HistLit 2005-4: Schwerpunktthema „Geschichte der Geschichtsschreibung“

Von
Jörg Baberowski

Theorien und Geschichten: Anmerkungen zur Geschichte der Geschichtswissenschaft
Essay von Jörg Baberowski, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Geschichte der Geschichtsschreibung belehrt uns darüber, was Historiker über historische Gegenstände gesagt und geschrieben haben und sie zeigt uns, auf welchem Weg sie zu ihrer Sicht auf die Welt gekommen sind. Sie beschreibt, welche Wahrheiten Historiker vor uns gesehen haben. Aber von welchem Historiker ließe sich schon sagen, seine Reflexionen seien Revolutionen des Denkens über die Geschichte gewesen? Historiker sehen die Welt immer wieder anders und während sie sie ansehen, bewegen sie sich im jeweils gegenwärtigen Denken über die Vergangenheit. Solche Bewegungen aber interessieren gewöhnlich nur die Experten, die wissen wollen, wie in ihrem Fachgebiet die Ereignisse der Vergangenheit in der Vergangenheit verstanden wurden. Intellektuelle Anregungen findet man anderswo.

Und so halten sich Ute Daniel und Johannes Fried auch nicht mit der Geschichte der Geschichtsschreibung auf. Sie zeigen in ihren Büchern vielmehr, mit welchen Theorien Historiker ihre Gegenstände erschließen können und sollen. Daniels „Kompendium Kulturgeschichte“ ist mehr als eine Zusammenfassung jener soziologischen und philosophischen Theorien, auf die die Kulturgeschichte sich beruft. Man kann das Buch auch als Bekenntnis zu einer Geschichte verstehen, die nicht länger davon spricht, wie die Welt beschaffen ist, sondern davon, wie Menschen sich diese Welt in ihrem Deuten, Zweifeln und Behaupten selbst erschaffen. Friedrich Nietzsche und Ernst Cassirer, Hans-Georg Gadamer, Michel Foucault und Pierre Bourdieu – ihre Schriften werden daraufhin untersucht, was sie über den Sinn zu sagen haben, den Menschen einander zurufen, und wie Historiker diese theoretischen Überlegungen für ihre Arbeit verwenden können. Am Ende ihres Buches präsentiert Daniel eine Auswahl von Themen und Schlüsselbegriffen. Mit ihnen zeigt sie ihren Lesern, wie Theorie und empirische Geschichtsforschung zusammenkommen. Daniel schreibt verständlich, manchmal polemisch, und sie versteht es, das Gesagte mit Ausschnitten aus den philosophischen und soziologischen Klassikern zu illustrieren. Als Einführung in die theoretischen Grundlagen der Kulturgeschichte ist dieses Buch uneingeschränkt zu empfehlen.

Von anderem Zuschnitt ist Johannes Frieds Buch „Der Schleier der Erinnerung“. Historiker sollen Gedächtniskritik üben, sagt Fried, und die Geschichtswissenschaft müsse als interdisziplinäre Wissenschaft vom Gedächtnis neu begründet werden. Menschen vergessen, sie erinnern sich zu den Bedingungen des kollektiven Wissens, ihre Erinnerungen sind manipuliert, deformiert. Erinnerung ist Selektion, das Gedächtnis manipuliert die Produkte seiner Erinnerung. Wie aber können dann die Historiker von sich behaupten, sie seien Erfahrungswissenschaftler, wenn sie den Erinnerungen, die in den Quellen aufgehoben sind, blind vertrauen und sie für eine Interpretation des Erlebten ausgeben? Die Historiker müssten stattdessen zu Experten der Gedächtniskritik werden. Sie müssen herausfinden, wie das Gedächtnis jeweils erinnert. Nur so werden Historiker ihre Quellen richtig einordnen und umwerten können anstatt sie so zu interpretieren, als spiegelten sie Erinnerungen an das Erfahrene. Fried fordert, die Historiker müssten eine „neurokulturelle Geschichtswissenschaft“ entwickeln. Denn eine Kulturgeschichte, die nicht den ganzen Menschen im Blick hat, sei „sinnlos“ (S. 393). Nur wird sich wahrscheinlich an den hermeneutischen Verfahren, mit denen die Historiker ihre Gegenstände erschließen, nichts ändern, wenn wir uns Wissen darüber angeeignet haben, wie das Gehirn arbeitet. Denn die Interpretationen der Historiker teilen uns nicht die Wahrheit über die Vergangenheit mit, auch dann nicht, wenn sie ihre Deutungen in ein „neurokulturelles Gewand“ kleiden. Gleichwohl: „Der Schleier der Erinnerung“ ist ein intellektuell anspruchsvolles, anregendes Buch, das seine Leser in einer schönen Sprache und mit Beispielen aus der mittelalterlichen Geschichte auch zu unterhalten weiß. Mehr kann man von einem theoretischen Buch eigentlich nicht erwarten.

Eine Geschichte der Geschichtsschreibung gibt es auch noch: Lutz Raphaels Buch über die „Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme“. Es ist keine Einführung in die Theorie der Geschichte, sondern ein Überblick über die Hauptströmungen der Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert. Raphael informiert seine Leser nicht nur über die deutschen Historiker und ihre vergangenen Probleme, sondern auch über die Debatten, die Historiker jenseits der deutschen Grenzen geführt haben. Über den außereuropäischen Kontext erfährt man allerdings wenig, abgesehen von einem kleinen Exkurs über Geschichtswissenschaft in der Sowjetunion. Raphaels Einführung ist übersichtlich gegliedert, sie informiert über die verschiedenen Strömungen und Themenfelder in der amerikanischen und europäischen Geschichtswissenschaft. Besonders hilfreich sind die kurzen Zusammenfassungen wichtiger historischer Werke am Ende eines jeden Kapitels. Kurz: ein nützliches und informatives Buch, dem viele Leser zu wünschen sind. Nur auf die Fortschrittsgeschichte, die in ihm erzählt wird – von der nationalen zur transnationalen Geschichte – hätte Raphael verzichten sollen. Denn Geschichten werden nicht besser. Sie werden anders.

Zitation
HistLit 2005-4: Schwerpunktthema „Geschichte der Geschichtsschreibung“ , In: H-Soz-Kult, 19.10.2005, <www.hsozkult.de/text/id/texte-660>.
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