K. J. Bade u.a. (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa

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Titel
Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart


Herausgeber
Bade, Klaus J.; Emmer, Pieter C.; Lucassen, Leo; Oltmer, Jochen
Erschienen
Paderborn 2007: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
1156 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Philipp Sternberg, Berlin

Giovanni Vassilcovici und seine Familie erreichten Amsterdam im Juli 1869. Auf ihrem Lastkahn transportierten sie vier Bären und einen Affen. Die aus Bosnien stammende Familie hatte die Absicht, die Tiere auf den Straßen der niederländischen Metropole zur Musik ihrer Dudelsäcke tanzen zu lassen. Der Polizeipräsident verbot ihnen jedoch das Betreten der Stadt – der Obrigkeit galten die Bärenführer als Müßiggänger und „Zigeuner“. In den Polizeiakten Deutschlands, der Niederlande und Frankreich tauchten seit den späten 1860er-Jahren immer wieder kleinere Gruppen solcher Bärenführer auf. Einige von ihnen nahmen (mit ihren Bären) an der großen Auswanderungsbewegung nach Nordamerika teil, andere waren noch bis in die 1930er-Jahre in Mitteleuropa aktiv. Mehr als ein paar Tausend bosnische Bärenführer hat es wahrscheinlich nie gegeben; dennoch haben sie jetzt einen Eintrag in der voluminösen „Enzyklopädie Migration in Europa“ erhalten, die auf mehr als 1.150 Seiten und in gut 220 Einzelartikeln Europa als Migrationskontinent vorstellen will – vom 17. Jahrhundert bis heute.

Die Schausteller vom Balkan und ihre Tanzbären lösen bei vielen Lesern wahrscheinlich erst einmal ein Schmunzeln aus. Mit Sicherheit war es nicht die Absicht der vier Herausgeber und renommierten Migrationshistoriker, Klaus J. Bade und Jochen Oltmer aus Osnabrück sowie Pieter C. Emmer und Leo Lucassen aus den Niederlanden, auf diese Weise einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung der Wanderung in und nach Europa zu schaffen – frei nach dem Motto: Vergesst die hugenottischen Réfugiés und die türkischen Arbeitsmigranten, schaut auf diese Bären! Doch die Herausgeber haben eine klare These. Bade hat sie in vielen Zusammenhängen formuliert und stellt sie auch der Enzyklopädie voran: Migration ist der Normalfall der Geschichte, sie ist Grundkonstante der conditio humana, denn „der Homo sapiens hat sich als Homo migrans über die Welt ausgebreitet“ (S. 19).

Bade sieht sich nicht ausschließlich als Historiker, sondern bereits seit den 1980er-Jahren als Politikberater und „kritischer Politikbegleiter“. Das zeigt sich auch an der Enzyklopädie: Sie ist von heute aus gedacht und soll ein Korrektiv bilden zur persistenten Vorstellung, wir lebten im Europa seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Migrationsbewegungen in einer Ausnahme- und Krisensituation. „[…] viele Einheimische, die sich heute über die Integration von Zuwanderern sorgen“, schreibt Bade im Vorwort, seien „selber Nachfahren zugewanderter Fremder“ (S. 15); die Vielfalt der Wanderungen in und nach Europa in der Neuzeit sei aber kaum bekannt.

Vor diesem Hintergrund haben die Herausgeber die Wanderungsgeschichte eines ganzen Kontinents für über vier Jahrhunderte zusammengetragen. In einem solchen Mammutwerk ist eben auch Platz für zwei Seiten „Ursari“, wie die bosnischen Bärenführer sich selbst nannten. Dennoch wäre der Eindruck irreführend, dass die vier Herausgeber und ihre mehr als 200 Autoren eine wahrhaft enzyklopädische Vollständigkeit erreicht hätten oder erreichen wollten, dass zwischen „Ägyptischen ‚Sans-papiers’ in Paris seit den 1980er Jahren“ und „Zyprioten in Großbritannien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ wirklich alle Migranten erfasst, einer Gruppe zugeordnet und analysiert worden wären. „Es konnte […] nie um ‚Vollständigkeit’ gehen“, schreiben die Herausgeber. „Wir bemühten uns vielmehr angesichts der Vielfalt der Bewegungen um die Konzentration auf eine exemplarische Struktur.“ (S. 25f.) Es handelt sich indes – und das macht die wahren Schwierigkeiten dieses Unterfangens aus –, um ein in Teilgebieten leidlich bis gut erforschtes Feld, das zugleich viele dunkle oder nur schwach ausgeleuchtete Stellen aufweist. Die Vielschichtigkeit der europäischen Migration, das macht dieser Wälzer überdeutlich, ist so noch nie dargestellt worden.

Ins kulturelle Gedächtnis einzelner europäischer Gesellschaften sind zweifellos nur wenige Migrantengruppen eingegangen. In Deutschland wären dies auf jeden Fall die Hugenotten Brandenburgs, die „Ruhrpolen“ sowie die Übersee-Auswanderer des 19. Jahrhunderts. Warum andere kaum oder gar nicht mehr in Erinnerung sind, haben die Autoren der Enzyklopädie nicht erforscht; wohl aber ist es eine Leitfrage der Artikel, wie lange sich bestimmte Migranten als Gruppe verstanden, wie sich ihr Selbstbild im Integrationsprozess veränderte, welche Fremdbilder sich die Aufnahmegesellschaft von ihnen machte – und ob die Gruppenidentität und damit auch die Erinnerung an sie möglicherweise am Ende eines intergenerativen Prozesses erlosch.

Die Fragen nach der Integration, nach den Selbst- und Fremdbildern stehen im Mittelpunkt des Katalogs, den die Herausgeber ihren Autorinnen und Autoren mitgegeben haben. Diese hielten sich in der überwiegenden Zahl der Fälle daran und haben zudem durchgängig gut lesbare, qualitativ hochwertige Beiträge mit Verweisen auf den neuesten Forschungsstand geliefert. Bei der Vielzahl der Autoren und unterschiedlichen Forschungstraditionen haben Länderkoordinatoren und Herausgeber hier eine wirklich erstaunliche Leistung gezeigt.

Ein wenig mag es verwundern, dass bei der Auswahl der Gruppen ein sehr offener Migrationsbegriff verwendet wird. Im Fokus stehen vor allem dauerhafte Zuwanderungen in und nach Europa, wobei aber sowohl „freiwillige“ als auch Zwangswanderungen eingeschlossen sind und von den Migranten bei Weitem nicht in allen Fällen staatliche Grenzen überschritten wurden. Doch erweist sich dieser offene Begriff als Vorteil: Als „Fremde“ aus einem anderen sprachlichen, kulturellen und sozialen Raum, denen als Migrantengruppe bestimmte Eigenschaften zugeschrieben wurden, galten eben auch bretonische Dienstmädchen im Paris des 19. Jahrhunderts, polnische Bergarbeiter aus den preußischen Ostprovinzen im Ruhrgebiet oder italienische Arbeitswanderer aus dem Mezzogiorno, die sich nach Norditalien aufmachten. Staatliche Grenzen überschritt keiner dieser Migranten, in die Fremde hingegen kamen sie alle.

Bei der Konzentration auf eigene und fremde Zuschreibungen tritt im einen oder anderen Falle die Frage nach der politischen wie sozialen Agenda der jeweiligen Epoche etwas in den Hintergrund; Migrationspolitik ist nicht der Schwerpunkt der Gruppenartikel, die mit knapp 800 Seiten den Großteil des Bandes ausmachen. Die politischen Kontexte haben die Herausgeber aber nicht vergessen. Hinter die gut lesbaren Kapitel über Idee, Konzept, Realisierung (verfasst von den vier Herausgebern) sowie über Terminologien und Konzepte der Migrationsforschung (Dirk Hoerder, Jan und Leo Lucassen) haben sie einen Länderabschnitt gestellt, der in insgesamt 17 Unterkapiteln die Migrationsereignisse und Migrationspolitiken europäischer Staaten und Regionen beleuchtet.

In der Kombination der Länder- und Gruppenartikel erweist sich die Enzyklopädie, deren englischsprachige Ausgabe 2008 erscheinen soll, als unentbehrliches Hilfsmittel für alle, die sich mit Migration beschäftigen – für Historiker und andere Wissenschaftler ohnehin, aber auch Politiker, Journalisten und andere Multiplikatoren sollten sich vom Umfang dieses wahrhaft großen Wurfs nicht abschrecken lassen.1

Anmerkung:
1 Zu einer ähnlich positiven Gesamteinschätzung gelangt trotz einzelner Kritikpunkte auch Hermann Wellenreuther in seiner Rezension: <http://www.sehepunkte.de/2007/11/13641.html>.