D. Grisard: Gendering Terror

Titel
Gendering Terror. Eine Geschlechtergeschichte des Linksterrorismus in der Schweiz


Autor(en)
Grisard, Dominique
Reihe
Politik der Geschlechterverhältnisse 44
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
345 S.
Preis
€ 39,90
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Gisela Diewald-Kerkmann, Abteilung Geschichte, Universität Bielfeld

Im Mittelpunkt der vorliegenden Studie stehen – in Anlehnung an Michel Foucault – „zentrale Verzahnungen des dominanten Geschlechter- und Terrorismusdiskurses im Kontext der Schweiz der 1970er Jahre“ (S. 9), wobei Dominique Grisard von der These ausgeht, dass Geschlecht auf der personalen, institutionellen sowie der symbolischen Ebene konstitutiv für das Phänomen des Linksterrorismus sei. Hierzu listet sie drei Grundannahmen auf, angefangen von der Subjektwerdung als geschlechtlichen Prozess über die geschlechtsspezifische und hierarchische Organisation in staatlichen Institutionen – beispielweise Polizei, Gerichte und Strafverfolgung – bis zu Geschlechternormen und -bildern, die auf der gesellschaftlichen Ebene eine prägende Funktion gewinnen.

Um ein differenziertes Bild der verschiedenen Einflüsse zu entwerfen, die in der Schweiz der 1970er- und frühen 1980er-Jahre den hegemonialen Diskurs über Terrorismus mit formten, unterteilt Grisard ihr Thema in sieben Felder. So geht es ihr zunächst um die wissenschaftliche und mediale Suche nach den Ursprüngen und Ursachen des Terrorismus und um die Repräsentation des Terrorismus in den Massenmedien. Wichtig ist ihr die Verhandlung des Terrorismus im strafrechtlichen Diskursfeld, das zum einen strafrechtliches Wissen über den Terrorismus produziert und sich zum anderen in der Gerichtspraxis manifestiert. Vor diesem Hintergrund setzt sie sich auch mit den Stilisierungen respektive den Selbststilisierungen der TerroristInnen auseinander und bezieht hierbei auch die Hungerstreikaktionen der Gefangenen ein. In einem weiteren Feld stehen die politischen Debatten im Vordergrund, die im Parlament vor allem auf Initiative rechtsbürgerlicher Kreise geführt wurden. Dass die polizeilichen Observations- und Dokumentationspraxen eine zentrale Bedeutung im Terrorismusdiskurs einnahmen, spiegelt sich im sechsten Schwerpunkt der Arbeit wider. Hier behandelt die Verfasserin die zuständigen Staatsbehörden und Ermittlungstechniken. Des Weiteren thematisiert sie in ihrem letzten Schwerpunkt die Aktivitäten „besorgter BürgerInnen im Kampf gegen den Terrorismus“ (S. 22). Sie untersucht nicht nur die „Wachsamkeit als Bürgerpflicht“, sondern hebt insbesondere die Relevanz männerbündischer Strukturen hervor (S. 272). Unbestritten ist gerade die Frage nach den Motivationen von Privatpersonen aufschlussreich, die ohne staatliche Weisungen eine erhebliche Eigeninitiative in der Bekämpfung des Terrorismus entwickelten. Oder, wie Grisard konstatiert: „Interaktionen zwischen einzelnen Bürgern und den Behörden – das Benennen auffälliger Verhaltensweisen einerseits und die behördliche Anerkennung der Anliegen der Bürger andererseits – ermächtigten beide Seite gleichermaßen: Meldebewusste Personen wurden in ihrer Rolle als Schweizer Staatsbürger bestätigt, die Bundespolizei in ihrer Aufgabe als Sammelstelle des Wissens ihrer Bürger“ (S. 272).

Je mehr man sich mit den sieben Diskursfeldern auseinandersetzt, desto mehr überrascht der gewählte Titel für diese Arbeit: „Gendering Terror. Eine Geschlechtergeschichte des Linksterrorismus in der Schweiz“. Dies gilt gerade angesichts der Tatsache, dass die Schweiz „selten Zielschreibe terroristischer Anschläge“ (S. 280) war. Allerdings stellt sich hier die Frage, in welchem Maße verlagstechnische Überlegungen bei der Auswahl des mehr oder weniger undifferenzierten Titels ausschlaggebend waren. Tatsächlich stellt sich die empirische Basis der vorliegenden Arbeit, nämlich vier Terroristenfälle“, das heißt konkret: zwei Paare und zwei kleine Gruppen in der Schweiz, als äußerst schmal dar. In welchem Maße die Züricher Gruppen „Bändlistrasse“ (1972) und „Petra-Krause-Gruppe“ (1971 bis 1975), die beiden deutschen Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ – Gabriele Kröcher-Tiedemann und Christian Möller – (ihre Verhaftung erfolgte im Jahre 1977 an der Schweizer Grenze zu Frankreich) oder Claudia Bislin und Jürg Wehren (Verhaftung 1981) eine wirkliche Herausforderung für die Schweizer Polizei- und Strafvollzugsbehörden darstellten, erscheint fraglich. Damit sollen weder das Gefährdungspotential noch der Charakter von terroristischen Gewalttaten bagatellisiert werden. Vielmehr gilt es festzuhalten, dass selbst in der Bundesrepublik Deutschland der Anteil der Terroristinnen und Terroristen an der Gewaltkriminalität – wie der Jurist Theo Rasehorn konstatiert – niedrig war. Obwohl es sich um wenige Täterinnen und Täter handelte, die in der bundesdeutschen Bevölkerung kaum auf Akzeptanz stießen und der Verfassungsschutzbericht für das Jahr 1977 – auf dem Höhepunkt der Gewalteskalation – nüchtern feststellte, dass keine konkrete Gefährdung der demokratischen Ordnung durch eine linksextremistische Organisation gegeben sei, war die imaginäre Bedrohung bestimmend.1

Für die Schweiz macht die Autorin deutlich, dass die vier Terroristinnen und Terroristen zu einem Politikum und zu einem Medienereignis wurden. Weiter verweist sie auf einen heterogenen Quellenkorpus: Bundes- und Kantonspolizeiakten, Strafvollzugsakten, Gerichtsakten, Zeitungsartikel, Radio- und Fernsehberichte, persönliche Korrespondenz sowie Anwalts- und Anstaltskorrespondenz inhaftierter TerroristInnen, literarische und andere künstlerische Arbeiten von inhaftierten TerroristInnen und Schriftstellern, nicht zuletzt graue Literatur aus rechtsbürgerlichen und linksautonomen Zusammenhängen. Aber ungeachtet dessen wäre eine systematischere Einordnung der empirischen Basis hilfreich gewesen, Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man sich intensiver mit den einzelnen Fällen – hier exemplarisch Kröcher-Tiedemann – auseinandersetzt. Sie wurde nach ihrer Festnahme im Dezember 1977 bei Delsberg/Schweiz durch ein Schweizer Gericht zu 15 Jahren Zuchthaus wegen Mordversuchs verurteilt, wobei das Schweizer Bundesgericht im August 1979 die beantragte Auslieferung an die Bundesrepublik Deutschland für zulässig erklärte. Bereits im Juli 1973 war die Soziologiestudentin nach einem Schusswechsel mit Polizisten in Bochum verhaftet worden. Wegen versuchten Mordes hatte das Schwurgericht beim Landgericht Bochum sie im Dezember 1973 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Im Zusammenhang mit der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz durch die „Bewegung 2. Juni“ war die Studentin im März 1975 aus der Justizvollzugsanstalt Essen entlassen und in den Südjemen geflogen worden. Bereits einige Monate später soll sie am OPEC-Überfall in Wien beteiligt gewesen sein. Von den schweizerischen Behörden war Kröcher-Tiedemann im Dezember 1987 zur Verbüßung der Reststrafe aus dem Bochumer Urteil und wegen Teilnahme am OPEC-Überfall nach Deutschland überstellt worden. Im Prozess vor dem Landgericht Köln wurde sie im Mai 1990 mangels Beweises freigesprochen. Es sei ihr nicht nachzuweisen, dass sie am OPEC-Überfall beteiligt war und zwei Sicherheitsbeamte erschossen habe. Der Kölner Stadtanzeiger schrieb nach dem Urteilsspruch: „Der Freispruch für die frühere RAF-Terroristin Gabriele Tiedemann könnte in die Rechtsgeschichte eingehen – als Paradebeispiel eines fairen Prozesses, in dem sich das Gericht nicht irremachen ließ von Legenden, Mutmaßungen und Unterstellungen“.2

Zu Recht stellt Grisard fest, dass Gabriele Kröcher-Tiedemann („Bewegung 2. Juni“) sich als „Kämpfer“, aber nicht als „Kämpferin“ charakterisiert habe. Zweifellos dokumentieren die Selbstdefinitionen der weiblichen Mitglieder der Roten Armee Fraktion und der „Bewegung 2. Juni“, dass sie sich nicht in erster Linie als Frauen, sondern als „Revolutionär“ und als „Kämpfer“ im bewaffneten Kampf verstanden.3 Die Identifikation mit der revolutionären Aufgabe war entscheidend. Für die meisten Frauen in der RAF schien es bedeutungslos zu sein, dass sie Frauen waren. So bemerkt das frühere RAF-Mitglied Monika Berberich: „Auch wenn Gudrun (Ensslin – G. D-K) die Frauen als prädestiniert für die Guerilla ansah, weil sie sich nur gegen die herrschenden Vorstellungen verwirklichen können: Es ging uns nicht um die Befreiung der Frauen, sondern um die Befreiung der Menschen“.4

Dass die Geschlechterperspektive wichtig ist, verdeutlicht vor allem das dritte Kapitel. Hier hebt Grisard hervor, dass die Terroristinnen nicht als politisch motivierte Überzeugungstäterinnen betrachtet wurden, sondern vielmehr nach Gemeinsamkeiten mit Amazonen, Kämpferinnen in der französischen Revolution und russischen Anarchistinnen der Jahrhundertwende gesucht worden sei. Unbestritten erklärt sich die damit zusammenhängende Dekontextualisierung terroristischer Gewalttaten „aus dem Zusammenspiel des bürgerlichen Geschlechter- und Terrorismusdiskurses“ (S. 279).

Anmerkungen:
1 Theo Rasehorn, Jenseits des Rechtsstaats, in: Rudolf Wassermann (Hrsg.), Terrorismus contra Rechtsstaat, Neuwied 1976, S. 245-264.
2 Kölner Stadt-Anzeiger, 23.05.1990.
3 So auch Helga Einsele / Nele Löw-Beer, Politische Sozialisation und Haftbedingungen, in: Susanne v. Paczensky (Hrsg.), Frauen und Terror. Versuche, die Beteiligung von Frauen an Gewalttaten zu erklären, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 24-36. Ebenso Margarete Fabricius-Brand, Frauen in der Isolation, in: Ebd., S. 59-71
4 Zit. nach: Tanja Stelzer, Warum zur RAF erstaunlich viele Frauen gehörten. Begegnungen mit drei Terroristinnen, in: ZEITmagazin Leben, Nr. 40/27, September 2007, S. 36-44, hier S. 43.

Redaktion
Veröffentlicht am
08.07.2011
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