H. Duchhardt: Stein. Eine Biographie

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Titel
Stein. Eine Biographie


Autor(en)
Duchhardt, Heinz
Erschienen
Münster 2007: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
VIII u. 530 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hilmar Sack, Berlin

"Zutrauen veredelt den Menschen, ewige Bevormundung hemmt sein Reifen." Unter diesem Leitsatz des Freiherrn vom Stein sorgen Forderungen nach einem ‚Grundeinkommen für alle' derzeit bundesweit für Aufsehen. Die Ideen des gern als ‚Anthroposoph des deutschen Einzelhandels' bezeichneten Götz Werner, Gründer von Deutschlands zweitgrößter Drogeriemarktkette, finden ihren Nährboden in einer Gesellschaft, die seit Jahren von einem Reformeifer geprägt ist, der sich in der öffentlichen Wahrnehmung zumeist jedoch mehr als Bekämpfung von Symptomen und allenfalls als Lösung von Teilproblemen ausnimmt. Liegt es nicht nahe, da Reform in der Liste deutscher Unworte beständig ganz oben rangiert und der Ruf nach einer "Generation Reform" (Paul Nolte) laut wird, sich mit dem Freiherrn vom Stein an einen der ‚wirklichen' Reformer in der deutschen Geschichte zu erinnern?

Überraschenderweise wurde Stein sehr lange keine umfassende wissenschaftliche Biografie mehr gewidmet. Das Erscheinungsdatum einer Neuauflage der einschlägigen Stein-Biografie von Gerhard Ritter reicht nun schon fast 50 Jahre zurück (1958), ihre Entstehung datiert gar ins Jahr 1931.1 Eine zeitgemäße, auf umfangreiche neu erschlossene Quellen gestützte und dabei zugleich die vielen Einzelstudien der letzten Jahre reflektierende Biografie des Freiherrn vom Stein war daher überfällig. Befreit vom zeittypisch nationalen Tenor um den "Heros Stein" liegt nun eine neue, erfreulich sachliche, im Ton fast nüchterne Darstellung des Mainzer Historikers Heinz Duchhardt vor. Der Zeitpunkt ihres Erscheinens ist gut gewählt. Denn die Biografie ist ein gelungener wissenschaftlicher Beitrag zum Gedenkjahr 2007, in dem Steins 250. Geburtstag und das 200jährige Jubiläum der "Nassauer Denkschrift" gefeiert werden.

In die Biografie mündet Duchhardts mehrjährige Beschäftigung mit dem Gegenstand. Sie ergänzt einen thematischen Sammelband, in dem der politische Akteur und Autor Stein sowie dessen Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte aus unterschiedlicher Perspektive behandelt wurden.2 Den zeitgemäßen Anspruch, sich ideologiekritisch mit Steins Bild in der öffentlichen Meinung und der Erinnerungskultur zu befassen, verfolgt Duchhardt auch in seinem neuen Buch. Er wird hier den Erwartungen gerecht, die er als ausgewiesener Spezialist, vor allem mit seiner Rezeptionsgeschichte zum Westfälischen Frieden, weckt.3

Die Biografie zeichnet in einem chronologischen Aufbau den Karriereweg Steins an den verschiedenen Orten seines Schaffens nach und setzt dabei zugleich die thematischen Schwerpunkte in den einzelnen Lebensphasen: von der Kindheit, Jugend und Ausbildung in der "Lahntalidylle" Nassaus und in Göttingen über die berufliche Laufbahn als preußischer Beamter im westfälischen Steinkohlebergbau bis nach Berlin als zentraler Wirkungsstätte; Duchhardt zeigt Stein auf der Flucht, in russischen Diensten und folgt ihm auf den Wiener Kongress und seinen Alterssitz als "Patriarch von Cappenberg". Aus dieser schon in den Überschriften ortsgebundenen Gliederung fallen die Kapitel über "Steins geistig-politisches Koordinatensystem" und "Stein und die Geschichte" genauso heraus wie die abschließenden Kapitel zu seinem "Nachleben".

Duchhardt nennt sein Buch schlicht "Stein. Eine Biographie". Er verzichtet also auf einen programmatischen Untertitel. Aufschluss über die Motivation für seine Biografie gibt aber der Hinweis auf die Aktualität von Steins "Grenzerfahrung", die – so Duchhardt – viele Menschen des 20. Jahrhunderts, die in verschiedenen Systemen lebten, in ähnlicher Weise hätten machen müssen. Duchhardt gibt so dem Leser eine spannende Lesart an die Hand, ohne im Text selbst unzulässige Analogien herzustellen, zu denen der ‚Vater' der Kommunalverfassung sonst gerne verführt. Er kann plausibel das von ihm konstatierte Faszinosum der historischen Gestalt Stein nachzeichnen, zwei "Welten" angehört zu haben, wobei die eine Welt "aus den Fugen gerät und sich metamorphosenartig in eine neue verwandelt – eine Welt, mit der man sich arrangieren muss, die man mitträgt, mit der man vielleicht aber auch nicht mehr zurechtkommt" (S. 8f.). So gelingt ein facettenreiches Porträt Steins mit all seinen Widersprüchen.

Dass bei dem Unterfangen, die Forschung der letzten Jahrzehnte neu zu bilanzieren und zu gewichten, trotzdem keine wissenschaftlich trockene sondern anschauliche Darstellung herausgekommen ist, verdankt sich auch dem Umstand, dass Duchhardt den bisher nach seiner Meinung immer zu kurz gekommenen ‚privaten' Stein in den Blick nimmt. Duchhardt beschreibt ihn mit offensichtlicher Sympathie nicht nur als Reformer sondern auch als Persönlichkeit, getragen von "moralischer Leidenschaft" und einem "Adel der Resignation", wie Theodor Heuss es bereits 1956 ausgedrückt hatte (S. 450). Dabei werden auch Steins antijüdische Äußerungen nicht ausgeblendet, die – so Duchhardts Urteil – an Aggressivität kaum zu überbieten sind (S. 451). Freiherr vom Stein war berüchtigt für seine offene und klare, dabei nicht selten grobe und – auch Freunde und Weggefährten – verletzende Rede, ein Charakter, der mit Sicherheit weniger ein Mann der "ruhigen Hand" war, sondern bei dem man heute wohl eher von einer "Basta-Mentalität" sprechen würde. Bezeichnend wie bemerkenswert ist, dass Stein in seiner nur kurzen Amtszeit und aktiven Beeinflussung der preußischen Reformpolitik immerhin gleich zweimal entlassen wurde.

Duchhardt beteiligt sich nicht an der von ihm konstatierten Tendenz zum "Denkmalsturz", die er an den Bewertungen Reinhart Kossellecks und Hans-Ulrich Wehlers im Gefolge des Modernisierungsparadigmas festmacht. In Wehlers Kritik an dem "in einen Goldrahmen gefassten Kolossalgemälde" der preußischen Reformen und an Steins "maßlos überschätzter" Bedeutung als "der Historiographie liebstes Kind"4, sieht Duchhardt genauso Verzeichnungen und Verkürzungen wie in den älteren Stein-Bildern (S. 449). Beim eigenen Versuch, Bindungen, Prägungen und Erfahrungen offen zu legen, um Denkmuster ‚verstehbar' zu machen, will Duchhardt Stein in keine Schublade stecken, keinem politisch-ideologischem Lager einseitig zuzurechnen. Liberal sei Stein nur in einem sehr begrenzten Sinn gewesen, freilich auch alles andere als rundum illiberal, andererseits greife auch das Etikett des Konservativen zu kurz, denn ein höchst beachtliches Maß an Reformorientiertheit sei nicht zu übersehen (S. 445).

Ähnlich ausgewogen fällt auch das Urteil über die Nassauer Denkschrift aus. Während Thomas Welskopp sie zuletzt nicht als Programm im Sinne eines konzeptionellen Aufbruchs, sondern vielmehr als eine Kodifizierung langjähriger Verwaltungserfahrungen beschrieb5, betont Duchhardt gegenüber einem einseitigen Verständnis der Schrift als ideologischem Ausdruck der postfriderizianischen Bürokratie ihre besondere Bedeutung im Fluchtpunkt der moralischen Erziehung des Menschen. Gegenüber dem Bild Steins als "Meisterbürokraten"6 steht Duchhardt hier Erich Botzenhardts Urteil von 1955 näher, der Stein als den "politischen Pestalozzi" bezeichnete.7

Die differenzierte Darstellung der wissenschaftlichen Kontroversen und die Ausgewogenheit im Urteil kennzeichnen das gesamte Buch. Mancherorts hätte man sich eine stärkere Parteinahme gewünscht. Es ist daher auch nicht überraschend, dass die Ausführungen in ein Urteil von Hans Rothfels aus dem Jahr 1931 münden, in dem die Dialektik Steins als "halbfeudaler Aristokrat" mit "abgründig-revolutionärer Leidenschaft" bereits auf den Punkt gebracht wurde.8 Duchhardts eigene Bilanz über Steins Wirken ist denn auch geprägt von einem ‚sowohl als auch', denn unter dem Strich bleibe das Öffnen eines Tores in die Moderne, "auch wenn vielleicht nur ein halber Flügel aufgestoßen wurde" (S. 447).

Steins Kritik an den "Wortschnitzlern" und "weitschweifigen Umwickler[n] und Auswickler[n] der Dinge" beherzigend, hat Duchhardt eine leserfreundliche Darstellung auf 450 Textseiten vorgelegt. Dass es ihm gelungen ist, trotz neuer Quellen das Leben Steins nicht mehrbändig auszubreiten, zeugt von der Qualität der in sich geschlossenen, ungemein dichten und dabei gut geschriebenen Darstellung des Lebens- und Karrierewegs eines Mannes, den Duchhardt zu Recht "zu den markanten Figuren der neueren deutschen Geschichte" zählt (S. 455).

Anmerkungen:
1 Ritter, Gerhard, Stein. Eine politische Biographie, 2 Bde., Stuttgart/ Berlin 1931.
2 Vgl. Duchhardt, Heinz (Hrsg.), Karl vom und zum Stein. Der Akteur, der Autor, seine Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Beih. 58), Mainz 2003.
3 Vgl. zum Westfälischen Frieden vor allem. Duchhardt, Heinz (Hrsg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie - politische Zäsur - kulturelles Umfeld - Rezeptionsgeschichte. München 1998; ders., Das Feiern des Friedens. Der Westfälische Friede im kollektiven Gedächtnis der Friedensstadt Münster (Kleine Schriften aus dem Stadtarchiv Münster, Bd. 1), Münster 1997. Vgl. auch Duchhardt, Heinz, Der Freiherr vom Stein und der Westfälische Friede, in: Zeitschrift für Historische Forschung 32 (2005), S. 221-232; und zur Stein-Rezeption ders., "weil […] Stein die Sonne war, um welche all die anderen kreisten". Das Stein-Bild im Wandel der Zeiten, Mainz/Stuttgart 2004.
4 Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 1996 (3) S. 397ff.
5 Welskopp, Thomas, Sattelzeitgenosse. Freiherr Karl vom Stein zwischen Bergbauverwaltung und gesellschaftlicher Reform in Preußen, in: Historische Zeitschrift 271 (2000), S. 347- 372.
6 Vgl. Herre, Franz, Freiherr vom Stein. Sein Leben - seine Zeit, Köln 1973.
7 Botzenhart, Erich / Ipsen, Gunther (Hg.), Freiherr vom Stein. Ausgewählte politische Briefe und Denkschriften, Stuttgart 1955, S. 97.
8 Rothfels, Hans, Stein und der deutsche Staatsgedanke, Königsberg 1931, S. 5f.