N. Wylie:Britain, Switzerland, and the Second World War

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Titel
Britain, Switzerland, and the Second World War.


Autor(en)
Wylie, Neville
Erschienen
Oxford 2003: Oxford University Press
Anzahl Seiten
394 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Martin Lutz, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Befangen in kulturellen Stereotypen über die Schweiz und einer klaren Vorstellung der Rolle verhaftet, welche die Eidgenossen auf der internationalen Bühne zu spielen hatten, mussten die Briten im Verlaufe des Zweiten Weltkriegs die bittere Erfahrung machen, dass die Schweiz zwar eines der bekanntesten, gleichzeitig aber auch der am wenigsten verstandenen Länder Europas war, wie der Verfasser der neusten und bisher umfassendsten Studie über die schweizerisch-britischen Beziehungen jener schicksalhaften Jahre feststellt. Die von Grossbritannien seit jeher protegierte Neutralität erwies sich nämlich als eine weit komplexere Einrichtung, als dass man sie in London zu kennen geglaubt hatte. Ihre sich ständig wandelnde Gestalt wurde nicht nur von den Launen des Krieges, sondern auch der Beamten in Bern geprägt, deren politischen Entscheidungen die grundsätzliche, oft hochgepriesene kulturelle und ideelle Verbundenheit mit den Angelsachsen nicht immer widerspiegelte und den Erwartungen der britischen Regierung gar zuwiderlaufen konnten. Das nebulöse Konzept der Schweizer Neutralitätspolitik zu verstehen, war eine Herausforderung. Geradezu eine Kunst war es, die Vor- und Nachteile dieser Neutralität im Hinblick auf die eigenen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen abzuwägen und ihr sodann einen Platz in der britischen Aussenpolitik zuzubilligen, was für die diplomatischen Beziehungen zwischen Grossbritannien und der Schweiz eine grosse Belastungsprobe darstellen sollte.

Neville Wylie, der am Institut für Politikwissenschaften der Universität Nottingham lehrt, hat sich zum Ziel gesetzt, die Antworten der britischen Regierung auf die Möglichkeiten und Gefahren der Schweizer Neutralität während des Zweiten Weltkriegs zu untersuchen. Die Grundlage seiner Arbeit bildet eine Dissertation, die er vor rund zehn Jahren an der Universität Cambridge unter dem sinnigen Titel The Riddle of the Swiss vorlegte. Dass sich sein Forschungsinteresse, das hauptsächlich der Aussenpolitik neutraler und nicht Krieg führender Länder gilt, speziell auf die Schweiz richtet, liegt darin begründet, dass die Thematik ihrer diplomatischen Beziehungen zu Grossbritannien bislang nur in Einzelaspekten, jedoch nicht in ihrer Gesamtheit abgehandelt worden ist. Die Studie versteht sich daher vor allem als Synthese bisheriger Forschungsergebnisse und versucht dabei, die Dynamik aufzuzeigen, welche aus der Interaktion politischer, wirtschaftlicher und militärischer Variablen im Spannungsfeld schweizerischer und britischer Ansprüche erwuchs.

Das Kernproblem dieses Vorhabens besteht darin, dass die nach aussen hin unergründlich erscheinenden Wege der Neutralität und die sich ständig umgestaltende politische Landschaft in Europa keine fest umschriebene Politik gegenüber der Schweiz zuliess. Die Umsetzung der britischen Interessen oblag somit vor allem den wenigen Beamten «vor Ort», namentlich den Gesandten in Bern, deren individuellen Erwartungen und Einstellungen den politischen Alltag stark prägen sollten. Im ersten Teil des Buches wird daher das kulturelle, intellektuelle und soziale Umfeld dieser Hauptentscheidungsträger skizziert und aufgezeigt, wie deren Interessen zu einer einheitlichen «Politik» zusammenfanden. Gleichzeitig beleuchtet der Verfasser aber auch das Milieu der Schweizer Beamten, die als Adressaten der britischen Diplomatie erschienen; denn deren Kreis war ebenso eng und beschränkte sich fast ausschliesslich auf den siebenköpfigen Bundesrat, der Auslandsangelegenheiten nur widerwillig seinem Kompetenzbereich entziehen liess. Erstaunlich ist dabei – trotz kultureller Affinitäten – die jeweilige Unkenntnis vom diplomatischen Gegenüber. Die Haltung der beiden Protagonisten, David Kelly und Marcel Pilet-Golaz, ist bezeichnend hierfür: Während der 1940 nach Bern abgesandte Botschafter bei seinem Amtsantritt eingestehen musste, «über die Verhältnisse in der Schweiz völlig nicht im Bilde» zu sein (S. 27), brachte der Vorsteher des EPD nur wenig Sympathie für die Angelsachsen auf, hatte ihrem Land nie einen Besuch abgestattet und sprach lediglich ein rudimentäres Englisch. Die Verletzung des Schweizer Luftraums durch britische Bomber und die Ächtung der mit den Nazis kollaborierenden Schweizer Firmen mussten sein Misstrauen gegenüberLondon nur noch verstärken.

Dass sich die beiden Parteien trotzdem verstanden und ihre Beziehungen im Laufe des Krieges sogar vertiefen konnten, ja dass sich der viel geschmähte Pilet sogar als «äusserst angenehmer Verhandlungspartner» hervortat (S. 74), mag mit der in London empfundenen Wertschätzung für die dem Gleichgewicht des europäischen Staatensystems förderliche Schweizer Neutralität in Zusammenhang stehen. Schweizerischerseits dürfte indessen die historische Rolle Grossbritanniens als Garantin der schweizerischen Unabhängigkeit konsensfördernd gewirkt haben. Wylie hingegen sieht den Grund für das gute Einvernehmen vielmehr in der Zweckdienlichkeit des Sonderfalls Schweiz im Hinblick auf die eigenen politischen, strategischen und wirtschaftlichen Interessen Londons: der Nutzen des Nachrichtenwesens, die Geschäfte mit der Nationalbank oder der Schmuggel kriegswichtiger Präzisionsinstrumente nach England. Diese und weitere Hauptaspekte, welche die anglo-helvetischen Beziehungen kennzeichneten, werden im zweiten Teil der Studie vertieft: der «stille» Wirtschaftskrieg (Kapitel 4), die Streitigkeiten um den Eisenbahntransit (5) und die Überflüge der Royal Air Force (6), der Geld- und Goldhandel (7), die Machenschaften des Geheimdienstes (8) sowie die Dienste der Schweiz im humanitären und diplomatischen Bereich (9)

Trotz der thematischen Gliederung gelingt es dem Verfasser, die Wechselwirkung dieser Sektoren zu akzentuieren und das Gewicht der einzelnen Ministerien und Beamten im Beziehungsgeflecht der Interessen aufzuzeigen. Die Ende 1940 in London geführten Diskussionen um die Verletzung des schweizerischen Luftraums machen dieses Verhältnis sehr schön deutlich. Seit dem Sommer hatte die britische Luftwaffe auf ihrem Weg nach Italien regelmässig die Alpen überflogen, was die Briten als «technische» Neutralitätsverletzung schönzureden pflegten. Nachdem aber auch die Schweiz versehentlich Ziel britischer Bombenabwürfe geworden war, verschärfte sich der Ton der Demarchen aus Bern rasch, und die Öffentlichkeit reagierte derart heftig, dass sich das britische Kabinett mit einer zeitweiligen Flugeinschränkung einverstanden erklärte. Unter dem Eindruck der zu scheitern drohenden Beziehungen mit Bern musste aber auch das Kriegswirtschaftsministerium widerwillig seinen Tribut zollen und die blockadebedingten Gütereinfuhrbeschränkungen für die Schweiz lockern. Erst dadurch schienen sich die Gemüter der Schweizer besänftigen zu lassen. Während also wirtschaftliche Zugeständnisse das Wohlwollen der Schweizer zurückgewinnen und ein Leisetreten der Bundesbehörden in den Fliegerangelegenheiten erzwingen sollten, diente die Flugeinschränkung ihrerseits zwei Jahre später als Mittel zur Belohnung der Schweizer für ihre Sorge um das Wohlergehen britischer Kriegsgefangener – eine Wertschätzung, von der zugleich auch die schweizerische Handelsdelegation profitieren sollte.

In diesem Zusammenspiel wirtschaftlicher, politisch-strategischer und humanitärer Interessen war es allerdings der geheime Nachrichtendienst, der als dominanter Faktor die Haltung der britischen Regierung im Umgang mit den Eidgenossen zu bestimmen vermochte. Im Sommer 1940 begann man in London nämlich den Wert der neutralen Schweiz auch als Umschlagplatz von Informationen aus den besetzten Gebieten Europas zu erkennen, was nicht zufällig mit der erwähnten Lockerung der Wirtschaftsblockade zeitlich zusammenfiel. Den gehei men Operationen des Secret Intelligence Service und dessen Nachrichtentätigkeit, die Wylie als «eine der Schlüsselkomponenten» der britischen Politik gegenüber der Schweiz erachtet (S. 94), wird in seiner Untersuchung erstmals Rechnung getragen.

Die Tatsache, dass die Schweiz nicht nur als Lieferantin von Präzisionsinstrumenten, Fürsprecherin der Kriegsgefangenen und Vertreterin der britischen Interessen im Feindesland dienstbar gemacht werden konnte, sondern auch ein bedeutendes Nachrichtenzentrum war, lässt das Wohlwollen der Briten gegenüber der Schweizer Neutralität in neuem Licht erscheinen. Der daraus gezogene Nutzen veranlasste sie aber gleichzeitig dazu, über die beträchtlichen Vorteile hinwegzusehen, welche die Schweiz auch den Achsenmächten verschaffte, wie der Verfasser kritisch feststellt. So konnte London beispielsweise nicht verlangen, dass die Schweizerische Nationalbank «Nazigold» ablehnte, während die Bank of England selbst Gold gegen attraktive Schweizer Franken einzutauschen gedachte, um ihre Währungsprobleme in den Griff zu bekommen. Ebenso nachsichtig oder uneinsichtig zeigte sich London auch in Bezug auf den Eisenbahntransit, der für das wirtschaftliche Überleben Italiens von grosser Bedeutung war: Zwar betrachtete man die Kohle- und Rohstofftransporte stets mit Argwohn, doch fand man keine opportunen Mittel, um sie wirksam einzuschränken.

Alles in allem kommt der Verfasser zum Schluss, dass die schweizerisch-britischen Beziehungen deshalb aufrecht erhalten werden konnten, weil die Briten entweder den eigenen Bedürfnissen Priorität einräumten und es vermeiden wollten, «die Hand abzuhauen, die sie fütterte» (S. 262), oder aber das Ausmass und die Ernsthaftigkeit der Vorteile nicht wahrhaben wollten, welche dem Kriegsgegner daraus erwuchsen. Erst durch die Intervention der US-Regierung konnte London allmählich zu einer strikteren Haltung gegenüber der Schweiz gezwungen werden.

Das Originelle an Wylies Studie besteht darin, dass sie die wichtigsten Aspekte der schweizerisch-britischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg nicht nur sorgfältig auf ihre Eigentümlichkeiten hin untersucht, sondern sie zugleich im Verhältnis zueinander sieht und ihre jeweilige Bedeutung hinsichtlich der politisch-strategischen Ansprüche Grossbritanniens beurteilt. Dass dabei die Rolle der jeweiligen Entscheidungsträger, ihre Haltungen, Interessen, Erwartungen und Sympathien, ganz besonders zum Tragen kommt, lässt das flüssig geschriebene Buch besonders lebendig werden. Ein solcher Ansatz birgt aber auch die Gefahr, die Kontakte zwischen den beiden Ländern lediglich auf ihre diplomatischen Beziehungen zu beschränken. So räumt die vorliegende Arbeit den Reaktionen der breiten Öffentlichkeit, etwa auf die britische Blockadepolitik, ebenso wenig Raum ein wie den Bemühungen der Briten, sich durch Einflussnahme auf die Medien oder Kontakte zu Parteien wie etwa der SPS die Sympathien der Schweizer –auch ausserhalb Berns – zu erhalten. Trotz diesen Auslassungen stellt die Untersuchung, die sich auf sehr umfangreiche Akten- und Literaturstudien stützt, einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der Schweizer Aussen- und Neutralitätspolitik im Zweiten Weltkrieg dar und ist dank dem Überblickscharakter des ersten und der Themenvertiefung des zweiten Teils sowohl für den Nichtfachmann als auch für den Spezialisten interessant.

Zitierweise:
Martin Lutz: Rezension zu: Neville Wylie: Britain, Switzerland, and the Second World War. Oxford, Oxford University Press, 2003. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 3, 2005, S. 345-348.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 3, 2005, S. 345-348.

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