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Titel
Herrschen und Verwalten. Afrikanische Bürokraten, staatliche Ordnung und Politik in Tanzania, 1920-1970


Autor(en)
Eckert, Andreas
Reihe
Studien zur Internationalen Geschichte Bd. 16
Erschienen
München 2007: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
313 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hubertus Büschel, Historisches Seminar, Universität Potsdam

Eine politische Geschichte Tanzanias im Prozess der Dekolonisierung war längst überfällig. Es lagen einerseits lediglich Spezialuntersuchungen vor, die – wie die von John Iliffe – vor allem die Herrschaftsinstitutionen des kolonialen Tanganyika oder den Verwaltungsaufbau des dekolonisierten Tanzania in den Blick nehmen.1 Andererseits dominierten Studien, die – häufig ohne Archivalien zur Kenntnis zu nehmen – vor dem Hintergrund des Kalten Krieges verfasst wurden.2 Ostafrika, Tanganyika, Tanzania – so die sich vom Ende des 19. bis in die 1960er-Jahre wandelnden geopolitischen Bezeichnungen für dieses Territorium – rückte wie kaum eine andere Region Afrikas in den Fokus ideologisch aufgeladener Historiographie. Vor allem da das Land ein Hauptaustragungsort der Konkurrenzen zwischen westlicher „Entwicklungshilfe“ und östlicher „Solidarität“ war, insbesondere zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR.

Andreas Eckert erfüllt somit durch seine 2001 an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichte Habilitationsschrift das längst überfällige Desiderat einer Geschichte des modernen Tanzania, die die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, somit die der britischen Kolonialverwaltung, und die ersten Jahre der Unabhängigkeit gleichermaßen in den Blick nimmt. Damit entspricht Eckert den Forderungen zahlreicher Historiker/innen der letzten Jahre, den Prozess des „nation building“ in Afrika bereits in den Bürokratisierungen und Entwicklungsplanungen kolonialer Verwaltungen seit Ende des Ersten Weltkrieges zu erkennen. Denn hier – so das Argument – wurden die Fundamente für Institutionen und ihre Beamten gelegt, die die dekolonisierten Länder prägten und nicht zuletzt ihre Krisen (mit) herbeiführen sollten. Eckert gelingt es die Plausibilität dieser bislang nur selten empirisch belegten These für Tanzania abwägend und reflektiert nachzuweisen.

Auf der Grundlage umfangreicher Archivmaterialien aus den Tanzanian National Archives sowie aus Großbritannien, zahlreicher Interviews afrikanischer Zeitzeugen und zeitgenössicher Printmedien entwirft Eckert eine chronologisch zwischen den 1920er- und 1970er-Jahren aufgebaute Geschichte Tanzanias. In konsequenter Abkehr von gängigen Vorannahmen sukzessiver linearer Entwicklungen nimmt Eckert Kernfragen und Urszenen staatlicher Entwicklung in Afrika in den Blick. So wird die Widersprüchlichkeit „indirekter Herrschaft“ des britischen Kolonialreichs, die trotz aller Reformfreudigkeit immer wieder in kolonialen Autokratismus verfiel, genauso analysiert, wie die Versuche, nach dem Zweiten Weltkrieg Modelle europäischer Wohlfahrts- und Sozialstaatlichkeit zu exportieren, um den Prozess der Dekolonisierung friedlich voranzutreiben. Sodann beschreibt Eckert Kontinuitäten und Diskontinuitäten des unabhängigen Tanzania. Mit dem ersten Präsidenten Julius Nyerere und dem von ihm beschrittenen Weg eines afrikanischen Sozialismus (Ujamaa) distanzierte sich die Regierung Tanzanias augenscheinlich konsequent von der kolonialen Geschichte des Landes. Dass damit aber kein Bruch mit kolonialen Herrschaftspraktiken vollzogen wurde, zeigt Eckert eindrücklich am Beispiel der für afrikanische Staaten südlich der Sahara zu dieser Zeit so zentralen ländlichen Entwicklungspolitik. Verwalter und Entwicklungsbeamte gaben sich herrschaftlich paternalistisch und bevormundend, nutzten ihre bereits im Kolonialismus geknüpften Netzwerke, schürten bürokratische Zwänge und bedienten sich bisweilen an öffentlichen Kassen. Dies führte zu Widerständen unter der Bevölkerung; Entwicklungsprojekte scheiterten (S. 217-260).

Es ist Eckerts Verdienst, dass dieses auf zahlreiche afrikanische Staaten dieser Zeit übertragbare Dilemma des Kolonialismus im Postkolonialismus nicht im Raum stehen bleibt und hierzulande allzu übliche kurzschlüssige Debatten über den Sinn oder Unsinn von „Entwicklungshilfe“ provoziert. Hingegen bezieht Eckert jenes Strukturproblem konsequent auf seinen historischen Kontext. So zeigt er die immensen Schwierigkeiten der Akteure auf, einen postkolonialen Staat aufzubauen, dessen Staatlichkeit aus dem Kolonialismus herrührte: Konzepte europäischer Modernität sollten mit postkolonialen Strategien von Selbsthilfe und „Solidarität“ sowie mit indigenen Strukturen sozialer Organisation verknüpft werden.

Dieser Versuch, staatliche Ordnung in Tanzania aufzubauen, wurde getragen von einer klar vom Rest der Bevölkerung abzugrenzenden Riege afrikanischer Bürokraten. Deren Lebens- und Wirkungsgeschichte legt Eckert auf die Zeitachse seiner Studie und zeigt somit ihre Verflechtung mit der kolonialen und postkolonialen Geschichte. Es sind jene Verwaltungsarbeiter, die unter der britischen Mandatsherrschaft ausgebildet wurden, erste Aufgaben übernahmen und in der Frühzeit des selbständigen Tanzanias Führungspositionen erlangten. Damit gelingt Eckert eine politische Geschichte, die ihre „human fellows“ ernst nimmt.3 Die soziale Herkunft, die Ausbildung und der Habitus der Entscheidungsträger werden als zentrale Hintergründe staatlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Vorkommnisse deutlich. Es wird klar: Das Dilemma, Modernität mit indigenen, traditionellen Strukturen zusammenzubringen, war nicht zuletzt der Biographie der Akteure – wie beispielsweise ihrer Erziehung und Ausbildung in kolonialen Schulen – geschuldet (S. 63-79). Mit europäischer Bildungssozialisation, kolonialem Drill und afrikanischen Klientelbeziehungen wuchsen – so Eckert – „Staatsdiener im Zwischenraum“ heran. Und diese neigten nicht selten dazu, Probleme zu projizieren und vermeintliche indigene, traditionelle Strukturen als Barrieren von Modernität zu überschätzen. Dennoch verstanden es jene Bürokraten als „kulturelle Makler“ ihre Handlungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Sie vermochten es, Praktiken und Erfahrungsmodi zu stiften; und zwar jenseits „binärer kolonialer Muster, die säuberlich zwischen ‚Alt’ und ‚Neu’, zwischen ‚Indigen’ und ‚Westlich’ oder zwischen ‚Tradition’ und ‚Moderne’ unterschieden“ (S. 168). In der Beschreibung und Analyse der Bürokraten erfüllt sich nicht weniger als eine immer wieder artikulierte Forderung von Historikern/innen, endlich die Akteure transkultureller Verflechtungen zu erforschen.

Dass ein solcher Ansatz nicht in Einzelbiographien zerfällt, sondern Typologien der transkulturellen Handlungs- und Erfahrungsmuster „afrikanischer Bürokraten“ eröffnet, ist wiederum Verdienst von Eckerts methodischem Zugang. Eckert geht von einem an Michel Foucault und Heinrich Popitz angelehnten Begriff von Politik aus, der als soziale Praxis nicht statisch ist, sondern aus kontinuierlichen Aushandlungsprozessen und Verschiebungen von Kräftefeldern besteht.4 Es sind keinesfalls passive „Beherrschte“, die den „Herrschenden“ in kolonialen oder postkolonialen Bürokratien gegenübergestellt werden, sondern aktiv handelnde Akteure, die miteinander und mit ihren Vorgesetzten – so Eckert in Anlehnung an James C. Scott – durch offene im Sinne offener, versteckter, verbaler und nichtverbaler Interaktionsformen agieren.5

Insgesamt versteht es Eckert über die politische Geschichte Tanzanias hinaus, innovativ kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Methoden mit sozialhistorischen zu verknüpfen. Daher ist Eckerts „politische“ Geschichte Tanzanias viel mehr, als der Titel der Studie auf den ersten Blick vermittelt. Sie ist ein Beispiel dafür, wie weiterführend akteursbezogene Darstellungen, die Erforschung von Biographien, Erfahrungen und Wahrnehmungen in der Geschichte moderner Staatlichkeit sein können. So verdeutlicht sie, wie global afrikanische Akteure sozialisiert waren und vor welchem transkulturellen Hintergrund sie handelten. Nicht zuletzt zeigt Eckert empirisch die drastischen materiellen und kulturellen Wirkungen des Kolonialismus im Postkolonialismus auf; und zwar da, wo man es auf den ersten Blick am wenigsten erwarten würde, bei den Trägern des neuen unabhängigen Staates.

So ist dieser Studie auch eine zahlreiche Leserschaft außerhalb der Fachdisziplinen zu wünschen, könnte sie doch helfen, unsere Hybris vom Scheitern der Entwicklung Afrikas, die allzu häufig geäußerten Verdachtsmomente von Korruption, Unfähigkeit und Unwillen afrikanischer Bürokraten, einmal wieder aufs Neue kritisch zu hinterfragen.

Anmerkungen:
1 Iliffe, John, Tanganyika under German Rule 1905-1912, Cambridge 1979. Ders., A Modern History of Tanganyika, Cambridge 1979.
2 Herzog, Jürgen, Geschichte Tanzanias. Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Berlin (Ost) 1986.
3 Vgl. zu diesem Ansatz grundlegend: Iriye, Akira, Culture and International History, in: Hogan, Michael J.; Paterson, Thomas G. (Hrsg.), Explaining the History of American Foreign Relations, Cambridge 1991, S. 214-225, hier S. 219; Maier, Charles S., Introduction, in: Ders. (Hrsg.), Changing Boundaries of the Political. Essays in the Evolving Balance between the State and Society, Public and Private in Europe, New York 1987, S. 1-24.
4 Foucault, Michel, Von der Subversion des Wissens, München 1974, S. 95. Ders., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976 (frz. Orig. 1976). Popitz, Heinrich, Phänomene der Macht, 2. Auflage Tübingen 1992, S. 233. Vgl. Lüdtke, Alf, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: Ders. (Hrsg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9-63. Für Afrika: Arens, W.; Karp, Ivan (Hrsg.), Creativity of Power. Cosmology and Action in African Societies, Washington, London 1989.
5 Scott, James C., Domination and the Art of Resistance. Hidden Transcripts, New Haven, London 1990.

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