Buchpreis: Essay Kategorie Europäische Geschichte

Von
Frank Hadler

Essay von Frank Hadler, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Leipzig, und Matthias Middell, Universität Leipzig

Betrachtet man die Entscheidung der Jury für den HSK-Buchpreis im Jahr 2008 in der Kategorie Europäische Geschichte, dann fallen drei Dinge besonders ins Auge. Zum einen zeichnet sich – nicht zuletzt mit dem Siegertitel, in dem der Berliner Sozialhistoriker Hartmut Kaelble eine Synthese der Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg unternimmt, aber auch mit Barry Eichengreens Analyse der Wirtschaftsformen nach 1945 und Bernd Stövers Überblick zu den Konflikten der beiden Lager des Kalten Krieges - die wachsende Prominenz der allerjüngsten Geschichte ab. Zum zweiten aber wird diese jüngste Geschichte eingeordnet in langfristige Prozesse, deren Untersuchung nicht vor den Epochengrenzen der Nationalgeschichtsschreibung halt macht und – wie in der zweitplatzierten Enzyklopädie der europäischen Migrationsbewegungen – mehr als drei Jahrhunderte umspannt. Drittens schließlich ist die europäische Geschichte schon lange nicht mehr Geschichte der politisch vorangetriebenen Europäisierung allein, sondern die diesjährige Hitliste reflektiert eine erstaunliche Breite der methodischen Zugänge, von Kaelbles Plädoyer für eine weit gefasste Sozialgeschichte (die sich gleichwohl nicht in der Beliebigkeit allzu vieler „Erweiterungen“ auflöst, sondern sehr präzise ihre Gegenstandsbereiche zu definieren weiß) über Migrations- und Wirtschaftsgeschichte zur Kulturgeschichte einer Stadt und schließlich zur Politikgeschichte der Nachkriegsepoche.

Man wird kaum fehl gehen, wenn man darin ein Zeichen für das Erwachsenwerden der Subdisziplin sieht. Europäische Geschichte ist nicht mehr die bewunderte Ergänzung des Curriculums in vielen Historischen Seminaren, sondern rückt mehr und mehr in den Mittelpunkt des Interesses, so dass sich eine breitere Basis für Methodendebatten und für die Spezialisierung entlang der Dimensionen von Europäisierung (statt der früheren Spaltung nach nationalgeschichtlichem Hintergrund) bietet. Qualifizierungsarbeiten, wie die aus der Feder Ulrike von Hirschhausens über das multiethnische Riga, deuten zumindest die durchaus überdurchschnittliche Initiativrolle einer neuen Generation von Historikerinnen und Historikern der osteuropäischen Geschichte in diesem Feld an. Andere Titel auf der diesjährigen Liste sind eher Synthesen langjähriger Erfahrung mit der Bewältigung des Stoffes auf europäischer Ebene, wobei Hartmut Kaelbles Buch schon aus diesem Grund zu Recht auf Platz 1 gelangt ist, weil der ursprünglich vorrangig an der Konvergenz der „Nachbarn am Rhein“ interessierte Historiker all die Einwände, die eine solche Fixierung allein auf Westeuropa mittlerweile auslöst, souverän verarbeitet: Ostmitteleuropa gehört ganz selbstverständlich mit in den Fokus; Russland und die Türkei werden nicht ignoriert, aber doch auch in ihren speziellen Bindungsfunktion zwischen Europa und Asien gesondert gewürdigt; und schließlich bleibt Europa auch nicht isoliert, sondern wird in einen größeren Weltzusammenhang gestellt, für den Amerikanisierung und Globalisierung die Stichworte sind. Kaelble bewältigt auf reichlich vierhundert Seiten einen datengesättigten Parcours von den sozialen Grundkonstellationen (Familie, Arbeit, Konsum und Lebensstandard sowie Wertewandel und Säkularisierung) über die sozialen Hierarchien und Ungleichheiten (worunter er sowohl die Rolle von Eliten und das weitgefächerte Problem der sozialen Mobilität bzw. der Ursachen für unterschiedliche Mobilitätschancen als auch die Fragen von Migration und Assimilation/Integration behandelt) bis zu den institutionellen Rahmungen in Gesellschaft und Staat (wobei dann nicht nur Wohlfahrtsstaat, Zivilgesellschaft, soziale Bewegungen und Bildung, sondern auch Medien und Urbanität erörtert werden). Das Urteil am Ende über den Stand der Herausbildung eines Europa, dass mehr ist als die Differenz seiner Einzelstaaten, ist abgewogen und fern von teleologischen Beschwörungen, aber doch auch optimistisch. Völlig zu Recht erinnert der Verfasser an die gewaltigen Transformationen in einer vergleichsweise kurzen historischen Periode.

In gewisser Weise fasst auch die kollektiv erarbeitete Enzyklopädie Migration die vielen Vorarbeiten eines Wissenschaftlers zusammen, wenn man zu diesen Vorarbeiten auch den Aufbau eines beeindruckenden internationalen Netzwerkes von Gleichgesinnten zählt. Der Osnabrücker Klaus Bade hat bereits mehrere Überblicke zu Europas Migrationen vorgelegt und ganz beharrlich in dem von ihm geleiteten Forschungszentrum die Kompetenzen aufgebaut, derer es bedarf, um die vielen Verästelungen der temporären und auf Dauer gestellten Wanderungsbewegungen zu verstehen. Gegenüber einer Synthese aus einem Guss und mit einheitlicher Handschrift hat nun auch eine Enzyklopädie ihre hervorhebenswerten Vorzüge: Man bekommt in den meisten Fällen die migratorischen Subsysteme von Spezialisten erläutert, die viele Jahre „ihren“ Ein- und Auswanderern auf der Spur waren und sich im jeweiligen Forschungsstand perfekt auskennen. Damit die Enzyklopädie aber nicht nur vom Buchbinder zusammengehalten wird, bedarf es eines gemeinsamen Konzeptes, das hier Bade mit zwei niederländischen Kollegen, dem Frühneuzeitler Pieter Emmer und dem Labour-Spezialisten Leo Lucassen, sowie mit seinem Osnabrücker Mitstreiter Jochen Oltmer vorgibt. Es bedarf aber auch einer gewissen „Folgsamkeit“ (oder vornehmer ausgedrückt: Kongenialität) der Beiträger, die in diesem Mammutunternehmen viel öfter anzutreffen ist als in manch anderen Kollektivwerken, die das Dilemma begrenzter Kenntnis und weitgefasster Ambition durch Mobilisierung vieler Autoren zu lösen versuchen.

Das auf Platz 3 eingekommene Buch des mit historischen Fragestellungen beschäftigten Ökonomen Barry Eichengreen über die Europäische Wirtschaft seit 1945 verstärkt den Eindruck, dass Gesamtdarstellungen zu Teilbereichen der Geschichte Europas Konjunktur haben. Seine breit angelegte Monographie, die die Geschichte der westlichen Wirtschaftsintegration ebenso profund behandelt wie die staatssozialisitische Wirtschaftswelt, macht einmal mehr klar, wie eng die analytischen Grenzen einer nationalstaatlich- wie nationalökonomisch fokussierten Betrachtung sind. Eichengreen liefert eine Reihe von wirtschaftshistorischen Argumenten für die sich verstärkende Diskussion über den Charakter der 1970er Jahre als Umbruchsjahrzehnt in der internationalen Geschichte. Bis zu diesem Zeitraum, da einerseits der „koordinierte Kapitalismus“ in seiner Konzentration auf extensives Wachstum begann, an Grenzen zu stoßen, und andererseits die institutionelle Ordnung der sozialistischen Planwirtschaft zunehmend durch mangelnde Innovationskraft in einen technologischen Rückstand geriet, hätten sich die industriellen Wachstumsmodelle in West und Ost nur wenig unterschieden.

Die Osteuropahistorikerin Ulrike von Hirschhausen zeichnet in ihrer auf die größte städtische Metropole der Ostseeprovinzen innerhalb des russischen Zarenreiches konzentrierten Beziehungsgeschichte von Deutschen, Letten, Russen und Juden nach, wie während der gut fünf Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg „Grenzen der Gemeinsamkeit“ erreicht wurden. Die Autorin distanziert sich von „nationalzentrierten Modernisierungsparadigmen“ und geht davon aus, dass die am Beispiel Rigas untersuchte Multiethnizität einen „europäischen Normalfall“ darstellte, was sie mit Komparationssonden in Richtung Prag und Odessa versucht zu illustrieren. In Umsetzung der Forderung, sich vom nicht nur in der osteuropäischen Geschichte weit verbreiteten „methodischen Nationalismus“ endlich zu verabschieden, wird der von M. Rainer Lepsius eingeführte Begriff des „sozialen Milieus“ um den Aspekt ethnischer Loyalität erweitert, was zu einer Definition der untersuchten Bevölkerungsgruppen als „ethnische Milieus“ führt. Die Analyse der „Innenwelten“ dieser Milieus erfolgt akteursbezogen anhand von Biografien und Vereinsaktivitäten. Zum weiteren Nachdenken über europäische Vergleichsfälle regen vor allem die Ausführungen über die ethnischspezifischen mental maps an.

Ein paar Jahre nach seinem bei Beck erschienen Kurzabriss „Der Kalte Krieg“ hat Bernd Stöver unter gleichem Titel nunmehr eine umfangreiche Geschichte des „radikalen Zeitalters“ 1945-1991 vorgelegt, die weit über Europa hinausgeht. Mit einem "polyzentrischen" Ansatz, der den Kalten Krieg als globales, multilineares Ereignis begreift, analysiert der Potsdamer Zeithistoriker den im europäischen bzw. transatlantischen Zentrum ohne Militäreinsatz, an der Peripherie (vor allem in Afrika) indes oft blutig ausgefochtenen Systemkonflikt von „sozialisitischer Volksdemokratie“ und „westlichem Modell der liberalkapitalistischen parlamentarischen Demokratie“. Festzuhalten bleibt das Fazit Stövers, dass der mit dem Zerfall der Sowjetunion zu Ende gegangene Dauerkonflikt eigentlich keinen Sieger hatte und „wir bis heute an den Folgen zu tragen haben“.

Mit dem erst- und dem fünftplatzierten Buch haben zwei Titel der diesjährigen Juryauswahl bereits die Grenze der rein akademischen Aufmerksamkeit überschritten, die Bände werden von der Bundeszentrale für politische Bildung zu den dort üblichen günstigen Konditionen und in ausreichend großer Auflage vertrieben und haben damit zumindest die Chance, neue Forschungsergebnisse bis in Schule und Bachelor-Seminare weiter zu tragen. Eigentlich wünschte man sich dies für alle Titel auf dieser Liste.

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2008“ wurden in der Kategorie „Europäische Geschichte“ folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Kaelble, Hartmut: Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Bo Stråth, 13.08.2007 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-113>.

2. Bade, Klaus J.; Emmer, Pieter C.; Lucassen, Leo; Oltmer, Jochen (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2007.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Jan Philipp Sternberg, 23.01.2008 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-1-061>.

3. Eichengreen, Barry Julian: The European economy since 1945. Coordinated capitalism and beyond, Princeton, NJ [u.a.] 2007.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von J Tim Schanetzky, 05.10.2007 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-018>.

4. Hirschhausen, Ulrike: Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860 – 1914, Göttingen 2006.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Anja Wilhelmi, 23.05.2007 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-110>.

5. Stöver, Bernd: Der Kalte Krieg 1947 – 1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Wilfried Loth, 10.07.2007 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-025>.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Zitation
Buchpreis: Essay Kategorie Europäische Geschichte, In: H-Soz-Kult, 26.09.2008, <www.hsozkult.de/text/id/texte-1020>.
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