L. Charrier u.a. (Hrsg.): La Suisse entre consensus et conflits

Cover
Titel
La Suisse, entre consensus et conflits:. enjeux et représentations


Herausgeber
Charrier, Landry; Gomez, Anne-Sophie; Platelle, Fanny
Erschienen
Reims 2016: EPURE - Editions et presses universitaires de Reims
Anzahl Seiten
274 S.
Preis
€ 20,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hans Ulrich Jost, Universität Lausanne

Der Titel des Sammelbands – die Schweiz zwischen Konsens und Konflikt – gilt gewissermassen als Leitlinie der 14 Beiträge, die politische und literarische Aspekte des intellektuellen Lebens in der Schweiz aufgreifen. Sie beruhen auf einer im Jahr 2015 in Clermont-Ferrand durchgeführten Studientagung, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Frankreich, Italien, Polen und der Schweiz zusammengeführt hatte. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs dient vielen Beiträgen als Referenzpunkt. Dies ist durchaus sinnvoll, denn in der Tat beruhte ein Teil der öffentlichen, von Intellektuellen geprägten Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit auf Fragen und Interpretationen, die sich auf die Haltung der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs beziehen. Dabei ging es insbesondere um die Verarbeitung der von Mythen durchzogenen Geschichte dieser Zeit. Darüber hinaus werden auch spezifische Probleme der Nachkriegszeit behandelt, etwa die Fremdenfeindlichkeit gegenüber den im Ausland rekrutierten Arbeiterinnen und Arbeitern.

Das einleitende, von Landry Charrier, Anne-Sophie Gomez und Fanny Platelle verfasste Kapitel erläutert die wichtigsten Elemente des politischen Systems der Schweiz, wobei insbesondere die Problematik der Konsens- und Konfliktregulierung im Vordergrund steht. Dabei kommen sowohl die Volksrechte, die mythisch verklärte Neutralität und der „Arbeitsfriede“, das heißt die auf Verhandlung beruhende Beziehung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen, zur Sprache. In dieser Einführung wird die These entwickelt, dass die literarische und künstlerische Kreativität vom Spannungsverhältnis profitiere, das sich zwischen einem isolationistischen Diskurs der Politik und dem Alltag einer multikulturellen und mehrsprachigen Gesellschaft eingestellt habe. Damit wird angedeutet, dass die Konflikte zwischen Schriftstellern und der politischen Schweiz sowie die von der Literatur behandelten gesellschaftlichen Spannungen sich gewissermassen im Rahmen eines allgemeinen Musters von Konflikt und Konsens erklären lassen.

Dem Untertitel entsprechend ist der erste Teil des Buchs den historischen, politischen und soziolinguistischen Konsensfragen gewidmet. Im ersten Beitrag beschreibt Landry Charrier die Aktivitäten von Minister Walter Stucki in Vichy (1940–1944). Minister Stucki war ein eigenwilliger und äusserst ehrgeiziger Spitzenbeamter, der in der Zwischenkriegszeit die Eidgenössische Handelsabteilung leitete, bevor er 1937 als Minister in Paris, und später in Vichy, die Schweiz repräsentierte. Er stand Marschall Petain nahe und vermittelte 1944 beim Abzug der Deutschen eine friedliche Übergabe der Stadt Vichy. Ob Walter Stucki typische Eigenheiten der schweizerischen Politik und Verwaltung repräsentiert, ist allerdings eine offene Frage. Landry Charrier tritt denn auch nicht näher auf diese Frage ein, sondern beschreibt in erster Linie, welchen Eindruck der Schweizer Minister in Frankreich hinterliess.

Die unterschiedlichen Einschätzungen der Stellung der Schweiz in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und deren ambivalente Neutralitätspolitik stellt Thomas Nicklas anhand der Kommentare und Schriften von zwei Intellektuellen, Jean Rudolf von Salis (1901–1996) und Herbert Lüthy (1918–2002), dar. Während von Salis, vom Bundesrat für einen wöchentlichen Radiokommentar zum Weltgeschehen verpflichtet, zu einer Art offiziösen Stimme der neutralen Schweiz heranwuchs und daneben die bundesrätliche Politik der Schweiz wohlwollend mittrug, profilierte sich Herbert Lüthy immer mehr als Kritiker der offiziellen Politik der Schweiz – und kommentierte in diesem Sinne auch von Salis. Lüthy pflegte denn auch in seinen Kommentaren zum Krieg und dem Geschehen im Ausland eine kritischere Sprache, als dies bei von Salis’ Radiokommentaren der Fall war. Die beiden Protagonisten, beide Historiker, spielten später auch in den Debatten über die Haltung der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs eine nicht unwesentliche Rolle.

Die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgte formelle Integration der Sozialdemokratischen Partei ins bürgerliche politische System brachte eine bedeutende Neuorientierung der schweizerischen Innenpolitik. Der entscheidende Schritt erfolgte Ende 1943 mit der Wahl des ersten Sozialdemokraten in den Bundesrat. Die bürgerliche Mehrheit hatte sich zu diesem Vorgehen entschlossen, um soziale Auseinandersetzungen, ähnlich wie jene am Ende des Ersten Weltkriegs, zu vermeiden. Diese Modifizierung des politischen Kräfteverhältnisses verlangte aber von den nun in die Regierungsverantwortung eingebundenen Sozialdemokraten eine scharfe Abgrenzung von der sich neu belebenden Kommunistischen Partei. Dieser Integrationsprozess steht im Zentrum von Hadrien Buclins Beitrag. Er versucht dabei insbesondre die weitreichende Anpassung der Sozialdemokraten an die bürgerliche Politik und Ideologie aufzuzeigen.

Die folgenden drei Beiträge betreffen breitere gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit. Dass dabei ein Blick auf die kritischen Kommentare zur Schweiz von Max Frisch – im Beitrag von Régine Battiston – voransteht, ist beinahe unvermeidlich. Die Autorin stützt sich weitgehend auf Frischs gesammelte Werke und benutzt die Sekundärliteratur nur am Rande. Es gelingt Régine Battison recht gut, den aus der Doppelrolle von Max Frisch – der politischen und der schriftstellerischen – herauswachsende Konflikt mit den etablierten politischen Repräsentanten zu illustrieren.

Agate Pogorzelska-Kliks geht in ihrem Beitrag den fremdenfeindlichen, gegen die ausländischen Arbeitskräfte gerichteten Bewegungen nach. Man hätte hier, um den Bezug zu Frischs kritischem Engagement herzustellen, auf dessen berühmten, 1965 formulierten Satz verweisen können: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen.“ 1 Der Beitrag besteht in erster Linie aus einer gut dokumentierten Übersicht über die schweizerische Migrationspolitik der Zeit von 1960 bis 2015. Dass in der Schlussfolgerung diese Politik als Modell für die Europäische Union vorgeschlagen wird, mutet jedoch ein wenig seltsam an.

Christophe Dumas beschreibt den Aufstieg der rechtsnationalen Schweizerischen Volkspartei (SVP), die unter der Führung des Unternehmers und Milliardärs Christoph Blocher die Fremdenfeindlichkeit als permanente politische Propaganda einsetzt – ein Aspekt, dem Christoph Dumas allerdings wenig Beachtung schenkt. Im Vordergrund seiner Untersuchung stehen die politische Biographie Blochers und die Entwicklung der SVP. Es gelingt Dumas dennoch nicht, die durch eine masslose Polemik und eine hetzerische Propaganda der SVP provozierte Polarisierung der schweizerischen Politik deutlich sichtbar zu machen.

Inwiefern sich die helvetischen Dissonanzen im Bereich der Literatur äusserten, ist Thema des zweiten Teils. Angela Alaimo, Maurette Fournier und Marina Marengo untersuchen, wie sich die Erfahrungen der italienischen Immigrantinnen und Immigranten in deren Erinnerungen spiegeln. Interessant sind dabei die Faktoren, die trotz der vorherrschenden und oft brutalen Xenophobie eine Integration zu befördern vermochten. Zahlreiche Zitate illustrieren das schwierige Leben der Italiener und Italienerinnen in der Schweiz eindrücklich.

Anne-Marie Gresser geht anhand der Biographie und der Schriften von Martin R. Dean dem vielfältigen Problem der Fremdheit im eigenen Land nach. Dean, Schweizer mit ausländischen Wurzeln, erfährt einerseits in seiner helvetischen Lebenswelt Ausgrenzungen, setzt sich selber aber auch bewusst mit seiner Verbundenheit zu Paris von der Schweiz ab. Er wählt schliesslich, so Anne-Marie Gresser, ein paradoxes Anderssein und versteht die daraus resultierende Verfremdung als fruchtbare Inspiration für seine schriftstellerischen Arbeiten.

Die Stellung der Frauen in der schweizerischen Gesellschaft stellt Hélène Barthelmebs-Raguin mit einer Analyse der Texte von drei Schriftstellerinnen der französischen Schweiz dar. Werk und Leben von Anne-Lise Grobéty, Alice Rivaz und Yvette Z’Graggen eignen sich tatsächlich sehr gut, um die gesellschaftliche Diskriminierung der Frauen in der Schweiz zu illustrieren.

Konflikt und Konsens in den Familienromanen ist Thema des Beitrags von Sylvie Jeanneret und Ralph Müller. Sie vermischen dabei die spezifischen Familienprobleme mit der an den Zweiten Weltkrieg gekoppelten Erinnerungskultur und kommen zur Schlussfolgerung, dass durch die Verknüpfung intergenerationeller Probleme mit den Schwierigkeiten bei der Vermittlung traditioneller Werte eine familiäre Konfliktsituation sich recht eigentlich aufbaut. Die Familie illustriere dabei, so eine zentrale These, sinnbildlich das Paradigma Konflikt-Konsens.

Der sich aus Marcel Raymond, Albert Béguin und Jean Starobinski zusammensetzende Genfer Kreis von Literaturkritikern steht im Zentrum des Beitrags von Marta Sábado Novau. Fokussiert wird dabei auf deren doppelte, sowohl nach Frankreich und Deutschland gerichtete Orientierung, die sich aus ihren individuellen Erfahrungen während der Zwischenkriegszeit ergeben hatte. Die drei Kritiker seien, so Marta Sábado Novau, durch die deutsche „Irrationalität“ von den akademischen Dogmen Frankreichs befreit worden.

Der letzte, in Deutsch abgefasste Beitrag von Rosmarie Zeller ist dem Deutschschweizer Dialekt und dessen Präsenz in der Literatur gewidmet. Er illustriert anschaulich und mittels treffender Beispiele die Probleme, die sich bei der schriftlichen Wiedergabe der modernen mündlichen Dialektsprache ergeben. Dieser Beitrag hat jedoch mit den in diesem Sammelband angesprochenen Fragen zu Konflikt und Konsens, zur historischen Bewältigung der Zeit des Zweiten Weltkriegs oder zur Fremdarbeiterfrage wenig zu tun.

Unser Überblick zeigt die – bei einer Publikation von Kolloquiumsbeiträgen beinahe unvermeidliche – thematische Heterogenität. Der Titel des Buches kann so nicht überzeugend auf einen Punkt gebracht werden. Die Beiträge öffnen jedoch Zugänge zu Themen, die in der Geschichte und der Literatur der Schweiz – und ebenfalls in den aktuellen politischen Debatten – eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Mit diesen Darstellungen ist aber die eingangs gestellte Frage, inwiefern die Konflikt-Konsens-Problematik auch die in diesem Band angesprochenen Themen bestimmt, nicht eigentlich beantwortet worden.

Anmerkung:
1 Erster Satz des Artikels „Überfremdung I“, in: Max Frisch, Forderungen des Tages. Porträts, Skizzen, Reden 1943–1982, Berlin 1983, S. 188. – „Überfremdung I“ erschien 1965 als Vorwort zu Alexander J. Seiler, Siamo italiani/Die Italiener, Zürich 1965.

Redaktion
Veröffentlicht am
10.02.2017
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
Weitere Informationen