Cover
Titel
Bern 68. Lokalgeschichte eines globalen Aufbruchs


Herausgeber
Schär, Bernhard et al.
Erschienen
Baden 2008: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
228 S.
Preis
€ 22,80
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christian Lüthi, Universitätsbibliothek Bern

Zum 40-Jahr-Jubiläum der Studenten- und Jugendproteste von 1968 erschien im deutschen Sprachraum 2008 eine ganze Reihe von Publikationen. Auch in der Schweiz kamen rund ein halbes Dutzend Bücher zu diesem Anlass auf den Markt. In zahlreichen Veröffentlichungen äussern sich damalige Akteure im Rückblick zu den Sechzigerjahren. Der Verlag hier+jetzt veröffentlichte zwei Bände zu Zürich und Bern, die von jüngeren Historikerinnen und Journalisten geschrieben wurden. Anstoss zum Band «Bern 68» gab ein Seminar von Prof. Albert Tanner am Historischen Institut der Universität Bern im Wintersemester 2004/05. Die Studierenden untersuchten das Thema anhand von Publikationen und vor allem in Gesprächen mit 68er-Aktivisten. Die meisten Autorinnen und Autoren nahmen am Seminar teil und veröffentlichen ihre Ergebnisse im vorliegenden Band.

«Bern 68» beleuchtet Personen, Ereignisse und Schauplätze des langen Jahrzehnts von den frühen 1960er bis Mitte der 1970er Jahre. Die Autorinnen und Autoren porträtieren einzelne Gruppen, die damals aktiv waren. Dazu gehören die Nonkonformisten rund um den Treffpunkt «Junkere 37», einem Kellerlokal an der Junkerngasse in Bern, das Forum politicum an der Universität Bern, Drittwelt-Gruppen und Gruppierungen, die sich für die Rechte von Fahrenden, Homosexuellen und Gefängnisinsassen einsetzten. Eingestreut sind Porträts von wichtigen Exponenten der Bewegung wie Jürg Balmer, Jürg Bingler, Mario Cortesi, Sergius Golowin, Pier Häni, Mariella Mehr, Heidi Oberli, Marc Rudin, Martin Schwander, Rudolf Strahm, Ursula Streckeisen und Peter Vollmer. Allgemein waren die grossen Städte und die Universitäten die wichtigsten Ausgangspunkte der 68er-Bewegung, und auch im Kanton spielten sich die wichtigsten Ereignisse dieser Zeit in der Hauptstadt ab. Gleichzeitig gab es aber auch in Kleinstädten wie Biel und Burgdorf junge Leute, die sich dem Protest gegen gesellschaftliche Konventionen anschlossen. Insgesamt zählten die einzelnen Gruppen der Bewegung jeweils maximal einige Dutzend Personen. Da sie mit ihrer Kritik wunde Punkte der damaligen Gesellschaft und deren Moral kritisierten und da sie ihre Aktionen medienwirksam inszenierten, lösten sie ein grosses Echo in der Öffentlichkeit aus.

Der vorliegende Band liefert als Fazit des erwähnten Forschungsseminars einen neuen Interpretationsansatz zur 68er-Bewegung: Mit ihren Forderungen nach mehr Freiheit und Gleichheit für Junge und Randständige knüpfte sie an die Ideale der bürgerlichen Revolution der 1830er und 1840er Jahre an. Insbesondere Frauen, Besitzlose, Behinderte und Homosexuelle waren in der gesellschaftlichen Realität der 1960er Jahre benachteiligt. In diesem Sinn war 1968 nicht eine sozialistische, sondern die Fortführung einer bürgerlichen Revolution. Aus heutiger Perspektive bewirkte sie eine grössere Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebens- und Konsumstilen. Damit löste die Bewegung auch eine kulturelle Revolution aus, die den «Übergang vom Industrie- zum Dienstleistungs- und Konsumkapitalismus» vorantrieb (S. 8).

Der grossformatige Band bietet nicht nur Texte zum Thema, er ist auch gut illustriert. Die Bilder dokumentieren die Vietcongfahne auf dem Berner Münster im Juni 1968, die Demonstration gegen den Besuch des amerikanischen Generals Westmoreland im Herbst 1969, Veranstaltungen in den einschlägigen Szenelokalen, ein Treffen mit dem «LSD-Papst» Timothy Leary in einer Rüschegger Landkommune, Beat-Konzerte und vieles mehr.

In der Einleitung konstatiert Bernhard C. Schär ein bisheriges «Desinteresse der Schweizer Geschichtsschreibung» an diesem Thema. Der Band «Bern 68» leistet einen wichtigen Beitrag, um diese historiografische Lücke zu schliessen. Die Texte präsentieren die 68er-Bewegung in einer quellennahen Schilderung von Ereignissen und Aktivitäten sowie mit lebendigen Personenporträts. In einer angenehmen Weise nähert sich die junge Autorengeneration dem Thema mit kritischer Distanz und analytischer Tiefe. Das Geschehen in Bern wird immer wieder in grössere Zusammenhänge eingebettet; ausserdem fliessen auch Erkenntnisse der internationalen 68er-Forschung in die Texte ein. Zudem äussern sich mehrere Personen, die porträtiert werden, im Rückblick erstaunlich selbstkritisch. Damit liegt ein illustriertes Handbuch vor, das diese turbulente Dekade der jüngeren Geschichte im Kanton Bern beleuchtet und dokumentiert.

Zitierweise:
Christian Lüthi: Rezension zu: Schär, Bernhard C. et al. (Hrsg.): Bern 68. Lokalgeschichte eines globalen Aufbruchs, Baden, hier+jetzt 2008, 228 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 70, Nr. 3, Bern 2008, S. 61f.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 70, Nr. 3, Bern 2008, S. 61f.

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