B. Ziegler u.a. (Hrsg.): Die Schweiz und die Shoa

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Titel
Die Schweiz und die Shoa. Von Kontroversen zu neuen Fragen


Herausgeber
Ziegler, Béatrice; Bernhard C., Schär; Peter, Gautschi; Claudia, Schneider
Erschienen
Zürich 2012: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
173 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Antonia Schmidlin

Das Zentrum für politische Bildung und Geschichtsdidaktik der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz organisiert seit 2010 zusammen mit der Professur für die Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der gleichen pädagogischen Hochschule Anlässe, die sich mit Themen und Fragen im Kontext des Holocaustgedenktages befassen. Der vorliegende Band dokumentiert die erste wissenschaftliche Tagung der Reihe «Erinnern – Verantwortung – Zukunft», die im Januar 2011 stattfand und die in drei Sektionen aufgeteilt war.

In der ersten Sektion geht es um die «Vorstellungen von der Shoa in der Schweiz heute». Nicole Peter und Nicole Burgermeister untersuchen in ihrem Beitrag «Der Holocaust und die Schweiz» das Geschichtsbild von insgesamt 72 erwachsenen Schweizerinnen und Schweizern, die sich in Gruppendiskussionen über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg unterhielten (S. 19–28). Die Autorinnen kommen unter anderem zum Schluss, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht so sehr eine Frage des Alters, sondern der sozialen, politischen und ideologischen Identität der Gesprächsteilnehmenden war. Im nächsten Beitrag, der leider in einem schwer lesbaren Wissenschaftsjargon geschrieben ist, geht Carsten Quesel der Frage nach, «wie sich die Debatte über die Rolle der Schweiz im Kontext des Zweiten Weltkriegs auf die politische und moralische Sozialisation von Jugendlichen mit Schweizer Staatsangehörigkeit auswirkt» (S. 29–46). Er zeigt in seiner quantitativ angelegten Untersuchung, dass eine Minderheit von Jugendlichen an eine gerechte Weltordnung glaubt und daher zu «machiavellistischen und isolationistischen Positionen» tendiert, welche letztlich dazu führen, dass die Kritik an der Schweiz und ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg vehement zurückgewiesen wird. Im dritten Beitrag der ersten Sektion untersucht Miryam Eser Davolio eine in den Jahren 1997 und 1998 durchgeführte Unterrichtsintervention (S. 47–62). Ziel dieser Unterrichtsintervention zum Thema «Judenverfolgung und Holocaust» war es, antisemitisches und rassistisches Gedankengut zu verändern. In der qualitativen Auswertung der Resultate mittels Interpretation von Schüleraussagen hatte die Unterrichtsintervention Erfolg. Die quantitative Evaluation zeigt jedoch genau das Gegenteil: Die Jugendlichen, welche die Unterrichtsintervention miterlebten, weisen bei einer Nachbefragung ausgeprägtere antisemitische und holocaustverleugnende Werte auf als die Kontrollgruppe. Die Autorin erklärt sich diesen «eklatanten Bumerangeffekt» damit, dass die Begegnung mit betagten Holocaustüberlebenden keine wirkliche Nähe zu den Jugendlichen herstellen konnte; es gab sogar Jugendliche, die sich während der Erzählung eines Zeitzeugen demonstrativ gelangweilt zeigten oder gar einschliefen. In einer Klasse gelang es hingegen, das antisemitische Vorurteil signifikant abzubauen: dort war es einer der Schüler, der erstmals über seine jüdische Religionszugehörigkeit sprach, der seine Mitschüler beeindruckte. Dies zeigt, wie wichtig der Peer-Effekt beim Abbau von Vorurteilen ist.

Die zweite Sektion steht unter dem Titel «Vielfalt der Erinnerungstraditionen». Im ersten Beitrag referiert Susanne Businger den bisherigen Forschungsstand zum Thema Fluchthilfe in geschlechtergeschichtlicher Perspektive («Unbesungene Heldinnen», S. 69–83). Von grossem historiographischem Interesse ist der zweite Beitrag dieser Sektion: Zsolt Keller behandelt die schwierige Rolle des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes SIG nach 1945 (S. 85–102). An drei Fallbeispielen zeigt er, dass die schweizerischen Behörden kurz nach Kriegsende dem schweizerischen Judentum gegenüber etliche Sensibilität vermissen liessen. So wurde dem SIG eine Kirchensteuer auferlegt, gegen die der SIG erst in zweiter Instanz erfolgreich Rekurs einlegen konnte; die Zwangsnamen Israel und Sara wurden vom Steueramt Zürich zwar entfernt, es bedurfte aber einer Intervention der Pressestelle Juna des SIG. Und dass noch 1949 im Kanton Aargau ein Formular zirkulierte, das einem den Nürnberger Gesetzen folgenden «Ariernachweis » gleichkam, zeigt, dass das Wissen um die Shoa bei den schweizerischen Behörden auch nach 1945 ausgeblendet wurde. Den Abschluss der Sektion bildet ein Beitrag von Beat Hodler, der sich mit dem Theaterstück «Gsetz und Gwüsse» befasst (S. 103–128). Dieser Vierakter wurde 1941 von Mathilde Lejeune-Jehle in Mundart verfasst und kritisiert die schweizerische Flüchtlingspolitik. Beat Hodler zeigt, dass das Volkstheater der 1930er und 1940er Jahre allgemein sehr viel weniger «harmlos» war als gemeinhin angenommen. Das Stück wurde während des Kriegs mehrmals aufgeführt, fand jedoch keinen Verlag, da die zuständige Zensurstelle der Autorin empfahl, auf eine Publikation zu verzichten. Nach 1945 jedoch geriet das Stück rasch in Vergessenheit. Hodler zieht den Schluss: «Das Stück schien 1941/42 zu früh, in der Nachkriegszeit dann zu spät zu kommen.»

Die dritte Sektion unter dem Titel «Über die Sackgasse bisheriger Perspektiven hinaus» umfasst zwei Beiträge. Jan Surman ordnet die US-amerikanische Restitutionspolitik gegenüber der Schweiz in der Kriegs- und Nachkriegszeit ein (S. 133–148). Erst nach dem Mauerfall weitete sich die Restitutionsfrage von Osteuropa in Richtung Westen aus und erfasste immer mehr Staaten. Die Schweiz geriet unter Druck, wobei es nicht mehr allein um die Rückgabe geraubten Eigentums, sondern letztlich um eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichtsbildern ging. Der Eizenstat-Bericht von 1997 stellte nationale Geschichtsmythen, nicht nur in der Schweiz, in Frage. Diese Verunsicherung zwang viele Staaten zu einem neuen, «zukunftbezogenen Erinnerungsnarrativ». Surman bezeichnet das «Stockholm International Forum on the Holocaust» aus dem Jahre 2000 als «Inszenierung eines Gründungsmythos einer neuen westlichen Weltinnenpolitik».

Im letzten Beitrag befasst sich Patrick Kury mit der Rolle medizinisch-psychiatrischer Konzepte beim Umgang mit der Shoa (S. 149–160). Der Kanton Basel-Stadt wurde mehrmals mit Wiedergutmachungsgesuchen von ausgeschafften jüdischen Flüchtlingen konfrontiert. Wurden diese in den 1950er und 1960er Jahren abschlägig behandelt, so gewährte der Basler Regierungsrat 1997 dem 81-jährigen Eli Carmel eine Entschädigung und bedauerte «zutiefst die schwere körperliche und seelische Unbill, die der Betroffene erlitten hat». Der Weg zu diesem neuen Umgang mit dem seelischen Leid von Holocaust-Überlebenden wird aufgezeigt: Während sich 1945 in der Schweiz noch Militärärzte um KZÜberlebende kümmerten (aber keine Psychiater oder Psychologen), gelangten erst in den 1960er Jahren Impulse aus dem angelsächsischen Raum in die Schweiz, aufgrund derer die psychischen Folgen von Krieg und Verfolgung besser gefasst wurden. Nach dem Vietnamkrieg schliesslich lag mit der Bezeichnung «posttraumatische Belastungsstörung» ein Diagnoseraster vor, mit dem die durch den Krieg hervorgerufenen psychischen Schäden beschrieben werden konnten.

In seinen Schlussbemerkungen (S. 161–170) betont Thomas Maissen die Wichtigkeit der Shoa für die Schule. Indem Lehrpersonen die heranwachsenden Generationen auf die «Verstrickungen unserer Heimat hinweisen, im Positiven wie im Negativen», tragen sie dazu bei, dass Schweizerinnen und Schweizer die Nationalgeschichte durch eine globale Perspektive erweitern können. Gerade Lehrpersonen sollten in zukünftigen Publikationen aus der Reihe «Erinnern – Verantwortung – Zukunft» vermehrt erreicht werden. Dies würde jedoch bedeuten, dass die Autorinnen und Autorensich noch stärker darum bemühen, auch ein Publikum ausserhalb der Fachhochschule anzusprechen.

Zitierweise:
Antonia Schmidlin: Rezension zu: Béatrice Ziegler, Bernhard C. Schär, Peter Gautschi, Claudia Schneider (Hg.): Die Schweiz und die Shoa. Von Kontroversen zu neuen Fragen. Zürich, Chronos, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 514-516

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 514-516

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