Standardizing Psychoactive Drugs and Drug Uses 1900-1970

Standardizing Psychoactive Drugs and Drug Uses 1900-1970

Organisatoren
Toine Pieters / Stephen Snelders, European Science Foundation; Descartes Center, Utrecht
Ort
Utrecht
Land
Netherlands
Vom - Bis
23.04.2009 - 24.04.2009
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Von
Katharina Brandenberger / Magaly Tornay, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftgeschichte, Universität Zürich

In Utrecht trafen sich Historikerinnen, Soziologen und Psychiater aus Europa und den USA, um über die Geschichte von psychoaktiven Substanzen und ihrem Gebrauch zu diskutieren. Zu diesen Substanzen zählen beispielsweise LSD, Opium, THC und die verschiedenen Psychopharmaka wie Antidepressiva, Neuroleptika und Tranquilizer. Die Mehrzahl der Teilnehmenden sind Mitglieder des Networking program „Standard Drugs and Drug Standards“ der European Science Foundation (ESF). Gemeinsamer Orientierungspunkt war die Frage nach Standardisierungsprozessen in der Entwicklung, Regulierung, Vermarktung und dem Gebrauch von psychoaktiven Substanzen.

DAVID HEALY (Cardiff) zeichnete in seinem Referat einige grundlegende Standardisierungsprozesse innerhalb der Medizingeschichte nach, so zum Beispiel den Wandel von der Medizin als ‚Kunst’ hin zu einer statistisch und dienstleistungsorientierten Medizin. In seinem Abriss hob Healy auch die Rolle von Messverfahren hervor, die jeweils zu neuen Krankheitsbildern führten und die Möglichkeit boten, große Risikogruppen statistisch zu definieren. Dazu formulierte Healy einige pointierte Thesen: So würden heute eher Zahlen behandelt denn Patienten. Die Qualitätsstandards für die ärztliche Behandlung hätten auch die Arzt-Patienten-Beziehung verändert. Wo früher ein Arzt über mehrere Besuche hinweg Veränderungen beim Patienten bemerkte, werde er heute zum bloßen Vermittler, der Evidenz über Symptome herstellt und Medikamente verschreibt.

Auch bei der Durchsetzung der neuen Diagnose „bipolare Störung“ spielten Messverfahren wie Checklisten und Beurteilungsskalen eine wichtige, legitimierende Rolle, wie ALLAN HORWITZ (New Brunswick) kommentierte. Die Standardisierung von Risikogruppen ziele zudem, so Horwitz’ These, oft auf einfach messbare und sehr breit verteilte Risikofaktoren. TOINE PIETERS (Utrecht) fragte in seinem Kommentar nach der Stimme der Konsumenten in dieser Entwicklung und verwies auf die zweite Welle der Antipsychiatrie, die heute für ihre eigenen Zwecke ebenfalls mit Evidenz argumentiert.

Anhand von Patientenakten und Publikationen der Berliner Charité gingen MATTHIAS HOHEISEL und VIOLA BALZ (Berlin) den Standardisierungsprozessen um Imipramin (einem Antidepressivum) und Chlordiazepoxid (einem Tranquilizer) in der DDR nach – eine Standardisierung, die letztlich scheiterte. Dabei waren der nationale und lokale Kontext entscheidend: Seit 1961 wurde in der DDR die Politik der „Störfreimachung“ von westlichen Importen umgesetzt. Westliche Arzneimittel sollten entweder durch DDR-Produkte substituiert oder aus sozialistischen Bruderstaaten importiert werden. Die lokale Situation an der Charité war geprägt vom Psychiater Karl Leonhard, dessen enges Diagnoseraster auf Langzeitbeobachtung und Einzelfällen beruhte und einen statistischen, symptomorientierten Zugang ablehnte. Imipramin und Chlordiazepoxid ließen sich beide nicht problemlos in dieses Diagnosesystem integrieren, weil sie bei unterschiedlichen Diagnosen ähnlich wirkten. Obwohl in der Therapie verwendet, scheiterte die Übersetzung in den wissenschaftlichen Diskurs in beiden Fällen.

MAGALY TORNAY (Zürich) sah in dem Beitrag ein „Jeu d’echelles“, bei dem lokale, nationale und internationale Kontexte sowie Praktiken und wissenschaftliche Diskurse eng verwoben sind. Sie warf in ihrem Kommentar die Frage auf, wie das Reproduzieren, Kopieren und Imitieren von westlichen Medikamenten genau vor sich ging und ob es als eine Art Kehrseite der industriellen Standardisierung betrachtet werden könnte.

JESPER VACZY KRAGH (Kopenhagen) konzentrierte sich in seinem Referat auf die psychiatrischen Kliniken in Dänemark zwischen 1908 und 1958. Er arbeitete mit Krankenakten und mit Akten der Danish Psychiatric Society (DAP). Die DAP beeinflusste die Standardisierung von klinischen Tests, Therapien und Diagnosekriterien bereits vor der Einführung neuer psychoaktiver Substanzen in den 1950er-Jahren. Im Weiteren wies der Referent die Kontinuität von Therapien nach. Chlorpromazin ersetzte andere Therapien nicht, vielmehr bestanden verschiedene Behandlungsformen nebeneinander. Ein Wandel fand hingegen beim Aufschreibesystem statt. In den 1930er- und 1940er-Jahren beinhalteten die Krankenakten vor allem ausführliche Beschreibungen des Verhaltens der Patient/innen und Notizen langer Gespräche zwischen Patient/innen und Psychiater/innen. Ab 1950 wurden die Krankenakten vereinheitlicht und bestanden aus kurzen Notizen (vor allem Adjektive wie unruhig, laut, friedlich usw.) über das Verhalten der Patient/innen und Symptomangaben.

Im Kommentar von ULRIKE KLÖPPEL (Berlin) und der anschließenden Diskussion wurde die Forschungsfrage nach den Kontinuitäten und dem Wandel als produktiv eingeschätzt. Damit verbunden ist ein Erkenntnisgewinn über die größeren Transformationsprozesse in der dänischen Psychiatrie seit den 1920er-Jahren. Vor allem die dominierenden Erklärungsansätze psychischer Erkrankungen waren einem Wandel unterworfen, den es genauer zu untersuchen gilt.

TOINE PIETERS und BENOIT MAJERUS (Brüssel) verglichen in ihrer Präsentation die belgische und niederländische Psychiatrie zwischen 1950 und 1970 im Bezug auf die Einführung von Psychopharmaka. Die Referenten beschrieben für beide Länder den Lebenszyklus des Chlorpromazins von Versprechen, Hoffnung und Optimismus hin zu Enttäuschung und Re-Evaluation (Seige-Cycle). Chlorpromazin und weitere Psychopharmaka erwiesen sich als helpful neighbours für bestehende Therapien. Dies ließ die Referenten zum Schluss kommen, dass es mehr Sinn mache von einer ‚psychopharmakologischen Evolution’ als einer ‚Revolution’ zu sprechen. Die Psychiater/innen versuchten auf der Basis von trial-and-error die angemessenen Dosen und entsprechenden Wirkungen herauszufinden. Die lokalen Praktiken waren sehr unterschiedlich. Vor diesem Hintergrund wurde auch der Ruf nach therapeutischen Richtlinien und drug standards interpretiert.

In seinem Kommentar wies DAVID COHEN (Miami) auf zwei wichtige Beobachtungen hin: Erstens waren die Psychiater/innen bereit Chlorpromazin anzuwenden, weil es ähnliche Wirkungen zeigte wie die bestehenden Insulinkuren und Elektroschocks. Zweitens etablierte sich ein tautologisches System, das bis heute Geltung hat: Die Wirkung einer Substanz stützt die Diagnose und umgekehrt.

ALLAN HORWITZ referierte über die Festschreibung von Krankheitsbildern und Zielsymptomen für die Anwendung von standardisierten psychoaktiven Substanzen. Er zeigte auf, wie die dritte Ausgabe des DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder, 1980) und das Aufkommen neuer Antidepressiva mit einem diagnostischen Paradigmenwechsel einhergingen. Depression wurde zu einer zentralen diagnostischen Kategorie und löste die ältere, unspezifische Kategorie ‚Angst’ (anxiety) ab. Die Erklärung psychischer Krankheiten fand sich nicht mehr so sehr im sozialen Kontext der Betroffenen, sondern wurde verstärkt mit biologischen Vorgängen in Zusammenhang gebracht.

In seinem Kommentar warf DAVID HEALY die Frage nach den Akteuren dieses Paradigmenwechsels auf. Erfolgte diese Veränderung eher zufällig oder war sie gewollt und orchestriert? Und welche Rolle spielte dabei die pharmazeutische Industrie als einflussreiche Akteurin? Healy verwies auf Unterschiede in der US-amerikanischen und europäischen Entwicklung der diagnostischen Kategorien. So seien in den USA Krankheiten viel früher auch affirmativ zur Identitätsbildung benutzt worden („I am bipolar“), während in Europa niemand krank sein will, sondern eine Krankheit hat („I have bipolar depression“).

DAVID COHEN analysierte in seinem Beitrag den Evaluationsprozess für die Zulassung von Atomoxetin, einem ADHS-Medikament, in den USA. Grundlage für seine Analyse bildete das online einsehbare, 695-seitige FDA-Zulassungsprotokoll. Der hoch standardisierte Zulassungsprozess führte zu einer Eliminierung der psychoaktiven Eigenschaften von Atomoxetin. Diese tauchten einzig in der Evaluation des Abhängigkeits- und Missbrauchspotenzials, dem möglichen illegalen Gebrauch, wieder auf. Cohen stellte eine Tendenz im Zulassungsverfahren fest, psychoaktive Stoffe als ‚normale’ chemische Mittel zu evaluieren und zu präsentieren und deren psychoaktive Wirkungen auszuklammern. Die Hauptwirkung eines Stoffes wird, so Cohens Schlussthese, auch durch den standardisierten Zulassungsprozess konstruiert, der bestimmte Wirkungen eliminiert.

Cohens Zugang, die Zulassungsprotokolle hinsichtlich ihrer Lücken zu lesen, zeigte laut JESPER VACZY KRAGH die Dominanz der Diagnose gegenüber der Patientengeschichte auf. Er betonte denn auch die Wichtigkeit der Regulatoren und der akademischen Psychiater/innen bei der Festschreibung von Diagnosekriterien. Mit ADHS – und, so Kragh, auch durch die Medikamente Ritalin und Prozac – wurden neu auch Kinder zur Zielgruppe für die Medikamentenentwickler.

PATRICIA BARTON (Glasgow) befasste sich mit dem legalen und illegalen Opiummarkt in Indien. Neben der traditionellen Herstellung werde vermehrt mit neuer Technologie die Qualität des Rohstoffes für den legalen Opiummarkt erhöht. Damit steige die Attraktivität des stabilisierten Rohmaterials auch für Schmuggler und den Schwarzmarkt. Mit einem Sicherheitsgesetz versuche der indische Staat den spillover in den illegalen Markt bei der Kultivierung, der Manufaktur und dem Transport zu verhindern. Die Sicherheitsstandards funktionierten jedoch lediglich auf dem Papier. Solange die Schmuggler mehr bezahlen können als Regierungsorganisationen, so die These, nimmt der Abfluss von Opium in den illegalen Markt mit steigender Nachfrage zu.

STEPHEN SNELDERS (Amsterdam) kam nach diesen Ausführungen zum Schluss, dass die Standardisierung psychoaktiver Substanzen mit dem war on drugs interagiert. Das Stichwort war on drugs führte zu reger Diskussion und erwies sich als Zündung für die Hinterfragung des meist positiv verwendeten Begriffs ‚Standard’. Zwei wichtige Beobachtungen dabei waren: Das Beispiel der Opiumproduktion in Indien zeigt, dass qualitativ hochwertiges Material in den Schwarzmarkt gelangt und Sicherheitsstandards nicht funktionieren. Ein anderer Aspekt, der auf die Kehrseite des Standards verweist, ist, dass das Missbrauchspotenzial von psychoaktiven Substanzen mit wohlklingenden Handelsnamen überdeckt wird.

GEMMA BLOK (Amsterdam) gab einen Überblick über die Geschichte der Methadon-Therapie in den Niederlanden seit 1968. In den 1970er-Jahren, als der Heroinkonsum in Amsterdam stark anstieg, kollidierten zwei Paradigmen der Suchttherapie: die Abstinenz-Orientierung und die Schadensbegrenzung. Nach 1981 konnte sich schrittweise ein Methadon-Programm etablieren, das Ärzte, Gemeindezentren sowie Methadon-Abgabe-Busse einschloss. Die oft normativ geführten Debatten hielten jedoch an. Wie Blok aufzeigte, wurde die Methadon-Abgabe lange lokal verschieden gehandhabt. Einzelne Ärzte, Gemeindezentren, christliche Aktivisten und Abhängige, die sich selbst organisierten, initiierten verschieden ausgerichtete Methadon-Therapien und eine Standardisierung erfolgte schrittweise und spät.

In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, wie die Methadon-Therapien finanziert wurden und inwiefern dies auch einen regulativen Effekt hatte. Zudem wurde der Begriff der Standardisierung in diesem Kontext diskutiert: Wurden die Abhängigen standardisiert oder die Praktiken, und welches war die Arena, in der Debatten über die Methadon-Ersatztherapie geführt wurden? Schließlich kam man überein, dass Blok in ihrem Vortrag die Geschichte einer Standardisierung von unten, eine Grassroot-Standardisierung inklusive aller politischen Aushandlungsprozesse nachgezeichnet hatte.

In der abschließenden Diskussion stand die Frage nach der Definition und analytischen Fruchtbarkeit von Standardisierung als historisch-deskriptives und analytisches Konzept im Vordergrund. Für die Geschichte psychoaktiver Substanzen kann, so das Ergebnis, Standardisierung als eine Art Matrix benutzt werden, vor der Kontinuitäten und Wandel in der Medizin, Psychiatrie und Industrie sichtbar werden. Nebst den psychoaktiven Substanzen selbst wurden eine Reihe weiterer Aspekte standardisiert: zum Beispiel Diagnosesysteme, Krankheitsbilder, Therapien, Aufschreibesysteme und Patientengruppen. Mehrmals wurde in den Diskussionen des Workshops die Interaktion von standardisierter Substanz und einer Standardisierung des Menschen angesprochen.

Mit der Frage nach Standardisierung rückten zudem gegenläufige Prozesse in den Blick: Hindernisse und das Scheitern von Standardisierung, aber auch prekäre Aspekte von psychoaktiven Substanzen selbst, zum Beispiel ihr Abhängigkeits- und Suchtpotenzial, ihre Instabilität und potenzielle Gefährlichkeit.

Ein Ergebnis des Workshops war, dass die Rede von einer ‚psychopharmakologischen Revolution’ in den 1950er-Jahren kritisch hinterfragt und relativiert wurde. Dies zugunsten einer Geschichtsschreibung, die feinere Brüche, Kontinuitäten und schleichende Prozesse ernst nimmt.

Für die weitere Forschung konnten zentrale Begriffe definiert werden: So ist die Frage nach ‚Agency’ bisher zu wenig in die Forschung integriert worden, auch weil die Stimme der Patient/innen in den Quellen oft nur schwer greifbar ist. In diesem Zusammenhang gab auch die Bewertung der Rolle der pharmazeutischen Industrie Anlass zu Diskussionen.

Da die Geschichte der psychoaktiven Substanzen sehr unterschiedliche Akteure, Wissenschafts- und Praxisfelder zusammen bringt, ist auch die Frage nach der ‚Arena’, in der Debatten geführt wurden und Aushandlungsprozesse stattfanden, zentral.

Gerade weil der Standardisierungsbegriff zu weiteren Fragen führte und stets neu definiert werden musste, war er äußerst anregend für den Workshop. Mit der Frage nach einer De-Standardisierung – zum Beispiel Standards, die unterwegs verloren und vergessen gingen – wurde der Workshop beendet.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einleitung: Stephen Snelders und Toine Pieters

(1) Standardization and psychotropic drugs
Chair: Stephen Snelders

David Healy: General overview of the history of standardization in the making and taking of psychotropic drugs
Kommentar: Allan Horwitz und Toine Pieters

(2) Standardization, psychotropic drugs and psychiatric clinics in Northwestern Europe 1950-1975
Chair: Joost Vijselaar

Matthias Hoheisel und Viola Balz: East Side Story: The standardization of psychotropic drugs at the Charité psychiatric clinic 1955-1975
Kommentar: Magaly Tornay

Jesper Vaczy Kragh: Psychotropic drugs, psychiatric organizations and standardization in Denmark
Kommentar: Ulrike Klöppel

Toine Pieters und Benoit Majerus: Psychotropic drugs, psychiatric concepts and standardization in Belgium and the Netherlands (1950-1970)
Kommentar: David Cohen

(3) Standardization of psychotropic drugs as medicine
Chair: Volker Hess

Allan Horwitz: Naming the problem that has no name: Creating targets for standardized drugs
Kommentar: David Healy

David Cohen: Standardizing the evaluation of psychoactive drugs as medicines: The case of atomoxetine
Kommentar: Jesper Vaczy Kragh

(4) Standardizing psychotropic drugs and crossing boundaries between licit and illicit
Chair: Frank Huisman

Patricia Barton: Standardization of the licit opium market and the growth of trafficking in post independence India
Kommentar: Stephen Snelders

Gemma Blok: Methadone in the Netherlands

Schlussdiskussion: Stephen Snelders


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