F. J. Coppa: Pius XII.

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Titel
The Policies and Politics of Pope Pius XII. Between Diplomacy and Morality


Autor(en)
Coppa, Frank J.
Erschienen
New Yotk 2011: Peter Lang Publishing/New York
Anzahl Seiten
213 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Kösters, Kommission für Zeitgeschichte

Der Pontifikat Papst Pius XII. zählt zu den umstrittensten in der neueren Kirchengeschichte. Der Streit über sein «Schweigen» zum Holocaust – 1963 von Rolf Hochhuth dramatisch und geschichtspolitisch höchst wirksam in einem so genannten «Trauerspiel» in Szene gesetzt – dauert nun schon mehr als doppelt so lange an wie die mit mehr als 19 Jahren nicht gerade kurze Amtszeit des Papstes von 1939 bis 1958. Drei Generationen von (Kirchen-)Historikern haben bis heute in einer Fülle von Editionen, Fachbüchern und Aufsätzen be- bzw. entlastende Quellenzeugnisse und Argumente zu dieser Kontroverse zusammengetragen. Der Pulverdampf der «Pius Wars», wie sie in Coppas Buch genannt werden, hat sich verzogen. Inzwischen sind die Grabenkämpfe selbst zum Gegenstand historischen Forschens geworden. Gleichzeitig sind die Debatten früherer Jahre aus zwei Gründen in ein neues Stadium getreten: dem im Vatikan vorangetriebenen Seligsprechungsprozess für Papst Pius XII. und der damit einhergehenden vorzeitigen Öffnung neuer vatikanischer Aktenbestände des Pontifikats von Papst Pius XI. (1922– 1939). Diese seit 2003/2006 uneingeschränkt zugänglichen Quellen sind deshalb besonders aufschlussreich, weil Pius XII. unter seinem Vorgänger in kirchlichen Schlüsselpositionen als Nuntius in Deutschland (1917–1930) und als Kardinalstaatssekretär (1930–1939) die vatikanische Kirchenpolitik an maßgeblicher Stelle mitgestaltet und mitverantwortet hat. Lassen sich aus diesen Quellen entscheidende Handlungsmuster und -strategien (policies) herleiten, die für das politische Handeln (politics) des Pacelli-Papstes seit 1939 massgebend waren? Und: Lässt sich auf diesem Wege das in den «Pius Wars» so umstrittene «Schweigen» des Papstes erklären?

Coppa beantwortet die umstrittenen Fragen mit der These eines zunehmenden Dissenses zwischen dem Papst und seinen Kardinalstaatssekretären: Pius XI. sei in seinem entschieden vorwärts drängenden Kampf gegen den Antisemitismus immer wieder von seinen diplomatisch ambitionierten Mitarbeitern – zunächst Kardinalstaatssekretär Gasparri (bis 1930), dann dessen Nachfolger Pacelli (bis 1939) – (aus-)gebremst worden; dies habe schliesslich 1938 ein vorbereitetes, weltweites und eindeutiges Bekenntnis der Kirche zur «Einheit des Menschengeschlechtes » verhindert und seit 1939 mit Pacellis Nachfolge auf den Stuhl Petri den offenen Konfrontationskurs seines Vorgängers durch strikte «Unparteilichkeit» und «Schweigen» ersetzt.

In einer kurzen Einführung in die «Pius Wars» (I., 1–16), skizziert Coppa zunächst die Auswirkungen, welche die veränderte Quellensituation nicht zuletzt auch auf seine eigenen Forschungen gehabt hat. Es folgen neun weitere Kapitel: über den Aufstieg Pacellis an der römischen Kurie (II., 17–37), die diplomatischen Stationen als Nuntius in München und Berlin (III., 38–56), die Wurzeln seiner Politik der «Unparteilichkeit» und des «Schweigens» (IV., 57–76) und die von Pacelli vor allem in Deutschland und Italien betriebene Konkordatspolitik des Heiligen Stuhls (V., 77–94); sodann über die gegensätzlichen Strategien, mit denen Pacelli und Pius XI. auf die nationalsozialistische Kirchen- und Rassenpolitik reagierten (VI., 95– 111), die «Appeasement»politik des Pacelli-Papstes 1939/40 (VII., 112–130) und über das umstrittene «Schweigen» Pius XII. zum Holocaust (VIII., 131–148). Das Kapitel über die politische Rolle Pius XII. im «Kalten Krieg» (IX., 149–163) verweist auf einen über das Schwellenjahr 1945 hinaus wirksamen Antibolschewismus des Papstes. Coppa schließt sein Buch mit einem Ausblick auf die neu aufgeflammte Debatte über das Verhalten Pius XII.; seine eigene These versteht er als einen Beitrag zu einer noch keineswegs abgeschlossenen Kontroverse (X., 164–177).

Das neu zugängliche Quellenmaterial ermöglicht es, tiefer als bislang in die internen Prozesse der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung innerhalb der vatikanischen Kurie einzudringen. Coppa zeigt unter Verwendung von Akten des vatikanischen Staatssekretariats und der Kongregation für die außerordentlichen Angelegenheiten, wie sehr die diplomatische Karriere Pacellis nicht nur mit der Person seines Vorgängers und Förderers Gasparri verbunden war (25), sondern auch mit dessen handlungsleitender politischer Maxime: Gasparris kirchenpolitischer Kurs, der vorrangig eine – möglichst vertragliche – Sicherung kirchlicher Interessen durch überparteiliche Friedenssicherung und politische Unparteilichkeit zu erreichen suchte, wurde auch für Pacelli zur Leitlinie; die von Gasparri ausgehandelten Lateranverträge mit dem faschistischen Italien fanden ihr Pendant in der Konkordatspolitik des Nuntius Pacelli in Deutschland, die 1933 im Abschluss des Reichskonkordats gipfelte (57–68, 84f.); und ähnlich den Sympathien Gasparris für Mussolini waren Pacellis Verhandlungsziele von einer aus seiner Nuntiaturzeit herrührenden «Germanophilie» getragen (82). Diese an politischer Neutralität ausgerichtete, weil von kirchlichem Pragmatismus gekennzeichnete Interessenpolitik, die mit Sympathien für Deutschland, der Ablehnung des Bolschewismus und einem kirchlichen Antijudaismus einherging, erklärt Coppa zufolge das «Schweigen» Papst Pius XII. zum nationalsozialistischen Rasse- und Vernichtungskrieg. (120f., 125–127). Dass dies allerdings keine Tolerierung des Antisemitismus oder gar eine Billigung der nationalsozialistischen Judenverfolgung bedeutete, stellt Coppa umissverständlich klar (121).

Dieser kirchenpolitische Kurs, den Coppa vom Gasparri-«Schüler» Pacelli bis zu Papst Pius XII. aufzeigt, erscheint geradlinig, weil er – je länger desto mehr – die Absichten und Maßnahmen Papst Pius XI. (Achille Ratti) durchkreuzte. Die Indizienkette für diese antagonistische Kooperation zwischen dem Papst und seinen beiden Kardinalstaatssekretären reicht von der päpstlichen Zurückhaltung gegenüber den Verträgen mit den faschistischen Diktaturen (79–85), über den massiven Protest gegen die Vertragsverletzungen der Nationalsozialisten bis zur weltweiten Verurteilung von Nationalismus, Rassismus, Totalitarismus und Antisemitismus als Grundlagen staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens (86–90). Mit dem Tod Pius XI. und der Wahl Pacellis als seinem Nachfolger 1939 setzt sich die unparteiliche und «schweigende» Konzilianz des Pacelli-Papstes schließlich gegenüber dem grundsätzlichen Konfrontationskurs des Ratti-Papstes durch (95–107).

Wie nun sind These und Ausführungen Coppas einzuordnen? Schon Zeitgenossen wie der deutsche Jesuitenpater und persönliche Vertraute Pius XII., Robert Leiber, urteilten zu Beginn der 1960er Jahre, Pius XI. sei im Allgemeinen von einer öffentlichen Stellungnahme zu brennenden Fragen nicht leicht abzubringen gewesen, während Pius XII. nicht leicht zu einer solchen zu bewegen gewesen sei. Das historische Bild vom nur «uneigentlich sprechenden», mehr politischen als moralischen Optionen folgenden Pacelli-Papst, das Coppa im Kontrast zu dessen Vorgänger zeichnet, hat in der Tat einiges für sich.

Andererseits fehlt dem durch unnötige Wiederholungen (52/78, 54/69, 79/80, 107/114) verstärkten Schwarz-Weiss-Bild an einigen wichtigen Stellen noch die notwendige Tiefenschärfe: (1.) Antijudaistische Versatzstücke, die sich mit antiliberalen und antibolschewistischen Vorurteilen verbanden, waren nicht nur Pacelli, sondern auch Ratti zu eigen, wie seine diplomatische Mission als Visitator von 1914 bis 1921 in Polen zeigt. (2.) Während Pius XI. die Enzyklika «Divini Redemptoris» über die Verurteilung des Kommunismus selbst entwarf, fehlen vergleichbare Quellenhinweise auf seine Mitwirkung bei der Enzyklika «Mit brennender Sorge » 1937; die offensive Verurteilung des Nationalsozialismus geht wesentlich auf Pacelli zurück und nicht, wie Coppa andeutet, auf Pius XI. (96f.). (3.) Die vermeintliche «germanophile » Prägung Pacellis bezog sich weniger auf eine Sympathie für das «deutsche Wesen» als vielmehr auf Bayern, wo er acht Jahre als Nuntius erfolgreich gewirkt hatte. (4.) Schließlich ist auch Coppas Deutung nicht zwingend, die 1938 von Pius XI. – vermutlich ohne Wissen Pacellis – initiierte Vorbereitung einer lehramtlichen Verurteilung des Rassismus sei von diesem bewusst unterdrückt worden. In der deutschen Forschung, die von Coppa weitestgehend ausgeblendet wird, wird u. a. darauf hingewiesen, dass der Hauptentwurf, den der deutsche Jesuitenpater Gustav Gundlach für die Enzyklika lieferte, trotz einzelner entschiedener Sätze gegen rassischen Antisemitismus insgesamt noch vom alten Geist ambivalenter antijudaistischer Vorurteile durchzogen war – was unter den gegebenen politischen Umständen (Rassismusgesetze in Italien, Pogromnacht in Deutschland) gegen eine Veröffentlichung sprach.

Fazit: Coppas Buch belegt in aufschlussreicher Weise den Wandel, in dem sich die Forschung derzeit befindet. Die auf das «Schweigen» Pius XII. und sein Dilemma zwischen Diplomatie und Moral verengte Perspektive wird erst langsam zugunsten erweiterter historischer Kontexte und Längsschnitte durchbrochen. Es erweist sich als weiterführend, den keineswegs einhelligen Standortbestimmungen nachzugehen, die innerhalb der Kurie zu Faschismus und Nationalsozialismus vorherrschten; dazu liegt reiches Quellenmaterial bereit. Ob dies indes dazu hinreicht, auch die «alten Fragen» zu beantworten, bleibt abzuwarten. So wäre zu klären, ob die verantwortlichen Akteure im Vatikan und die verschiedenen Wege, die sie beschritten, nicht weitaus vielschichtiger waren, als dies in Coppas auf zwei Antipoden konzentrierten Darstellung den Anschein hat.

Zitierweise:
Christoph Kösters: Rezension zu: Frank J. Coppa, The Policies and Politics of Pope Pius XII. Between Diplomacy and Morality, New York u.a., Peter Lang, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 738-740.

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