A. Holenstein: Berns mächtige Zeit

Cover
Titel
Berns mächtige Zeit. Das 16. und 17. Jahrhundert neu entdeckt


Herausgeber
André, Holenstein
Erschienen
Bern 2006: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
630 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Daniela Hacke

Beginnen wir mit dem Gewicht: Der dritte Band der Reihe «Berner Zeiten» ist ein «mächtiges» Buch – es wiegt 3,5 Kilogramm. Auf 630 Seiten wird hier die Geschichte Berns von der Reformation bis ins frühe 18. Jahrhundert in über 150 Beiträgen von namhaften Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus zahlreichen Institutionen Berns präsentiert. Der Titel «Berns mächtige Zeit» würdigt die Tatsache, dass Bern mit der Eroberung der Waadt 1536 zum grössten Stadtstaat nördlich der Alpen avancierte. Diese territoriale Expansion zählt zusammen mit Berns Stellung im eidgenössischen Bündnissystem und den Strukturen der Berner Macht (politische Gremien, zentrale Verwaltung, Justiz, Finanzen, Militär) zu einigen der im ersten von insgesamt fünf grossen Themenkomplexen behandelten Inhalte. Das Neue an der Berner Geschichte, das uns dieser Band im Untertitel verspricht, zeigt sich im Abschnitt «Politik, Verwaltung, Recht und Militär» an der Integration neuer Forschungsperspektiven, wie etwa in der Diskussion des politischen Selbstverständnisses Berns als souveräne Republik, aber auch in den Ausführungen von Protest- und Widerstandsformen in Stadt und Land.

Der zweite Abschnitt «Kirche und Konfessionalisierung» zeichnet die Ausdifferenzierung der reformierten Konfession und der Konfessionalisierung, verstanden als «universalen, sozialgeschichtlichen Prozess» (S. 163), nach. Hier wird in fünf Schritten (Religion, Macht und Politik, Prinzipien und Instanzen der neuen Kirche, Theokratie? Die reformierte Weltanschauung und ihre Indoktrination, Praktiken und Mentalitäten) zunächst die gewaltsame Durchsetzung der Reformation dargestellt, die Bekenntnisentwicklung beziehungsweise die Verstaatlichung der reformierten Konfession und in der Folge die Verchristlichung der weltlichen Ordnung diskutiert, um dann zu entwickeln, wie die «Umprägung der Mentalitäten» konkret erfolgte. Hier ist die Tätigkeit der Berner Chorgerichte hervorzuheben. An der weltlichen Sittengesetzgebung und der Alltagspraxis der Chorgerichte wird der «neue» Blick auf die Geschichte Berns deutlich: Um der Konfessionalisierung als gesellschaftlichem Fundamentalprozess gerecht zu werden, wird auf eine Überakzentuierung einer etatistischen, obrigkeitlichen Perspektive verzichtet. «Konfessionalisierung wird als ergebnisoffener Prozess gefasst» und der Blick auf die Interaktionen der unterschiedlichen Instanzen all jener gelenkt, «die die Macht im Staate Bern hatten» (S. 163).

Der dritte Abschnitt «Bildung, Wissenschaft und Kunst» zeigt in sechs Schritten auf (Die Hohen Schulen, Naturwissenschaften, Literatur und Geschichtsschreibung, Buchdruck, Musik, Bildende Künste und Architektur), wie sich Kunst, Bildung und Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert dem Staatszweck und den Kriterien der Nützlichkeit unterzuordnen hatten. Dennoch blieb Bern für kulturelle Entwicklungen nach aussen offen und zog immer wieder bedeutende Künstler und Gelehrte an. Kulturelle Beziehungen fanden vorwiegend im privaten Bereich statt. Junge Berner lernten nicht nur Sprachen im Ausland, sondern sie knüpften zudem Kontakte und pflegten den wissenschaftlichen Austausch.

Ein vierter Abschnitt «Umwelt, Bevölkerung und Wirtschaft» führt uns die Klimakatastrophen und die Unbill der Natur vor Augen (wie Dürre- und Kälteperioden, Überschwemmungen, Feuersbrünste), denen die frühneuzeitlichen Menschen ausgesetzt waren und die als gottgewollt galten. Anschliessend wird ein differenziertes Bild der demografischen Entwicklung gezeichnet, der Hebammenberuf diskutiert (den man eher im nächsten Abschnitt «Gesellschaft» erwartet hätte, da ein Bezug zur demografischen Entwicklung nicht wirklich nachweisbar ist) und ein kurzer Exkurs zum Kindsmord unternommen. Nach der ökologischen und demografischen Perspektive schliesst dieser Abschnitt mit einer ökonomischen Betrachtung des Lebens der Menschen im Stadtstaat von Bern.

Der letzte Abschnitt «Gesellschaft» entwirft ein buntes Bild der Berner Gesellschaft, seiner «gesellschaftlichen Figurationen» (S. 461), also den Formen sozialer Distinktion und Abgrenzungen von oben nach unten (aber auch gegen eigene Standesgenossen), die eine stark hierarchisierte gesellschaftliche Ordnung bedingen. In diesem Abschnitt begegnen uns unterschiedliche Menschen: (einige) Frauen und Männer, Städter und Landbewohner, Kinder und Erwachsene, Arme und Reiche, «Ehrsame» und «Unehrliche». Die Orte des geselligen Zusammenseins und die Tischkulturen werden vorgestellt. Zudem gibt das Kapitel Einblick in ausgewählte Aspekte der materiellen Kultur der frühen Neuzeit.

Den Band beschliesst ein Epilog des Herausgebers André Holenstein, der die
Fragilität der Berner Macht betont. In einem Prolog lotet Heinrich Richard Schmidt den Komplex der Macht und Reformation in Bern aus.

Insgesamt ist dem Herausgeber(team) ein imposanter Band gelungen, der aufgrund der Integration aktueller Forschungsperspektiven und -inhalte auf weiten Strecken eine Neuentdeckung der Berner Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts bietet. Da er zudem flüssig geschrieben und mit einem umfangreichen Bildteil ausgestattet ist (über 600 Abbildungen), lädt der preiswerte Band auch Laien zum Blättern, Innehalten und Lesen ein.

Zitierweise:
Daniela Hacke: Rezension zu: Holenstein, André (Hrsg.): Berns mächtige Zeit. Das 16. und 17. Jahrhundert neu entdeckt, Bern, Stämpfli, 2006 (Berner Zeiten). 630 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 69, Nr. 3, Bern 2007, S. 217f.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 69, Nr. 3, Bern 2007, S. 217f.

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