H. Uhl (Hg.): Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur

Titel
Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts


Herausgeber
Uhl, Heidemarie
Reihe
Gedächtnis - Erinnerung - Identität 3
Erschienen
Innsbruck 2003: StudienVerlag
Anzahl Seiten
226 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Kleiser, Österreichische Exilbibliothek, Wien

„Gedächtnis – Erinnerung – Identität“ lautet der Titel einer neueren kulturwissenschaftlichen Reihe des Innsbrucker StudienVerlags. Ende 2003 ist nun der dritte Band dieser Reihe erschienen. Er enthält die Beiträge einer im November 2002 von der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien abgehaltenen Tagung mit dem ursprünglich angesetzten Titel „Zivilisationsbrüche. Bruchlinien des 20. Jahrhunderts im Gedächtnis des beginnenden 21. Jahrhunderts“.

Der Klappentext wirbt mit einigen als „grundlegend“ ausgewiesenen Fragen: „Warum wurde der Holocaust erst Jahrzehnte nach 1945 als ‚das‘ Zentralereignis des 20. Jahrhunderts wahrgenommen? Auf welchem Weg ist das – zunächst vornehmlich auf die Gedächtnisgemeinschaft der Opfer beschränkte – Gedenken an die jüdischen Opfer der NS-Verfolgung nun zu einem universalisierbaren Phänomen geworden? Und welche Konsequenzen für die Interpretation des Holocaust hat seine nunmehrige Präsenz im Gedächtnis?“ In wessen Gedächtnis sich das Gedenken an die jüdischen Opfer der NS-Verfolgung präsentiere, wird an dieser Stelle nicht näher bestimmt, doch lässt das Publikationsunternehmen seine Nähe zum Konzept eines „kosmopolitischen Gedächtnisses“, formuliert von Daniel Levy und Natan Sznaider1, unschwer erkennen.

Die ebenfalls auf der Rückseite des Buches vermerkten zentralen Thesen, gleichsam als normative Folie den drei genannten Fragen wie auch den Antwortversuchen in den einzelnen Beiträgen unterlegt, verstärken diesen Querverweis. Die Rede ist vom „Zivilisationsbruch Auschwitz“, der „in das Zentrum der Gedächtniskultur vieler europäischer und außereuropäischer Länder“ rücke, vom „Holocaust als ein[em] transnationale[n] Gedächtnisort von globaler Relevanz“, zum Ausdruck gebracht in den „Transformationen des kollektiven Gedächtnisses seit 1945“. Die referierte Problematik verweist auf das spezifische Forschungs- und Erkenntnisinteresse einer interdisziplinären Beschäftigung mit dem „Paradigmenwechsel in der gesellschaftlichen Erinnerung“, getragen von der „Relevanz des Holocaust als historische[m] Bezugspunkt eines ‚Weltgedächtnisses‘“.

Mit Blick auf die subtile Titelmodifikation für den Sammelband und mit Bedacht darauf, wie sehr Metapher, Metonymie und Synekdoche unsere Vorstellungswelt strukturieren und in mittelbarer Weise unser Handeln bestimmen2, wäre bedenkenswert, mit welchen sprachlichen Anstrengungen man hier zu Werke ging: Die generalisierende Zusammenfassung eines Jahrhunderts in der Erinnerung des nächsten wurde für die vorliegende Unternehmung vermittels der Schlüsselwörter „Zivilisationsbruch“ und „Gedächtniskultur“ kodiert. Die Änderung der noch im Tagungstitel enthaltenen, postmodern anmutenden „-brüche“ hin zum singulären „Zivilisationsbruch“ verdankt sich nicht zuletzt der engagierten Diskussion, die das Referat von Oliver Marchart auf der Wiener Tagung entfachte.

Eine analytische bzw. systematische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Gedächtniskultur“ lässt das Buch vermissen. Die einleitenden Worte der Herausgeberin Heidemarie Uhl vermögen den Wunsch nach einer zumindest im Rahmen des Sammelbandes geklärten Verwendungsweise kaum zu erfüllen: Die scheinbare Willkür, mit welcher der Begriff „Gedächtniskultur“ vom (titelgebenden) Singular in unscharfe Pluralformen „transformiert“ wird, mithin von den „Gedächtniskulturen europäischer Länder“ und den „Gedächtniskulturen der Opfer und Täter“, von „der öffentlichen Erinnerungskultur“ und „der Erinnerungskultur“ schlechthin, das heißt von „Gedächtnis“ und „Erinnerung“, „Kultur“ und „Kulturen“ quasisynonym die Rede geht, ist einer präzisen, theoretisch fundierten Ausformulierung kulturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung wenig zuträglich. Was macht also, fragt die aufmerksame Leserin, eine „Erinnerungskultur“ aus, um von solchen lokalen, nationalen oder gar kosmopolitischen „Kulturen“ sprechen zu können?3

Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen ist die vorliegende Unternehmung in vieler Hinsicht sehr verdienstvoll. So skizziert Dan Diner für die Publikation den Entstehungszusammenhang des von ihm geprägten Wortes „Zivilisationsbruch“. Diners Kritik an anthropologischen Interpretationen der „vornehmlich von Juden erlittene[n] Negativität“ (S. 17), denen er „eine historische Perspektive“ (ebd.) gegenüberstellt, wird durch einen detailreich kommentierten Anmerkungsapparat ergänzt.

In dem Beitrag von Oliver Marchart geht es um das Phänomen der „globalen Universalisierung der Holocausterinnerung“ (S. 51) bzw. um eine präzise theoretische Differenzierung von Universalität, Singularität und Partikularität des „Zivilisationsbruchs Auschwitz“. Marcharts hegemonietheoretische Auseinandersetzung enthält die gewichtige Aussage, „dass der Holocaust außerhalb der atlantischen Welt eine wesentlich geringere Rolle spiele als die Geschichte des europäischen Imperialismus und Kolonialismus“ (S. 54). Dieser Erkenntnis ist eine fundierte Kritik an dem erwähnten Buch von Levy und Sznaider unterlegt, in der Marchart die Levy/Sznaider’sche Interpretation einer „Universalisierung qua Mediatisierung des Holocaust“ als „Depolitisierung des Erinnerungsmodells“ entlarvt (S. 55).

Mit den Beiträgen von Norbert Frei („Deutsche Lernprozesse“), Elisabeth Brainin („Gibt es eine transgenerationelle Transmission von Traumata?“) sowie von Ines Garnitschnig, Stephanie Kiessling und Alexander Pollak („Wehrmacht und Nationalsozialismus im Geschichtsbewusstsein von jugendlichen BesucherInnen der Ausstellung […]“) wird versucht, der Problematik der unterschiedlichen Geschichtserfahrungen und Erinnerungsformen von nationalsozialistischer Vergangenheit sowie ihren generationsbedingten Zu- und Umgangsweisen gerecht zu werden.

Cornelia Brinks differenzierte Auseinandersetzung mit „Kontinuitäten und Transformationen fotografischer Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen“ (S. 67) zählt neben den erkenntnistheoretischen Aufsätzen von Diner und Marchart zu den anspruchsvollsten des Sammelbandes. Anhand dreier „Thematisierungskonjunkturen“ – im Jahr 1945, von 1960 bis 1965 und seit 1995 – verdeutlicht Brink ihre These vom kontextgebundenen Eigenleben der Fotografien.

Einen diffusen Eindruck hinterlässt hingegen die Lektüre des Beitrags von Brigitte Straubinger über „Erinnerung ‚modo austriaco‘ – zu Gerhard Fritschs ‚Österreich-Roman‘ ‚Moos auf den Steinen‘.“ Dem Fachpublikum bietet die allzu verkürzte Darstellung der kulturpolitischen Situation in Österreich nach 1945 nichts Neues. Einem literarhistorisch ambitionierten Publikum haben ExpertInnen das für eine österreichische Literaturgeschichte bedeutende Werk- und Wirkgefüge des Autors Gerhard Fritsch längst schon präzise näher gebracht.4

Für Heidemarie Uhl ist die Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie „Holocaust“ im Jahr 1979 Exempel einer „gewissermaßen externen Intervention in die diskursive Ordnung des österreichischen Gedächtnisses“ (S. 154). Uhls erinnerungstheoretische Überlegungen zu den „Transformationen des österreichischen Gedächtnisses“ (S. 153) werden durch drei weitere Beiträge über „Verschiebungen des Gedächtnisses im zentral- beziehungsweise osteuropäischen Raum“ (S. 12) ergänzt: Rudolf Jaworski schreibt über „Umstrittene Gedächtnisorte in Ostmitteleuropa“, Tomasz Szarota über „Orte der Verbrechen und Massenmorde der Jahre 1939–1945“ am Beispiel Polen, und Éva Kovács stellt einen „konsensuellen ‚lieu de mémoire’ der Shoa in Ungarn“ in Frage (S. 209).

Eine nachträgliche Verständigung der TagungsteilnehmerInnen über die Bedeutung und legitime Verwendung der zu Leitbegriffen erhobenen Komposita „Zivilisationsbruch“ und/oder „-brüche“, „Gedächtnis-“ und/oder „Erinnerungskultur“ sowie über die „Universalisierung“ und/oder „Globalisierung der Erinnerung“ scheint es nicht gegeben zu haben; eine Fortsetzung der Diskussion wäre wünschenswert. Sowohl die zentralen Thesen – allen voran die einmal fragend, einmal als Selbstverständlichkeit, wenngleich (noch) in Anführungszeichen gesetzte Rede vom „globalen“ oder „Weltgedächtnis“ – als auch deren affirmative bis kritische Aufnahme in den einzelnen Textbeiträgen sollten doch zu einigen grundsätzlichen Überlegungen hinsichtlich methodischer Stringenz, theoretischer Konzepte und Metasprache einer sich mitunter historisch, zumeist kulturwissenschaftlich deklarierenden, jedenfalls interdisziplinären Unternehmung „Gedächtnisforschung“ veranlassen.

[Redaktioneller Hinweis: Eine ausführlichere Fassung dieser Rezension ist nachzulesen im Online-Buchmagazin des Wiener Literaturhauses unter http://www.literaturhaus.at/buch/fachbuch/rez/Zivilisationsbruch/.]

Anmerkungen:
1 Levy, Daniel; Sznaider, Natan, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001 (siehe dazu die Rezension von Jan-Holger Kirsch: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/GA-2002-020).
2 Siehe etwa Reisigl, Martin, Anmerkungen zu einer Tropologie des Historischen und Politischen, in: Panagl, Oswald; Stürmer, Horst (Hgg.), Politische Konzepte und verbale Strategien. Brisante Wörter – Begriffsfelder – Sprachbilder, Frankfurt am Main 2002, S. 185-220.
3 Lediglich kursorisch sei auf die seit gut einem Jahrzehnt in den Überschriften von Sammelbänden und Aufsätzen verwendeten Ausdrücke „Gedächtniskultur“ und „Erinnerungskultur“ verwiesen. Ihnen sind bislang viele unterschiedliche, mehr oder weniger plausible, mitunter synonyme Bedeutungen zugeschrieben worden. In einem engeren Sinn ist mit „Gedächtniskultur“ die Kultivierung des Gedenkens gemeint. In einem weiteren Sinn reichen die Verwendungsweisen der beiden Termini von „Erinnerungsgemeinschaft“ bis hin zu einer Gleichsetzung von „Gedächtniskultur“ mit „kulturellem Gedächtnis“. Vgl. hierzu jüngst Cornelißen, Christoph, Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 548-563.
4 Siehe insbesondere Menasse, Robert, Die Ohnmacht des Machers im Literaturbetrieb. Zu Tod und Werk von Gerhard Fritsch, in: Ders., Überbau und Underground. Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Essays zum österreichischen Geist, Frankfurt am Main 1997 [zuerst Wien 1990], S. 127-144.

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