HistLit 2005-4: Kategorie Geschichte der Frühen Neuzeit

Von
Lars Behrisch

Essay von Lars Behrisch und Stefan Gorißen, Universität Bielefeld

Unter den ersten fünf Titeln, die von der H-Soz-u-Kult-Jury für den Wettbewerb „Das Historische Buch 2004“ gewählt wurden, befinden sich gleich drei englischsprachige Publikationen. Sagt dies etwas über den Zustand des Fachs „Geschichte der Frühen Neuzeit“ im deutschsprachigen Bereich aus? Wohl nicht in dem Sinne, dass die wirklich interessanten Bücher zur Vormoderne nicht in Deutschland, sondern in England oder Amerika erscheinen. Doch zeigt das Votum der Jury eindeutig, dass die Historiker der Frühen Neuzeit den internationalen Austausch womöglich stärker pflegen als manche andere historische Teilsdisziplin im deutschsprachigen Bereich.

Wollte man anhand der Auswahl von Büchern, die im Wettbewerb einen der vorderen Ränge erreichen, auf allgemeine historiografische Trends im Rahmen der Frühneuzeitforschung schließen, so fällt zunächst der ungewöhnliche räumliche Zuschnitt der gewählten Untersuchungen auf: Die klassische Form einer Geschichtsschreibung, die sich auf ein mit den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts deckungsgleiches Gebiet beschränkt, ist dieses Mal unter den ersten fünf Rängen überhaupt nicht vertreten. Nur eine der fünf Studien beschäftigt sich mit der Entwicklung eines frühneuzeitlichen Territoriums, hat also immerhin einen durch die Staatlichkeit definierten Bezugsrahmen. Sonst finden wir einerseits Studien, die ein Thema im europäischen Rahmen behandeln, andererseits aber Mikrostudien, die sich für die Verhältnisse in einer spezifischen Dorfgesellschaft interessieren. Diese Spannung zwischen der Ausweitung und der Einschränkung des räumlichen Bezugsrahmens dürfte im Kontext der Frühneuzeitforschung auch in den kommenden Jahren einen anregenden und weiterführenden Diskussionszusammenhang darstellen.

An erster Stelle ist Peter Burschels Untersuchung über den Umgang mit dem Tod und insbesondere mit dem Martyrium platziert. Auch wenn der Autor sich überwiegend in Territorien des Alten Reichs bewegt, sind seine Fragen ebenso wie viele seiner Ergebnisse doch auf Europa in seiner geografischen und staatlichen Vielfalt bezogen. Die vergleichende Perspektive, die Burschel dabei einnimmt, stellt allerdings nicht den Vergleich zwischen Staaten oder Territorien, sondern die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Konfessionen in den Mittelpunkt. Letztere waren zudem – jedenfalls mittelbar – nicht selten konstitutiv für die Etablierung und Verfestigung von Staaten. Es erleichtert zwar nicht die Forschungsarbeit, überzeugt aber doch im Ergebnis, wenn die Frage nach dem langfristigen Mentalitätswandel vor dem Hintergrund konfessioneller Prägungen und nicht, wie bislang oft üblich, im Rahmen staatlicher Einheiten gestellt wird.

Auch Peter Burke, einer der Altmeister der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung, hat in seiner Untersuchung zur Gemeinschaft stiftenden Kraft von Sprachen und Dialekten stets Europa als ganzes im Blick. Der Autor betont dabei freilich auch die Machtposition, die man sich bereits in der Frühen Neuzeit durch den virtuosen Umgang mit Sprache(n) erwerben konnte. Als prominentes Beispiel führt Burke hier Martin Luther an, der die Annahme päpstlicher Schreiben mit der Bemerkung verweigerte, diese seien nicht ernst zu nehmen, bestünden sie doch nur aus lauter „Küchenlatein“.

Die europäische Makroperspektive bricht nun aber nicht die seit inzwischen drei Jahrzehnten ungebrochene Faszination der Frühneuzeitforschung für den mikrohistorischen Zugriff. Denn die Studie von Sheilagh Ogilvie ist nicht, wie es der Buchtitel nahe legen mag, eine allgemeine Überblicksdarstellung zur Frauenerwerbsarbeit im vorindustriellen Deutschland, sondern vielmehr eine sehr genau aus den Quellen gearbeitete Fallstudie über die Stellung und die Chancen von Frauen im württembergischen Wolltuchgewerbe. Doch im Unterschied zur gleichfalls dem mikrohistorischen Ansatz verpflichteten Studie Rainer Becks betont und diskutiert die Autorin die Repräsentativität ihrer Ergebnisse im Hinblick auf übergreifende Strukturen. Diesem Anspruch kommt sie auch dadurch nach, dass sie mit einem präzisen quantifizierenden Verfahren arbeitet.

Rainer Becks „Landschaftsgeschichte“ des bayerischen Ebersberg hingegen fragt nicht nach der Vergleichbarkeit der von ihm gewonnenen Ergebnisse, sondern betont im Gegenteil die Individualität seines Untersuchungsobjekts, auch wenn dessen Relevanz zu übergeordneten Strukturen nicht in Zweifel stehen kann. Sein Ansatz ist innovativ und faszinierend zugleich, steht doch nicht menschliches Handeln im Mittelpunkt, sondern die sinnfälligen Wirkungen und Spuren menschlichen Handelns im Landschaftsbild sowie – dieser Frage nachgeordnet – die zeitgenössische Wahrnehmung und Beurteilung der Veränderungen der Kulturlandschaft. Rainer Becks Ansatz rückt die Geschichtswissenschaft auf diese Weise wieder an eng die Geografie heran und vollzieht so eine Annäherung, die seit den frühen Generationen der „Annales“ nicht mehr selbstverständlich ist.

Ulrike Strasser schließlich wählt als einzige Autorin eine mittlere Betrachtungsebene: Sie wählt mit dem Herzogtum Bayern ein „klassisches“ frühneuzeitliches politisches Territorium als Beobachtungsraum. Ihr Forschungsprogramm zielt auf die Verflechtung der Dimensionen Geschlecht, Religion und Staatsbildung im 16. und 17. Jahrhundert. Sie kann den Nachweis führen, dass die Stärkung der katholischen Konfession im bayerischen Staat ganz wesentlich über die Festschreibung spezifischer Geschlechterrollen erfolgte, denen damit eine zentrale Rolle bei der Sicherung territorialer Herrschaft zukam.

Ob Todeswahrnehmung, Landschaftsgeschichte oder Geschlechterpolitik als Staatsbildung – die von der H-Soz-u-Kult-Jury ausgewählten Studien belegen das thematisch und methodisch ungebrochene Innovationspotential der Frühneuzeitforschung.

Zitation
HistLit 2005-4: Kategorie Geschichte der Frühen Neuzeit, In: H-Soz-Kult, 11.10.2005, <www.hsozkult.de/text/id/texte-659>.
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