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Titel
Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden


Autor(en)
Wette, Wolfram
Erschienen
Frankfurt a. M. 2011: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Heiko Haumann

Seit mehr als zwanzig Jahren geht Wolfram Wette der Geschichte Karl Jägers nach. In Waldkirch, wo Wette wohnt und auch Jäger lange gelebt hat, stiess er auf eine aggressive Abwehrfront von Teilen der Bevölkerung, die lieber einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen wollten. Wette wertete nach und nach sämtliche zugänglichen Quellen aus, führte Lehrveranstaltungen an der Freiburger Universität mit anschliessender Exkursion nach Litauen durch und publizierte immer wieder zu diesem Thema. Schliesslich wurde es zum Unterrichtsgegenstand im Waldkircher Geschwister-Scholl-Gymnasium, das 2008 auch litauische Überlebende der Vernichtungsaktion nach Waldkirch einlud. Nun hat Wette eine umfassende Darstellung vorgelegt. Die lange Forschungszeit hat sich gelohnt. Entstanden ist ein differenziertes Bild Jägers, und zugleich werden die Zusammenhänge, in denen er zu sehen ist, deutlich.

Karl Jäger wurde 1888 in Schaffhausen geboren. Drei Jahre später zog die Familie nach Waldkirch, wo der Vater als Musikschullehrer und Dirigent der Stadtmusik wirkte. Auch Karl Jäger erhielt eine gründliche musikalische Ausbildung. Später arbeitete er in verschiedenen Orgel- und Klavierfabriken. 1914 heiratete er die Tochter eines Waldkircher Unternehmers, der mechanische Musikinstrumente herstellte. Schwer traf ihn der Selbstmord seiner Mutter im selben Jahr. Sein weiteres Leben prägten die Erfahrungen als Soldat während des Ersten Weltkrieges. Davon konnte er sich nach Kriegsende nicht mehr lösen. Er betätigte sich in einer geheimen, illegalen Militäreinheit, die den Sturz der Republik und die Errichtung einer nationalen Diktatur anstrebte. Bereits 1923 trat er der NSDAP bei und baute die Waldkircher Ortsgruppe der Partei auf, nach 1931 dann auch den SS-Sturm mit über 100 Mitgliedern. Zu dieser Zeit wurde er arbeitslos, da die Firma seines Schwiegervaters, in der er Prokurist geworden war, in Konkurs ging. Die Ehe scheiterte, 1940 wurde sie geschieden. Zwischen 1934 und 1936 fand Jäger noch einmal eine Beschäftigung in der Nähseidenfabrik Gütermann. Aufgrund seiner nationalsozialistischen Überzeugung war er aus der katholischen Kirche ausgetreten. 1936 begann eine hauptamtliche Karriere des «Waldkircher Hitler», wie er genannt wurde, in der SS. Im Sommer 1941 erhielt Jäger den Befehl, das Einsatzkommando 3 aufzustellen, das offiziell den Auftrag hatte, das eroberte litauische Gebiet polizeilich zu sichern. Tatsächlich gehörte zu seinen Aufgaben, Juden, Partisanen und kommunistische Funktionäre zu ermorden. Jäger wurde Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes in Litauen. Bei der Einweisung in sein Amt wurde ihm wie anderen SS-Kommandeuren bedeutet, dass die Ostjuden auszurotten seien – ein wichtiger Hinweis darauf, dass sich die Politik gegenüber den Juden zunehmend radikalisierte, bis dann Ende 1941 die «Endlösung», die systematische Massenvernichtung, beschlossen wurde.

Jäger kam seinem Auftrag nach. Er sorgte dafür, dass die chaotischen Willkürmorde, die in der Anfangszeit der deutschen Besatzung vor allem von nationalistischen und aufgehetzten Litauern durchgeführt wurden, durch einen organisierten Massenmord ersetzt wurden. Neben den litauischen Juden waren auch Juden aus Deutschland, die man nach Litauen deportiert hatte, Opfer dieser Aktivitäten, darüber hinaus zahlreiche Russen und Litauer, die als Kommunisten und Partisanen verdächtigt wurden. In einer Aufstellung aller bis zum 1. Dezember 1941 durchgeführten Exekutionen, die als «Jäger-Bericht» in die Geschichte einging und durch weitere Berichte ergänzt wurde, listete der SS-Standartenführer buchhalterisch sämtliche Morde an Juden, Jüdinnen, «Judenkindern» und anderen Personen auf, bis dahin 137 346 Menschen. Er meldete Litauen «judenfrei », stellte allerdings bedauernd fest, dass es ihm untersagt worden sei, rund 34 500 «Arbeitsjuden» und deren Familien «ebenfalls umzulegen»: Diese waren für die Kriegswirtschaft noch nützlich und wurden erst ab Herbst 1943 vernichtet. Zu dieser Zeit war Jäger bereits von seinem Posten abgelöst worden. Er fand Verwendung im Einsatz gegen Partisanen (dazu sind keine Quellen bekannt), später wurde er Polizeipräsident von Reichenberg im Sudetenland.

Nach Kriegsende 1945 lebte Jäger unerkannt unter seinem richtigen Namen. Er verliess seine zweite Frau, die er 1940 geheiratet hatte, kehrte kurzzeitig nach Waldkirch zurück und betätigte sich dann in der Nähe von Heidelberg als Landarbeiter. Da er auf dem entsprechenden Fragebogen jegliche Mitgliedschaft und Funktionen in nationalsozialistischen Organisationen abstritt, wurde er im Entnazifizierungsverfahren als «Nichtbelasteter» eingestuft. 1959 kam es dann doch zur Verhaftung und Vernehmung, da Jägers Name in einem anderen Prozess aufgetaucht war. Jäger gab seine Funktion in Litauen zu, leugnete aber eine persönliche Mittäterschaft. Er sei «stets ein Mensch mit höherer Pflichtauffassung» gewesen, habe lediglich Befehle ausgeführt und sei «nicht schuldig». Bevor der Prozess gegen ihn eröffnet werden konnte, erhängte sich Jäger in seiner Zelle. In seinem Abschiedsbrief an den Vernehmungsbeamten wiederholte er: «Ich habe kein Verbrechen begangen und habe keine Schuld auf mich geladen.» Zugleich betonte er aber auch, dass ihn sein Gedächtnis und Erinnerungsvermögen «vollständig verlassen» habe.

Wolfram Wette schildert Karl Jägers Leben so ausführlich und differenziert, wie es nach den ihm zugänglichen Quellen möglich war. Er will dem Menschen gerecht werden. Eingehend zeichnet er dessen uneingeschränkte nationalsozialistische Überzeugung nach, die ihn die systematische Ausrottung der Juden und Kommunisten bejahen liess. Wette weist jedoch auch mehrfach darauf hin, dass Jäger von der Wirklichkeit der Massenmorde nicht unberührt blieb. Die erste Konfrontation mit den Massenerschiessungen zeigte ihn offensichtlich erschüttert, und es brauchte Zeit, bis er sich daran gewöhnte. Dazu trug vermutlich bei, dass Jäger seinen wesentlich jüngeren und besser ausgebildeten Untergebenen beweisen wollte, über welche Führungsqualitäten er verfügte. Eine vollständige Gewöhnung trat allerdings nicht ein, denn nach einer Aussage eines anderen SS-Offiziers 1959 soll Jäger ihm 1942 erzählt haben, dass er kaum noch schlafen könne, weil er immer die erschossenen Frauen und Kinder sehe. Möglicherweise waren diese Belastungen ein Grund für Jägers Ablösung am 1. August 1943 und seine ausbleibende Beförderung. Nach dem Krieg pflegte Jäger keine Kontakte zu seinen früheren Kameraden und gehörte keinem der SS-Netzwerke an. Auch sein unstetes Privatleben deutet auf Unsicherheiten hin. Sein Verhalten in den Vernehmungen und sein Abschiedsbrief könnten dahingehend gedeutet werden – Wette verzichtet auf derartige Spekulationen –, dass Jäger seine furchtbaren Erlebnisse in Litauen nicht verarbeiten konnte, sie von seiner Erinnerung abspaltete, einen Panzer um sich legte und auf diese Weise keinen Gedanken an seine Verbrechen mehr an sich heranliess. Aus Angst, von diesen Erinnerungen überwältigt zu werden, konstruierte er sich das Bild, persönlich anständig geblieben zu sein. Dies wurde dadurch erleichtert, dass er über einen verinnerlichten Bezugsrahmen verfügen konnte: die angebliche Notwendigkeit der befohlenen Judenvernichtung. Damit steht Jäger, vergleicht man sein Verhalten mit dem anderer nationalsozialistischen Täter, nicht allein.

Seine Entwicklung und seine Laufbahn bleiben auch im Buch nicht isoliert. Wette macht fassbar, unter welchen Umständen Karl Jäger handelte. Er ordnet dessen Leben in die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse ein, stellt die Kommandostrukturen und das Milieu dar, in dem Jäger wirkte, beschreibt die Einrichtungen der Besatzungsherrschaft und die Möglichkeiten zum Widerstand. Ebenso geht er auf die Lebensbedingungen für die Juden in den Ghettos ein, auf die schrittweise Radikalisierung der Vernichtungspolitik, die Rolle der litauischen Helfershelfer und die Gründe für deren antijüdische Ausschreitungen. Hier wäre es vielleicht sinnvoll gewesen, etwas genauer die Geschichte der Juden in Litauen mit ihren vielfältigen sozialen, geistigen, religiösen und politischen Strömungen sowie das Zusammenleben mit den dortigen Nichtjuden zu behandeln. Jahrhundertelang war es geprägt von einem Verhältnis, das man als «vertraut und fremd zugleich» charakterisieren könnte. Gute Nachbarschaft konnte in Konfliktfällen immer wieder in Ablehnung oder gar Gewalt umschlagen. Die Aufarbeitung dieser Geschichte in Litauen selbst hat erst begonnen. Gerade die Auseinandersetzung mit den Mordorgien durch Litauer ist ein schmerzhafter Prozess. Wette liefert hierzu wichtige Grundlagen.

Eindrucksvoll bezieht Wette auch die Perspektive der Opfer ein: Immer wieder schildert er Schicksale von Juden, die in Litauen ermordet wurden oder überleben konnten. Als Leser wünschte ich mir manchmal ausführlichere Darstellungen, um mehr über das Leben dieser Menschen zu erfahren und durch die verschiedenen Sichtweisen eine «integrierte Geschichte» (Saul Friedländer) lesen zu können. In einem Bericht wird beispielhaft sichtbar, dass Jäger ganz persönlich für die Morde verantwortlich war und nicht nur Befehle ausführte: Jäger kam 1942 in Kontakt zu dem jüdischen Musikerehepaar Edwin und Lyda Geist. Offenbar verstanden sie sich gut, vielleicht wegen der Liebe zur Musik. Es wäre möglich gewesen, dass beide das Ghetto hätten verlassen können, unter der Bedingung, sich sterilisieren zu lassen. Als sich das Ehepaar weigerte, befahl Jäger die Ermordung Edwin Geists. Seine Frau nahm sich das Leben. Wolfram Wette hat ein bewegendes Buch vorgelegt, das die Vorzüge einer mehrperspektivischen Geschichtsschreibung beweist. Es ist ein Meilenstein bei der Erforschung der nationalsozialistischen Täter und des Umgangs mit Erinnerung. Dieses Buch über Karl Jäger ist wichtig für die Opfer, die unter seiner Verantwortung unvorstellbare Qualen erleiden mussten und ermordet wurden. Wir Leser können nachvollziehen, wie ein «ganz normaler Mensch», ein Mensch wie wir, zum Mörder werden konnte. Darüber hinaus trägt das Buch dazu bei, dass wir nicht selbst einen Panzer um unsere Erinnerung legen, sondern uns offen mit der Geschichte auseinandersetzen, damit wir auch offen mit heutigen Problemen umgehen können – Erinnerung bestimmt unser Handeln.

Zitierweise:
Heiko Haumann, Elzach-Yach: Rezension zu: Wolfram Wette: Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden. Mit einem Vorwort von Ralph Giordano. Frankfurt a. M., Fischer Taschenbuch Verlag, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 513-515

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 513-515

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