J. Baberowski (Hrsg.): Moderne Zeiten?

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Titel
Moderne Zeiten?. Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Baberowski, Jörg
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
205 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Klein, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur

Der vorliegende Sammelband vereinigt sieben Vorträge, die anlässlich des 60. Geburtstages des Tübinger Osteuropa-Historikers Dietrich Beyrau diskutiert wurden. Im Mittelpunkt stehen das zarische Russland und die Sowjetunion; ein Aufsatz von Gerd Koenen vergleicht den Maoismus mit dem Stalinismus und umreißt die charakteristischen Unterschiede in deren Gewaltpraktiken.

Dieter Langewiesche geht der Frage nach, ob im langfristigen Geschichtsverlauf die Kriegsgewalt gegen Nichtkombattanten eskaliert sei, und kommt zu einem Befund, der die gängigen Deutungen des totalen Kriegs als präzedenzloser Eskalationsstufe revidiert. Anhand einer Fülle von Daten auch außereuropäischer Kriege zeigt Langewiesche, dass in der Kriegsgeschichte ein hoher Anteil an zivilen Opfern die Regel war. Lediglich im Europa des 18./19. Jahrhunderts funktionierte eine Selbstbeschränkung der Kriegführenden, so dass die Katastrophenerfahrung des Ersten Weltkriegs ein eurozentrisches Trauma war. Im Zweiten Weltkrieg kehrten die europäischen Staaten also zur ursprünglichen Kampfführung zurück.

Dietrich Beyrau beschreibt die soziale Mobilität der Juden im Russischen Reich als einen allmählichen Akkulturationsprozess, der trotz vielfältiger Zwänge und Rückschläge eine Transformation zur Selbstwahrnehmung als „russische Juden“ förderte. Zugleich entstand eine Gegenkultur der radikalen Intelligencija, die für gebildete junge Juden schon deswegen attraktiv sein konnte, weil sie Traditionsverweigerung, Befreiungspathos und visionäre Deutungskompetenz anbot. Neben den kollektiven Gewalterfahrungen im Ersten Weltkrieg ist diese Gewaltbereitschaft sozialrevolutionärer jüdischer Intellektueller nicht zu vernachlässigen. Andererseits kam die Identifizierung der Juden als Kommunisten durch die ukrainischen, kosakischen und polnischen Truppen nach Krieg und Revolution hinzu, die in den westlichen Rayons der Sowjetunion im Schatten eruptiver Staatsbildungsprozesse zu beispiellosen Pogromen führte. Derlei gewaltbereite Judenfeindschaft, so Beyrau, war aber weniger traditionell russisch, sondern das Produkt mangelnder staatlicher Exekutivmöglichkeiten zur Unterbindung irregulärer Gewalt. Während der Zwischenkriegszeit entfaltete sich für Juden dann eine ganze Bandbreite des sozialen Aufstiegs, der im Sowjetsystem nicht mehr vor den Kreisen der politischen, militärischen und intellektuellen Eliten haltmachte, auch wenn der bodenständige Antisemitismus deswegen nicht verschwand.

Den russischen Bürgerkrieg im Ural und seine Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung untersucht Igor Narskij. Ihm geht es um die Rekonstruktion einer Gewaltkultur zwischen 1919 und 1922, die nur dann verständlich werde, wenn man den Zusammenbruch staatlicher Lenkungs- und Ordnungsinstrumente vor dem Hintergrund der Kämpfe zwischen Roter und Weißer Armee nachvollziehe. Die hierdurch schwer betroffene Bevölkerung stand nicht nur wirtschaftlich, sondern auch mental vor einer unkalkulierbaren Zukunft. Ganz gleich, ob man sich zum Aktivisten einer Seite machte oder zum Mitläufer wurde – in beiden Fällen, so Narskij, trug man einen Gutteil zur Alltagsgewalt bei, weil das soziale Miteinander suspendiert war. Ob die Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges auch für den Ural prägend gewesen war, bezweifelt Narskij jedoch. Für ihn stammte die Alltagsgewalt aus den vormodernen, bäuerlichen Traditionen, Konflikte mit Gewalt zu lösen, was sich in der Bürgerkriegssituation noch einmal massiv gesteigert habe. Narskij beschreibt die fehlende administrative und exekutive Infrastruktur einer vom Machtzentrum weit entfernten Region als Archaisierung der Gesellschaft.

Mit der Frage, ob das sowjetische Lagersystem und die immense Zahl seiner Opfer mit dem Begriff des Völkermords adäquat beschrieben seien, beschäftigt sich Bernd Bonwetsch. Er verwirft in seinem Überblick zu den unterschiedlichen politischen, sozialen und ethnischen Opfergruppen zwischen Bürgerkrieg und Stalins Tod völkerrechtliche Definitionen sowie Begriffe wie Genozid und Demozid. Auch der Versuch, die Ausbeutungsstrategie gegen die Opfer nur im Paradigma volkswirtschaftlicher Entwicklungsschübe vormoderner Regionen zu sehen, greife zu kurz: Wie solle es nationalökonomisch sinnvoll erklärt werden, dass ausgebildete Fachkräfte aller Wirtschaftssektoren aus ihren Berufsfeldern verdrängt und sie zu Kräfte raubenden Arbeiten in Großprojekten deportiert wurden? Stets hatten die Bolschewiki die Einsetzung kompromissloser Gewalt gegen die Feinde des neuen Systems offen thematisiert und institutionalisiert, doch zunächst nicht deren Vernichtung, sondern ihre Fügung in ebendieses System angestrebt. Deutlich wird, dass sich im Stalinismus das Mittel Terror vom Zweck der Identifikation oder zumindest des Wohlverhaltens so stark emanzipiert hatte, dass Gewalt zum Normalfall staatlichen Verhaltens gegen die Bürger geworden war. Kann aber dieser Befund allein mit Machbarkeitsphantasien im ‚social engineering’, mit hierarchisierter Arbeitsteilung und moralischer Indifferenz bürokratischer Entscheidungsträger erklärt werden? Wie steht es um die Selbstwahrnehmung der gewaltbereiten Bolschewiki, permanent bedroht zu werden und gleichzeitig ein sozioökonomisch rückständiges Land in die Zukunft zu führen? Die Brutalität des Regimes lässt sich Bonwetsch zufolge jedenfalls nicht mit angeblichen Zwangsläufigkeiten der Moderne erklären.

Christoph Mick untersucht am Beispiel der Sowjetisierung der Westukraine das Wechselspiel zwischen ethnischen und sozialen Kategorien bei der von Moskau vorgegebenen sozialistischen Umgestaltung der multiethnisch geprägten Bevölkerung nach der Rückkehr der Roten Armee im Sommer 1944. Zunächst ordneten die Parteiführungen in Moskau und Kiew die westukrainische Gesellschaft im Stil etablierter Klassenschablonen und stuften die Agrarbevölkerung sowie die städtische Intelligenz als zu gewinnende Objekte ein. Aber in der ukrainischen Nationalbewegung und ihrer bewaffneten Organisation hatten sie einen Gegner, der auf Grund der sozialen Zusammensetzung, seines antipolnischen Feindbildes und der Vision einer vereinten ukrainischen Nation in der Bevölkerung eine hohe Akzeptanz genoss. Die Organisation Ukrainischer Nationalisten verstand es, die beginnende Kollektivierung, die Sowjetisierung der Bildung und die Einberufung zum Militärdienst propagandistisch auszunutzen. Bald schon spielten vor Ort Klassenkategorien bei der Bekämpfung ukrainischer Partisanen kaum eine Rolle mehr, wenn die regionalen sowjetischen Verwaltungsrepräsentanten erkennen mussten, dass terroristischer Widerstand nicht nur von Popen, Kulaken und westlichen Agenten geleistet wurde. Gerade die Partisanenbekämpfung und die Aussiedlung der polnischen Bevölkerung verdeutlichen die ethnisch geprägte Sowjetisierungsstrategie. Andererseits regierte nicht bloße Destruktion: Wenn das Ziel der Sowjetisierung auf dem Wege der Ukrainisierung zu erreichen war, so konnte die Partei mit der Vereinigung von Ost- und Westukraine sowie mit der Deportation der Polen werben. Anhand verschiedener Ausprägungen des Slogans „national in der Form, sozialistisch im Inhalt“ zeigt Mick deutlich, welche Komponenten bei der Sowjetisierungsstrategie jeweils zum Tragen kamen.

Russlands Mission, Europa nach Asien zu bringen, ist für den Herausgeber Jörg Baberowski das Spezifikum des russischen Weges in die Moderne. ‚Europa’ verhieß in dieser Vision die Bildung eines ethnisch homogenen Nationalstaates mit einheitlichen, von allen Einwohnern akzeptierten Regelwerken bürokratischer Macht. Doch dieser Traum der zarischen Autokratie war eine Negation des vormodernen Vielvölkerreichs. Die Implementierung einer einheitlichen, eurozentrischen Rechts- und Gesellschaftsordnung wurde von den bäuerlichen Untertanen an den Peripherien nicht als Angebot zur Transformation zum modernen, loyalen Staatsbürger begriffen, sondern als Bevormundung durch gelegentlich präsente orts- und traditionsfremde Beamte. Umgekehrt wurden die nichtrussischen Ethnien aus Sicht des Zentrums zuerst als Fremde und zuletzt als Bedrohung der eigenen Ordnungsvision perzipiert. Die Qualifizierung widerständiger Ethnien als vormoderne Barbaren wurde dabei durch die Wissenschaft präfiguriert. Kartographie, Statistik und Rechtsanthropologie lieferten die Empirie der nationalen Homogenisierung durch ‚ethnische Säuberung’. Ethnische Kollektive, in denen diejenigen sozialen Gegensätze fehlten, welche den Bolschewiki als konstituierend für den Lauf der Geschichte galten, und die sich den Sowjetisierungsmaßnahmen verweigerten, wurden nun als feindliche Nationen wahrgenommen und kollektiv terrorisiert.

Jörg Baberowski hat auch die Einleitung des Sammelbandes verfasst, in der das Fragezeichen hinter den „Modernen Zeiten“ aufgelöst und der Leser zur Lektüre angeregt wird. Engagiert plädiert Baberowski dafür, die Massengewalt nicht als zwangsläufige Folge eines Weges in die Moderne zu begreifen. Im Vorgriff auf Langewiesches Beitrag kritisiert er die Rede von den neuen, modernen Kriegen, die realiter doch alte waren, und fordert zur Einbettung von Krieg, Revolution und ‚ethnischen Säuberungen’ in die verschiedenen kulturellen Kontexte der modernen Ordnungsvisionen auf. Mit seiner These, dass die Gewalträume der modernen Diktaturen staatsferne Räume gewesen seien, erinnert er an das Fazit eines anderen Essays aus seiner Feder1, aber man braucht ihm hierin nicht unbedingt zu folgen, um das Buch mit Gewinn zu lesen.

Anmerkung:
1 Baberowski, Jörg; Doering-Manteuffel, Anselm, Ordnung durch Terror. Gewaltexzess und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium, Bonn 2006, S. 90.