht leben und diese ebenso selbstbestimmt dargestellt haben möchten.

Für die authentische Darstellung der Herrnhuter Kirche und ihrer «Zeremonien» nahm man jedenfalls das Sonderweg der Herausgabe in Basel um 1757 in Kauf. Zur «Komplettierung» der Sicht auf die Konfessions- und Religionslandschaft lohnt sich die Beschäftigung mit dieser Schrift auch heute.

Der Vorbericht lässt erkennen, dass die Sachlichkeit dem Zorn abgerungen ist. Die junge Herrnhuter Bewegung mit den Mährischen Kirchenleuten und ihrer Gallionsfigur Nikolaus von Zinzendorf hatte für frischen Wind in der Konfessionslandschaft des 18. Jahrhunderts gesorgt, der nicht überall gut ankam. So heisst es dort: «Dass man den Brüdern so viel Schuld gegeben, rührt teils aus Unwissenheit her und nach der bekannten Begierde, sich mit Zeitungen am liebsten ärgerlichen, verhassten Dingen, etwas von ihnen (hat) wissen, urteilen und erzählen wollen.»

Dann geht es mit 47 kurzen Paragraphen auf ihren Ursprung in der Hussitischen Reformation mit dem Postulat des Macht-, Gewalt- und Kriegsdienstverzichts zurück, führt zu reformatorischen Bewegungen wie denen der Waldenser, sucht die Verbindung zur den orientalischen und orthodoxen Kirchen, verbindet sich mit der Lutherischen, Reformierten und Anglikanischen Kirche und bekennt sich zur «einzigen Richtschnur» des Glaubens, zur Bibel. Die Augsburger Konfession und der Berner Synodus finden dabei wertschätzende Anerkennung.

Die innere Organisation der Kirche, ihr Amts- und Sakramentsverständnis mag aus unserer Sicht vielleicht nur für Spezialisten von besonderem Interesse sein. Der Blick auf die Abbildungen der Kupfertafeln lohnt aber allemal. Denn sie zeigen eine «Brüder»-Kirche, die in einer «Schwester»-Kirche ihre Entsprechung findet. Fast auf jeder Tafel ist der Anzahl der abgebildeten Männer eine gleiche Anzahl von Frauen zugeordnet. So steht das Wort «Brüder» als Synonym für Gleichheit aller Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht oder ihrem Stand.

Zwei Abschnitte verdienen besondere Aufmerksamkeit. In Paragraph 10 wird erklärt, was mit dem Begriff der «Unität» gemeint ist. Er steht natürlich für die Idee der Gemeinde, die sich mit dem Stifter ihrer Gemeinschaft, mit dem Heiland, verbindet. «Brüder des Gesetzes Christi» wollten sie sein, solche, die sich insbesondere an die Gebote der Bergpredigt halten. Andererseits setzt der Begriff der «Unität» auch eine Grenze. Wir sind nur ein Element, ein Teil eines grösseren Ganzen. Aus der grossen Torte sind wir höchstens ein Stück. Wir wollen in Union mit allen (damals: evangelischen) Konfessionen der Kirche Jesu leben. Damit ist die bis heute nicht voll eingelöste, grosse Aufgabe der Ökumene beschrieben: «Keine Konfession hat die Sache Gottes ganz. Allezeit gilt einer anderen Religion (Konfession) Einsicht, Gnade und das Beste von ihr zur Hilfe zu nehmen, wenn man ein Ganzes haben will.» (N.L. von Zinzendorf). Womit wir wieder beim Gedanken der Komplettierung wären.

Bleibt noch der Abschnitt 11 des Zeremonienbüchleins mit der Frage, wie man «göttliche Wahrheit» begreifen kann. Man kann es offenbar auf unterschiedliche Weise, als Reformierte und Katholik, als Lutheranerin und Orthodoxe, als Herrnhuterin und Methodist. Weil die Menschen unterschiedlich sind, weil sie unter unterschiedlichen Bedingungen zu leben haben, weil ihre Bedürfnisse nie gleich sind, hat sich der Schöpfer zu seiner Schöpfung auch die Vielfalt der Konfessionen einfallen lassen. Die Idee der Tropi, in der die Konfessionen gleichberechtigt nebeneinander gestellt sind, begründet die Herrnhuter Ökumene. Nie soll es unter Christen darum gehen, die Schäflein der anderen ins eigene Lager zu ziehen, immer soll es um unsere gemeinsame Anstrengung gehen, mit den zugeteilten Gaben Gottes so umzugehen, dass sie zum Wohle aller dienen.

Womit wir bei der überraschenden Pointe der historischen Einordnung des Herrnhuter Zeremonienbüchleins und seine Entstehungsgeschichte um das Herrlibergersche Werk angelangen. In seinem Ausblick führt uns Rudolf Dellsperger zum Europaplatz nach Bern, wo im Rahmen einer grösseren Überbauung auch das Haus der Religionen entsteht. Der Grundstein ist gelegt. Jetzt geschieht der Innenausbau von Hindutempel, Moschee, Dergah (Aleviten), dem buddhistischen Zentrum und der Kirche (in der sich orientalische und europäische, reformierte und katholische Christen engagieren). Dazu kommen die Räume für Dialog, Bildung und Kultur, an denen sich die jüdische Gemeinde, die Baha’i und die Sikh beteiligen. Die Eröffnung im Dezember 2014 wird darum tatsächlich eine Komplettierung der Herrlibergerschen Religionslandschaft, der Tropi-Idee des Zeremonienbüchleins und der hilfreichen Darstellung von Rudolf Dellsperger, die aus der Vergangenheit über die Fragen von heute in die Zukunft führen.

Zitierweise:
Hartmut Haas: Rezension zu: Kurze, zuverlässige Nachricht von der Brüder-Unität: Das Zeremonienbüchlein (1757) von David Cranz, eingeleitet und neu hg. von Rudolf Dellsperger (= Unitas fratrum 23), Herrnhut, Herrnhuter Verlag, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 552-554.

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