Buchpreis: Essay Kategorie Mittelalterliche Geschichte

Von
Harald Müller

Essay von Harald Müller, RWTH Aachen

Was haben Grimms Märchen mit der Wissenschaft vom Mittelalter zu tun? Oberflächlich betrachtet verweisen sie durch Figuren wie König und Prinzessin in die Welt des Mittelalters. Bei genauerem Hinsehen haben die Märchen oder genauer gesagt ihre Sammler das Verständnis vom mittelalterlichen Recht maßgeblich geprägt. Vor allem Jacob Grimm suchte und edierte Rechtsregeln und Weistümer, jene im Spätmittelalter schriftlich fixierten Auskünfte über die Rechtsgewohnheiten in Dorf und Gemeinde, ebenso fleißig wie die volksnahen Erzählungen. Der Sammlung beider Textsorten liegt das Verständnis zu Grunde, dass im Mittelalter zunächst alles Wesentliche mündlich tradiert wurde, ehe es im Zeitalter wachsender Schriftlichkeit allmählich zu Texten gerann.

Vom geübten und erinnerten Recht zum niedergeschriebenen Rechtskodex mit hoher allgemeiner Verbindlichkeit, das ist mit wenigen Ausnahmen bis heute die gängige Sichtweise auf die Entwicklung des Rechts insbesondere in den kleinräumigen Lebensgemeinschaften des späten Mittelalters. An die Wurzeln dieses evolutionären Dogmas legt Simon Teuscher mit seinem Buch „Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter“ die Axt. Seine Studie, die in der Kategorie Mittelalter die Jury überzeugt und den Preis „Das Historische Buch 2008“ errungen hat, stellt die auf Grimm zurückgehenden Prämissen infrage und gelangt auf der Basis eines wohlüberlegten Methodeneinsatzes zu gänzlich neuen Ergebnissen. Sie charakterisiert präzise den spätmittelalterlichen Schrifteinsatz im Bereich territorialer Administration und führt in der Konsequenz zu einer völligen Neubewertung der Rahmenbedingungen rechtlicher Normbildung sowie der dazu grundlegenden Quellen.

Teuscher, Professor an der Universität Zürich, stützt seine 2005 als Habilitationsschrift anerkannte Untersuchung auf Weistümer und sogenannte Kundschaftsaufzeichnungen, situativ bedingte Zeugenbefragungen, aus dem Schweizer Mittelland, grob gesagt aus dem Raum zwischen Zürich und dem Genfer See. Dort wurden seit circa 1400 auch alltägliche Geschäfte auf breiter Front schriftlich dokumentiert. Eine Vielzahl von Herrschaften auf engem Raum erlaubt zudem einen dichten inner-regionalen Vergleich. Insbesondere bei der Auswertung der Weistümer geht Teuscher neue Wege, indem er verschiedene Redaktionsstufen der Texte beachtet, nach Formulierungsvorlagen einzelner Elemente sucht und den Einsatz der Dokumente charakterisiert. Immer wieder werden die schriftlichen Zeugnisse in die Situation ihrer Entstehung und ihrer Verwendung zurückgeführt. Auf wessen Initiative gingen sie zurück? Wer fasste sie ab? Wer verwendete sie und in welchem Kontext? Der Inhalt, die Auskunft über die rechtliche Praxis in einem begrenzten Umfeld, wird auf diese Weise als soziales Handeln betrachtet, das in wechselnden Formen des Schriftgebrauches seinen Niederschlag fand.

Ganz offenbar setzte sich im späten Mittelalter allgemein der Gedanke durch, Recht müsste festgestellt und fixiert werden. Man suchte also die Rechtsauskunft, und dies geschah durchaus im Interesse der territorialen Herren beziehungsweise ihrer Amtsträger. Weistümer sind demnach weniger zu Texten geronnene Gewohnheiten einer einstmals schriftlosen Zeit, Produkte eines generellen Trends zur Fixierung auf Pergament. Vielmehr lassen sie sich als Folgen eines gezielten Verwaltungsaufbaus ‚von oben’ erkennen, der durch eine Vielzahl lokaler Weistümer eine territoriale Kohärenz des Rechts im Auge hatte. Teuscher räumt auch die Grundüberzeugung beiseite, die Weistümer folgten einer mündlichen Rechtsweisung. Bei näherem Hinsehen erweisen sich viele als Kompilate aus Kanzleidokumenten, nicht selten scheinen sogar absichtlich bäuerliche Ausdrucksweisen eingeschaltet worden zu sein, um ländliche Authentizität zu suggerieren: Das Weistum der dörflichen Gemeinschaft erscheint mitunter als ein Fake der herrschenden, rechtlich versierten und kanzleigewandten Oberschichten!

Man muss mit Spannung erwarten, wie die Spezialisten, die sich mit ländlichen Rechtsquellen beschäftigen, dieses Buch aufnehmen werden, das die gängige Charakterisierung der Weistümer auf den Kopf stellt; es ist ein aufregender Anreger im besten Sinne. Selbst wenn die Ergebnisse aus dem Schweizer Mittelland nur behutsam in andere Regionen zu übertragen sein sollten, so bietet die gedanklich klare, auch wegen ihrer Prägnanz gut zu lesende Studie eine Reihe grundsätzlicher Beobachtungen, an denen man auch als Allgemeinhistoriker nicht achtlos wird vorbeigehen können. Denn Teuscher verändert nicht nur unseren Blick auf die Weistümer, er zeigt auch, dass die ‚gute alte Zeit’ dort erst gegen Ende des Mittelalters kraftvoll in die Texte hineingeschrieben wurde, um eine Verbindung von Recht und Tradition herzustellen. Das vage „Einst“ diente der aufwertenden Legitimierung lokaler rechtlicher Gewohnheiten in einer Zeit, in der das jus commune mit logisch-systematischer Kohärenz und strikter Schriftform überzeugte. Dieses ‚Einst’, so drängt sich nachdrücklich auf, haben Forscher wie Jacob Grimm oder Fritz Kern offenbar wörtlich genommen und daraus eine Epochenfolge konstruiert, in der mündlich gewiesenes, aus der Tradition gespeistes Recht einem schriftlich-rechtsgelehrten Neuansatz vorausging. Teuscher betreibt also beiläufig Wissenschaftsarchäologie rechtsgeschichtlicher Grundvorstellungen. Nicht zuletzt leistet dieses handliche Buch aber der zu Unrecht von vielen Mediävisten als trocken und zum Teil hermetisch beargwöhnten Rechtsgeschichte dadurch wertvolle Dienste, dass es in überzeugender Weise klarmacht, dass Recht und soziales Handeln aufs Engste miteinander verquickt sind und dass diese Beziehung zu lebendigen Ergebnissen führt, wenn man seinen Blick nicht nur auf die Normen selbst richtet, sondern deren Entwicklung aus den Lebensumständen heraus, die treibenden Kräfte ihrer Aufzeichnung und die sozialen Kontexte ihrer Anwendung einbezieht.

Das zweitplatzierte Buch des diesjährigen Wettbewerbs, Thomas Ertls Berliner Habilitationsschrift „Religion und Disziplin. Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum“ geht in regionaler Konzentration auf Deutschland, aber in enormer gedanklicher Spannweite der Frage nach, inwieweit die neue städtische Lebensform des späten Mittelalters mit ihren Werten und disziplinierenden Normen auf einer franziskanischen Grundlage stand. Für die mühsam ausgefeilten Zielvorstellungen der Minderbrüder erwies sich die urbane Gesellschaft als erfolgreich zu bestellendes Anwendungsfeld. Es geht Ertl um Fragen der allgemeinen Individualisierung und Zivilisierung, deren Wurzeln er in Gestalt der härenen Kutte der Mendikanten freilegt.

Nach Recht und Schriftkultur sowie Individualisierung und sozialer Disziplinierung führt der dritte Preisträger die Leser in die Welt des Hochmittelalters und präsentiert unter dem Stichwort „Erinnerungskultur“ ebenfalls ein aktuelles Paradigma mediävistischer Forschung. Marc von der Höh bietet in seiner Dissertation einen fulminanten Überblick über die historiografische, bauliche, epigrafische und monumentale (Selbst-)Repräsentation der Kommune des hochmittelalterlichen Pisa und führt diese erstmals auch Disziplinen übergreifend analytisch zusammen. An der historischen Identität Pisas arbeiteten Laien und Kleriker, Geschichtsschreiber und Künstler gleichermaßen. Sie schufen ein reichhaltiges, unverwechselbares Identifikationsangebot, in dem die Bürger ihre Kommune als triumphale Stadtgemeinschaft erkennen und sich daran stärken konnten.

Von den monografischen Entwürfen der Plätze eins bis drei unterscheidet sich der von den Juroren auf den vierten Rang gesetzte Sammelband über die Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel. Unter der Federführung von Heribert Müller und Johannes Helmrath verkleinert er endlich eine schmerzhaft empfundene Lücke: Eine Bündelung der Forschung insbesondere zu den beiden großen Konzilien des 15. Jahrhunderts auf dem Boden des Reiches, die auch jüngeren Tendenzen der Mediävistik Rechnung trägt, war lange überfällig. Das Spektrum der (notwendigerweise selektiven) Beiträge reicht von der konziliaren Theorie über theologische, juristische und administrative Aspekte bis zu den performativen Auswirkungen des Konzilsbetriebs auf die gastgebenden Städte. Dass der vorbildliche Tagungsband Referenzcharakter erlangen wird, ist absehbar, dass er impulsgebend wirkt, bleibt zu wünschen.

Bereits 1990 legte Joseph Shatzmiller sein Shylock-Buch in englischer Sprache vor, mit dem er die mittelalterlichen Stereotype vom wucherischen jüdischen Geldverleiher infrage stellte. Der Autor stellt 24 Aussagen eines Prozesses in Marseille aus dem Jahre 1317 in den Mittelpunkt seiner Argumentation, die sämtlich den guten Ruf und das lautere Geschäftsgebaren des jüdischen Geldverleihers Bondavid von Draguignan bezeugen. Shatzmiller nutzt diese Person in eingehender Analyse als Gegenbeispiel zu dem von Kirchenrecht und Volksmund verteufelten Szenario und plädiert vehement für eine stärkere Betrachtung der sozialhistorischen Verankerung derartiger Stereotypen. Die Forschergemeinde begegnete diesem Versuch seinerzeit mit gemischten Reaktionen. Die deutsche Fassung des Buches, die um einen bibliografischen Nachtrag und ein Nachwort des Übersetzers erweitert wurde sowie einen gegenüber der Urfassung korrigierten Dokumentenanhang bietet, schaffte es nun, fast zwei Jahrzehnte später, auf Rang fünf unseres Buchpreises.

Shatzmiller teilt sich diesen Platz mit Israel Jacob Yuval, der sich unter dem Titel „Zwei Völker in einem Leib“ ebenfalls mit der Wahrnehmung der Juden durch ihre christliche Umwelt beschäftigt, jedoch im weit größeren Maßstab der Hostienfrevel- und Ritualmordbeschuldigungen. Auch dieses Buch ist älteren Datums. Es geht im Kern auf einen Aufsatz des Jahres 1993 zurück, der Kontroversen auslöste, die wiederum der Verfasser 1999 in hebräischer, 2006 in englischer und nun auch in deutscher Sprache durch Erweiterung seiner damaligen Argumentation zu bändigen sucht. Dabei geht er von einem dialogischen Grundmuster im Verhältnis beider Religionen aus, das im Titelmotiv der Zwillingsgeburt sichtbar wird. Yuval betont stark den Einfluss des Christentums auf das Judentum, aus dessen Zurückweisung sich die jüdische Identität im Mittelalter speiste.

Zwei Habilitationsschriften und eine Dissertation führen die diesjährige Preisträgerliste an. Das ist ein starkes Indiz für die Klasse der Forschung im Qualifikationsbereich. Mit nicht minderem Grund kann man dieses Ranking als nachdrückliches Plädoyer für das „zweite wissenschaftliche Buch“ lesen, das die dornige via antiqua dem aufstrebenden Forscher abverlangt. So schlecht wie der Ruf der Habilitation sind die aus diesem Verfahren hervorgehenden Schriften ganz offensichtlich nicht.

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2008“ wurden in der Kategorie „Mittelalter“ folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Teuscher, Simon: Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter, Frankfurt am Main [u.a.] 2007.

2. Ertl, Thomas: Religion und Disziplin. Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum, Berlin [u.a.] 2006.
Rezension von Jana Bretschneider, in: H-Soz-u-Kult, 23.10.2007 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-068>.

3. von der Höh, Marc: Erinnerungskultur und frühe Kommune. Formen und Funktionen des Umgangs mit der Vergangenheit im hochmittelalterlichen Pisa (1050 - 1150), Berlin 2006.
Rezension von Christoph Friedrich Weber, in: H-Soz-u-Kult, 10.10.2007 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-032>.

4. Müller, Heribert; Helmrath, Johannes (Hrsg.): Die Konzilien von Pisa (1409), Konstanz (1414 - 1418) und Basel (1431 - 1449). Institution und Personen, Ostfildern 2007.
Rezension von Jörg Schwarz, in: H-Soz-u-Kult, 07.05.2008 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-2-095>.

5. Shatzmiller, Joseph: Shylock geht in Revision. Juden, Geldleihe und Gesellschaft im Mittelalter. Aus d. Engl. übers. und mit bibliograf. Ergänzungen (1990 - 2007) von Christoph Cluse, Trier 2007.

5. Yuval, Israel Jacob: Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter, Göttingen 2007.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Zitation
Buchpreis: Essay Kategorie Mittelalterliche Geschichte, In: H-Soz-Kult, 23.09.2008, <www.hsozkult.de/text/id/texte-1012>.
Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Weitere Informationen
Sprache