S. Freddi: St. Ursus in Solothurn

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Titel
St. Ursus in Solothurn. Vom königlichen Chorherrenstift zum Stadtstift (870–1527)


Autor(en)
Freddi, Silvan
Reihe
Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft 2
Erschienen
Köln 2014: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
788 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Kathrin Utz Tremp, Staatsarchiv Freiburg

Die vorliegende umfangreiche Arbeit ist ein Nachzügler einer ganzen Reihe von Dissertationen bei Prof. Ludwig Schmugge (Universität Zürich), die den schweizerischen Stiften gewidmet sind, angefangen mit Andreas Meyers Arbeit über das Zürcher Gross- und Fraumünsterstift (1986) und fortgefahren mit den Arbeiten von Eva Desarzens-Wunderlin über das Stift Rheinfelden (1989), Christian Hesse über das Stift Zofingen (1992) und schliesslich Béatrice Wiggenhauser über das Stift Embrach (1997). Die vorliegende Dissertation wurde 1996 begonnen und erst jetzt fertiggestellt, nachdem der Verfasser schon geraume Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Staatsarchiv Solothurn tätig ist, was seiner Arbeit ohne Zweifel zu gute gekommen ist. Man verzeiht ihm denn auch ohne weiteres, dass er im Grund nur die halbe Geschichte des Ursusstifts erzählt, denn dieses wurde erst 1874 aufgehoben. Das Besondere am mittelalterlichen St. Ursusstift ist, dass es sich von einem königlichen Chorherrenstift zu einem eidgenössischen Stadtstift entwickelte, ein Begriff, der 1982 von Prof. Guy P. Marchal (Universität Luzern) geprägt worden ist. Dabei fällt dem Verfasser der Umgang mit dem spätmittelalterlichen Stadtstift deutlich leichter als mit dem früh- und hochmittelalterlichen Chorherrenstift. Ein erster Propst, Nantelmus von Rougemont, wird 1177 genannt. Im Jahr 1208 stritten Propst und Kapitel sich wahrscheinlich um die Aufteilung der gemeinsamen Güter, und zehn Jahre spä-ter, mit dem Aussterben der Zähringer, wurde Solothurn reichsunmittelbar, aber angeblich erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts Reichsstadt (58), was man nicht ohne weiteres versteht. Die ersten Statuten des Stifts stammen aus dem Jahr 1327 und wurden im Jahr 1424 unter Propst Felix Hemmerli überarbeitet; Anfang des 16. Jahrhunderts setzen dann die Stiftsmanuale ein. Leider geht der Autor nicht im Gesamten auf diese Statuten ein, sondern befragt sie im Folgenden daraufhin, was sie zur inneren Organisation des Stifts (Kapitel, Chorherren, Wartner, Kapläne, das Amt des Propst und die übrigen Stiftsämter) hergeben. Das Ursenstift kannte, wahrscheinlich aus wirtschaftlichen Gründen, nie mehr als eine Dignität, diejenige des Propsts, und brachte es auch nie mehr auf mehr als zwölf Kanonikate (wobei der Verfasser irrt, wenn er, S. 66, meint, dass bernische Vinzenzstift hätte 24 Kanonikate umfasst; diese Zahl war zwar vorgesehen, konnte aber nie realisiert werden). Recht breiter Raum wird auch den Kaplänen gewidmet, wobei man nicht recht versteht, warum die Würde des Propsts erst nach den Kaplänen besprochen wird. Die Stiftsämter (Scholastikus, Kustos, Keller, Kamerarius, Leutpriester, Frühmesser, Sakristan, Schulmeister, Spitalpfleger), die auch mit Laien besetzt werden konnten, unterliefen im Spätmittelalter zweimal eine Veränderung: an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert wurden sie gewissermassen laiisiert und an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert gewissermassen «liturgisiert», d.h. man versuchte, mit Unterstützung der Inhaber dieser Ämter insbesondere an Sonn- und Feiertagen eine prächtigen Gottesdienst zu «produzieren».

Das eigentliche Gewicht der Arbeit liegt indessen auf der Art und Weise, wie man zu einer Pfründe des Ursusstifts gelangen konnte, ob durch ordentliche Kollatur, d.h. durch Kooptation durch das Kapitel, oder durch das päpstliche Provisionenwesen. Dabei war das letztere in Solothurn wahrscheinlich gar nicht sehr erfolgreich, denn von 209 zwischen 1177 und 1527 nachgewiesenen Chorherren verdanken nur gerade 24 (ein Zehntel) ihre Pfründe einer päpstlichen Provision, und dies obwohl die päpstlichen Rechte an den ungeraden Monaten erst 1512 an Solothurn übergingen, also dreissig Jahre später als in anderen eidgenössischen Stadtstaaten. Dies führt zu einem wichtigen Kapitel über die Beziehungen zwischen dem Stift und der Stadt Solothurn, die vor allem in den Anfängen im 13. Jahrhundert recht konfliktreich waren, konnten sich doch beide, Stift und Stadt, in gewisser Weise als reichsunmittelbar verstehen. Die Kastvogtei, die seit 1218 in den Händen der Grafen von Buchegg gelegen hatte, ging noch vor 1362 an die Stadt über. Damit war es auf die Länge um das privilegium immunitatis des Stifts geschehen. Eine wichtige Rolle als Wendepunkt spielt die Solothurner Mordnacht von 1382, die der Autor mehrmals erwähnt, jedoch ohne zu sagen, was damals eigentlich geschehen ist. Nichtsdestoweniger konnte sich am Klosterplatz doch bis zum 16. Jahrhundert ein eigentlicher Stiftsbezirk entwickeln, den der Verfasser indessen nicht mit demjenigen von Beromünster vergleichen will. Es ist möglich, dass die einzelnen Chorherren zwar nicht ins solothurnische Bürgerrecht aufgenommen wurden, wohl aber das Stift als Gesamtes (um die Mitte des 15. Jahrhunderts). Ein Konfliktpunkt zwischen Stadt und Stift ergab sich auch immer wieder daraus, dass das Amt des Leutpriesters demjenigen des Propsts untergeordnet war und die Stadt im 15. Jahrhundert mehr oder weniger vergeblich versuchte, Hand darauf zu legen. Auch bei der Stiftsschule und beim Stiftsspital kam es zu Doppelspurigkeiten, weil es der Stadt nicht gelang, die Schule und das Spital unter ihren Einfluss zu bringen.

Was die geografische und soziale Her-kunft der Stiftsgeistlichkeit betrifft, so gliedert der Verfasser die Stiftszeit in drei Epochen: 1218–1360, 1361–1512 und 1512–1527, wobei für die letzte Epoche höchstens Tendenzen auszumachen sind. Für die erste Periode stammen von 84 Chorherren 56 (67%) aus dem ehemaligen Rektorat Burgund, davon 16 aus der Stadt Solothurn selber. Von den 84 Chorherren wurde der überwiegende Teil vom Kapitel aufgenommen und verdankten nur sechs ihre Pfründe einem ausserordentlichen Kollator (vier päpstliche Exspektativen und zwei königliche Erste Bitten). Was die ständische Herkunft betrifft, so war das Ursusstift ein gemischständisches Stift, doch dominierte vorerst der Adel, insbesondere der Ministerialenadel der Grafen von Kyburg und deren Erben, der Grafen von Neu-Kyburg und Habsburg. Für die Periode von 1361–1512 sind 94 Chorherren bekannt, von denen 69 (73%) aus dem ehemaligen Rektorat Burgund stammten. Von diesen 69 kamen 41 (44%) aus der Stadt Solothurn selber, was gegenüber der vorangehenden Periode mehr als eine Verdoppelung bedeutet. Drei Viertel der 94 Kapitularen gehörten der städtischen Oberschicht und dem Bürgertum an, und nicht einmal mehr ein Zehntel (8 Chorherren) stammte aus dem ländlichen Ritter- oder Hochadel. Recht prominent war auch die Berner Führungsschicht vertreten (Vertreter der Familien von Bubenberg, von Erlach und von Diesbach). Es lässt sich also eine zunehmende «Solothurnisierung» des Stiftskapitels feststellen (250), und auswärtige Bewerber hatten entsprechend weniger Chancen. Allerdings gelang es diesen Solothurnern nicht, auch das Propstamt zu übernehmen, denn laut denn Bestimmungen des Wiener Konkordats von 1448 blieb die Besetzung der höchsten Dignität an den Stiftskirchen dem Papst vorbehalten. Abgesehen davon kam dem päpstlichen Provisionenwesen beim Streben nach einem Solothurner Kanonikat praktisch keine Bedeutung mehr zu. In den meisten Fällen bildete das Solothurner Kanonikat auch den Höhepunkt und Schlusspunkt einer geistlichen Karriere. Dies gilt sowohl für die Periode von 1218–1360 wie auch für diejenige von 1361–1512. Das Ursusstift kannte bis 1507 auch keine Bestimmungen gegen illegitim geborene Kleriker. Die Stadt selber zog einigen Nutzen aus der nicht selten universitären Bildung, welche die Chorherren mitbrachten. Von den 209 für den Zeitraum zwischen 1177 und 1527 nachweisbaren Chorherren hatten 72 (34%) eine Universität besucht oder einen akademischen Titel erworben. Seit der Gründung der Universität Basel im Jahr 1460 nahm diese Bildungsquote sogar auf 75% zu. Die Stadt nahm denn auch gern die diplomatischen Dienste in Anspruch, welche die gebildeten Chorherren leisten konnten.

Die ganze Arbeit beruht auf 421 Biogrammen nicht nur der Solothurner Chorherren, sondern auch der Kapläne sowie derjenigen Männer, die sich vergeblich um ein Solothurner Kanonikat bemüht hatten. Hier sind riesige Vorarbeiten geleistet worden. Meine Einwände gegen die Anordnung diesen Riesenmaterials sind allerdings die gleichen geblieben, wie ich sie bereits 1988 gegenüber der Dissertation von Andreas Meyer über das zürcherische Frau- und Grossmünster geäussert habe (in Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 44, 677f): ich verstehe nicht, warum Chorherren, erfolglose Bewerber und Kapläne in einem Corpus untergebracht sind, und ich verstehe nicht, warum dieses nach Vornamen angeordnet ist. Dazu kommt dass man Geistliche mit einem Vornamen beginnend mit P unter B suchen muss, mit einem Vornamen beginnend mit K unter C, mit einem Vornamen beginnend mit T unter D usw. Dieser Suche weicht man besser aus, indem man sich von Anfang an im Personenverzeichnis orientiert. Sowohl die Anmerkungen des Buches als auch der Biogramme sind durchnummeriert, was beim Buch nicht weniger als 2205 und bei den Biogrammen nicht weniger als 5005 Anmerkungen ergibt, Zahlen, die man mit dem Auge nicht mehr erfassen kann, so dass man auch keine Lust hat, die entsprechende Anmerkung nachzuschlagen. Weiter werden selbst Lexikonartikel wie Monografien zitiert, was ihnen zu viel Gewicht verleiht und die Bibliografie auf 38 Seiten (714–752) anschwellen lässt. Sonst aber liest man das Buch mit viel Gewinn und wird die Biogramme inskünftig mit ebenso viel Gewinn benützen.

Zitierweise:
Kathrin Utz Tremp: Rezension zu: Silvan Freddi, St. Ursus in Solothurn. Vom königlichen Chorherrenstift zum Stadtstift (870–1527) (=Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft 2), Köln/Wiemar/Wien, Böhlau, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 543-545.

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