Buchpreis: Essay Kategorie Europäische Geschichte

Von
Frank Hadler

Essay von Frank Hadler und Matthias Middell, Universität Leipzig

In der Kategorie Europäische Geschichte wurde mit Abstand zum besten Buch eine in den USA entstandene Abhandlung gewählt, die sich dem Werden des modernen Deutschlands aus der originellen Perspektive der fortschreitenden Naturbeherrschung nähert. David Blackbourn nennt seine Monographie „The Conquest of Nature“ und erzählt darin die Geschichte, wie die Deutschen während der vergangenen 250 Jahre ihre Landschaft(en) durch Gewinnung von Marschland, Entwässerung von Mooren, Flussbegradigungen und das Bauen von Staudämmen in den Bergen konstant veränderten. Der Leser bekommt unter Einstreuung breiter gedanklicher Verbindungen Antworten auf die drei Schlüsselfragen des Autors: Warum wurden die beschriebenen Maßnahmen eingeleitet, wer hat darüber entschieden und was waren die Konsequenzen? Der Beobachtungszeitraum setzt um 1750 ein, als unter dem Preußenkönig Friedrich II. die „friedliche Eroberung“ neuer Gebiete durch Meliorierungen großflächig begann, Kanäle in größerer Zahl angelegt und Flüsse schiffbar gemacht wurden. Es wird eine Linie gezogen bis zum Ersten Weltkrieg und klar gemacht, dass erst nach der deutschen Niederlage 1918 jeder Hektar anders zählte, als unter dem Motto „Volk ohne Raum“ neue kriegerische Eroberungsabenteuer den Zweiten Weltkrieg befeuerten.

Für das 19. Jahrhundert, als z.B. der zunehmend begradigte Rhein zu „dem“ deutschen Fluss wurde, arbeitet Blackbourn heraus, wie sich wirtschaftspolitische Interessen mit Ingenieurskunst im Kampf gegen die Mächte der Natur paarten und wie die Überzeugung Raum griff, die Menschheit sei da, um die Natur zu beherrschen, nicht, um ihr zu dienen. In Bezug auf die zeitgleich einsetzenden ersten Bemühungen um den Schutz der Natur erfährt man, dass es der deutsche Physiologe und Naturphilosoph Ernst Haeckel war, der unter dem Einfluss des Darwinschen Werks 1866 den Begriff „Ökologie“ prägte, definiert als Wissenschaft vom Verhältnis der Organismen und ihrer äußeren Umwelt, ihrer „Existenzbedingungen“.

Blackbourn gibt beeindruckend viele, best recherchierte Beispiele für das „Davor“ und „Danach“ menschengemachter Naturveränderungen, wobei der Umgang mit dem „deutschen Wasser“ im Zentrum der Betrachtung steht; sei es in Flüssen fließend, durch Dämme aufgestaut zur Trink- und Brauchwasserbereitstellung oder als Inspirationskraft in der – nicht nur romantischen – kulturellen Metaphorik. Er unterscheidet Pessimisten und Optimisten unter den aufgeklärten Zeitgenossen, wenn es um die Abschätzung der Konsequenzen der Eingriffe in die Natur geht, und zählt sich selbst zu letzteren. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgt er die Verhältnisse von Landschaft und Umwelt in beiden deutschen Staaten. Auch wenn dem Leser erst ganz am Ende, im Epilog, mit Blick auf die Oder- und Elbehochwasser der jüngst vergangenen Jahre eine breitere europäische Dimension eröffnet wird, ist die Untersuchung über „Water, Landscape and the Making of Modern Germany“ aufgrund breiter Anknüpfungs- und Vergleichsmöglichkeiten als sehr bemerkenswerter Beitrag zur Europäischen Geschichte zu würdigen.

Bei dem auf Platz zwei eingekommenen Titel handelt es sich um Volker Berghahns zusammenfassende Darstellung zur Geschichte der Zwischenkriegszeit, die 2002 in der Europäischen Geschichte des Fischer Taschenbuchverlages erschienen ist und nun bei Princeton University Press in englischer Fassung veröffentlicht wurde. Berghahn wendet sich gegen eine allzu pessimistische Sicht auf das 20. Jahrhundert, wie sie Mark Mazowers „Der dunkle Kontinent“ und Eric Hobsbawms „Jahrhundert der Extreme“ wiedergegeben haben und plädiert stattdessen für ein Denken in Alternativen. Unleugbar sei das 20. Jahrhundert eines der Gewalt, der Kriege, des Genozids, kurz der Brutalität und Intoleranz. Aber es sei eben auch durch eine Industriegesellschaft gekennzeichnet gewesen, in deren westlicher Variante steigender Wohlstand und Massenkonsum eng mit der Stabilität der demokratischen Kultur zusammenhingen und einen Prozess der Rezivilisierung nach dem Völkermorden in Gang gesetzt hätten. Nicht nur am Rande verweist der Autor zwar darauf, dass gleichzeitig die Gewalt in die so genannte Dritte Welt exportiert wurde, aber für die europäische Geschichte sei die Abkehr vom Krieg in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts charakteristisch geworden, nicht zuletzt unter dem Einfluss des siegreichen nordamerikanischen Modells der Konsumgesellschaft. Mit Blick auf diese am Ende positive Bilanz könne die Frage analytisch angegangen werden, welche Faktoren, welches gesellschaftliche Umfeld, die Entfesselung der Gewalt möglich machten, weil im selben Moment nach den Faktoren und dem gesellschaftlichen Umfeld gesucht werden kann, die die Begrenzung dieser Gewaltpotentiale ermöglichten.

So organisiert Berghahn seine Darstellung entlang der Opposition zwischen den auf industrielle Waffenproduktion orientierten Regimes der „Gewaltmenschen“ einerseits und der demokratisch verfassten, „friedlichen massenproduzierenden und massenkonsumierenden Industriegesellschaft“ andererseits. Für das letztere Modell bezieht sich Berghahn auf die USA, während er sich bei der Betrachtung der Gewaltmenschen in Aktion ausführlicher der Geschichte des Nationalsozialismus und des Stalinismus zuwendet.

Die komprimierte Darstellung, die eine außerordentlich bewegte Periode europäischer Geschichte auf handlichen 200 Seiten präsentiert, verzichtet auf die Berücksichtigung der großen Vielfalt von Formen der Gewalt und kann sich auch dem Einzelfall nur sehr knapp zuwenden, aber sie gibt dem Leser einen handhabbaren Leitfaden an die Hand. Gegenüber dem oft zu hörenden Lamento, dass der deutsche Buchmarkt langatmige Kompendien, der amerikanische dagegen griffige Lehrbücher bereit halte, beweist der umgekehrte Publikationsweg dieses Bandes von der deutschen zur englischen Fassung, dass die Verlage hierzulande längst umgesteuert haben und sich dafür auch der Expertise von Autoren aus den USA bedienen.

Vanessa Conze auf Platz drei rückt wiederum die Deutschen in den Mittelpunkt einer europäischen Geschichte, indem sie die „übernationalen Ordnungsvorstellungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts“ (S. 388) analysiert. Damit kann sie eine größere Breite von Europa-Entwürfen einbeziehen, als sich allein auf eine anachronistische Projektion heutiger Europagedanken zu beschränken. Die Gegenwart als Produkt der Rivalität von und der Entscheidung über konkurrierende Projekte also auch hier. Organisationsgeschichte und erneuerte Biographik bilden die tragenden Pfeiler einer Ideengeschichte, die in die Zwischenkriegszeit zurückgreift und das „Überwintern“ der Europakonzepte während des Nationalsozialismus vor allem an Einzelschicksalen verfolgt. Der Abendland-Idee gilt dabei ein gründlich differenzierender Großabschnitt, der vom Ersten Weltkrieg bis zur Paneuropa-Union reicht, gerade weil sie nach der 1945 diskreditierten Reichsidee die Fehlstelle im konservativen Denken über Europa wieder füllte. Dem folgt die ebenso detailreiche Betrachtung der so genannten West-Europa-Idee, die wiederum intensive Gedankenzufuhr von Remigranten erlebte, deren Rolle bei der „Ankunft im Westen“ – zuletzt von Axel Schildt beschrieben – Vanessa Conze ausführlich würdigt. „Westeuropa“ anstelle des „Abendlandes“: So verläuft nach dieser kenntnisreichen Studie der Modernisierungsprozess des deutschen Europadenkens. Man kann leicht daraus schlussfolgern, dass die Bundesrepublik mit diesem Entwurf zwar auf die Liberalisierung und Demokratisierung im Rahmen der alten EU gut eingestellt, jedoch weit weniger auf den Wandel von 1989 und 2004 vorbereitet war.

Den vierten Platz vergab die Jury an einen Sammelband, der weit mehr als ein heterogenes Tagungsprodukt ist. Norbert Frei hat eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen gewinnen können, vergleichend dem Umgang mit den Verbrechen während der Nazizeit in den drei Folgestaaten des Deutschen Reiches sowie in den USA, Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Dänemark, Norwegen, Polen, der Tschechoslowakei, Griechenland, Italien und Kanada nachzugehen. Der vielfach gelobte und hervorragend komponierte Band liefert einleitend Einblicke in die Herausbildung einer Rechtsauffassung und -praxis, die die Verfolgung von Verbrechen gegen Frieden und Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen verurteilbar machte. Die Beiträger haben sich anschließend in ihren Länderstudien bei allen Unterschieden des zugrunde liegenden Materials in einem solchen Maße auf die Leitfragen des Herausgebers eingelassen, dass dieser sowohl eine quantitative Bewertung (rund 100.000 Deutsche und Österreicher, die belangt wurden, gegenüber 330.000 Anklageerhebungen; während die offenkundig weit größere Zahl der einheimischen Kollaborateure sich vergleichbar präziser Erfassung entzieht) als auch eine Deutung des überall relativ rasch abflauenden Interesses an konsequenter Strafverfolgung der Verbrechen liefern kann. Ein echtes Grundlagenwerk der vergleichenden Geschichtswissenschaft und zugleich eine informative Vorgeschichte der heute immer mehr an Bedeutung gewinnenden transnationalen Strafverfolgung von Kriegsverbrechern aus den oberen und unteren Etagen aggressiv vorgehender Regime.

Das breite Spektrum der in den ausgezeichneten Büchern behandelten Themen widerspiegelt, welche Potenziale es in der heutigen Erforschung der europäischen Geschichte zu entdecken gibt, wobei auffällt, dass die Beschäftigung mit dem 20. Jahrhundert einen Schwerpunkt darstellt.

Überschaut man die Juryentscheidung insgesamt, dann zeigen die ausgewählten Bücher ein Interesse an Europa an, dass zu mehr als Sonntagsreden, sondern vielmehr zu quellengesättigter historischer Forschung anregt. Die vordem dominante Nationalgeschichtsschreibung öffnet sich mit all ihrer Professionalität der europäischen Dimension von Geschichte. Reflektiert wird die enge Verquickung von National- und europäischer Geschichte, wo das Denken der (West-)Deutschen über Europa untersucht oder die Auseinandersetzung der Europäer mit den von Deutschen begangenen Verbrechen erörtert wird. Ob sich damit die deutsche Geschichtswissenschaft auf dem Weg von der Nation zur Europäisierung bereits von einem lange zu beobachtenden methodologischen Nationalismus verabschiedet hat, kann man nach der diesjährigen Juryentscheidung noch nicht wirklich beurteilen, denn es handelt sich um Momentaufnahmen der Buchproduktion und des Urteils der Juroren.

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2007“ wurden in der Kategorie Europäische Geschichte folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Blackbourn, David: The Conquest of Nature. Water, Landscape, and the Making of Modern Germany, München 2006. Rezension von Christoph Bernhardt, H-Soz-u-Kult, in Vorbereitung.
2. Berghahn, Volker: Europe in the Era of Two World Wars. From Militarism and Genocide to Civil Society, 1900-1950, Ithaca, NY u.a. 2006. Rezension von Hartmut Kaelble, H-Soz-u-Kult, 21.02.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-123>.
3. Conze, Vanessa: Das Europa der Deutschen, München 2006. Rezension von Andreas Schneider, H-Soz-u-Kult, 08.02.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-087>.
4. Frei, Norbert (Hrsg.): Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006. Rezension von Nina Burkhardt, H-Soz-u-Kult, 13.12.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-194>.
5. Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hrsg.): Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte [Festschrift für Hartmut Kaelble zum 65. Geburtstag], Stuttgart 2005. Rezension von Wolfgang Schmale, H-Soz-u-Kult, 06.10.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-013>.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Zitation
Buchpreis: Essay Kategorie Europäische Geschichte, In: H-Soz-Kult, 20.07.2007, <www.hsozkult.de/text/id/texte-922>.
Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Weitere Informationen
Sprache