Cover
Titel
La nuit blanche.


Autor(en)
Farge, Arlette
Erschienen
Anzahl Seiten
96 S.
Preis
€ 12,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claire Gantet, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

Das Buch ist keine Forschungsarbeit, sondern ein Essay über Pierre Le Roy, den achtzehnjährigen Sohn eines Webers aus Cambrai, der die konfusen Pariser Unruhen der 1770er-Jahre nach Cambrai übertragen wollte und wegen Gotteslästerungen und Verleumdungen gegen lokale Notabeln gerädert wurde. Arlette Farge versucht, die letzte Nacht des Beschuldigten vor seiner Hinrichtung zu rekonstruieren – der Titel des Buches, „la nuit blanche“ (wörtlich: „die weiße Nacht“) leitet sich ab von dem Ausdruck „passer une nuit blanche“, d.h. „eine schlaflose, durchwachte Nacht verbringen“. Zu rekonstruieren oder aber zu konstruieren: Die Autorin erfindet letztlich als Historikerin die Gefühle und die Erinnerungen des Angeklagten vor seinem Tod. Hier liegt die Ambivalenz des Vorhabens.

Arlette Farge stellt ihr Buch als eine Gelegenheitsarbeit dar. Eine Intendantin hatte sie um ein „historisches“ Theaterstück gebeten, das das Leben des Volkes gegen Ende des 18. Jahrhunderts vorstellen sollte. Obwohl die Intendantin schließlich andere Texte von Arlette Farge inszenierte, veröffentlicht die Historikerin in diesem Buch ihr ursprünglich für das Theater vorgesehenes und ergänztes Manuskript. Vor diesem Hintergrund fügt sie ein legitimierendes Vorwort hinzu: Sie ziele darauf ab, eine Fiktion zu verfassen, „aber eine Fiktion, die auf der Grundlage von dem, was ich von meiner üblichen Arbeit als Historikerin des 18. Jahrhunderts wusste, lag“ (S. 7). 1 Das eigentliche Ziel besteht darin, die Archive „sprechen zu lassen“. Deswegen ist dieser Essay „weder ein Buch noch ein Theaterstück, sondern eine erzählende und darlegende Stilform“ (S. 9). 2 Die Historikerin, schon Verfasserin eines Buches zum „Geschmack des Archivs“ 3, will nicht Akten analysieren, sondern die „Emotion“, die „Sucht“ und das „Vergnügen“ des Historikers, der Bruchstücke über bzw. von unbekannten Leuten in Gerichtsakten entdeckt. Zugleich möchte sie durch eine Art Empathie die alltäglichen Emotionen des Volkes des 18. Jahrhunderts wenn nicht wiederherstellen, so doch zumindest wieder finden.

Trotz dieser Kautelen der Verfasserin ist das Buch keine Gelegenheitsveröffentlichung. Denn seine Schwerpunkte entsprechen den Forschungsthemen von Arlette Farge: das Volk, der Körper, die Öffentlichkeit und die Politisierung im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Dabei hat sie auf der einen Seite den Institutionsbegriff von Foucault weiterentwickelt und untersucht, inwieweit eine Stimme des „Volks“ jenseits der von der Kontrolle der staatlichen bzw. kirchlichen Einrichtungen verursachten Kraftverhältnisse zu finden ist4; auf der anderen Seite kritisiert sie den Öffentlichkeitsbegriff von Habermas, insoweit sie ihn nicht als Charakteristikum der bürgerlichen Elite betrachtet, sondern als einen komplexen, vom Volk - nicht zuletzt durch die jansenistischen „Nouvelles ecclésiastiques“ - auch miterlebten Prozess. 5 Daher findet man in „La Nuit blanche“ auch einige Erwähnungen zu „Körper“ (S. 48; S. 69-83), „Publikum“, „Ordnung“ und „Gerüchten“ (S. 48, 87) sowie zu der „Plattheit“ des Alltags (S. 87).

Das Buch mischt Texte verschiedener Natur – Archivstücke, erfundene Dialoge, Fiktion und historische Brüche – und entwickelt so ein komplexes Verfahren, das einen „empathischen“ Blick auf die Individuen mit einer allwissenden Perspektive von oben verbindet (S. 25, 30). Aufgrund dieses Schwankens zwischen historischer Darlegung und literarischer Fiktion ist der Stil des Buches ziemlich impressionistisch und rhetorisch. Eine Figur, „Ange, der Musikant“, spielt die Rolle des Chors der antiken Tragödie als Mittelsperson zwischen der Szene und dem Publikum. Das Buch endet mit einer ganz klassischen Moralität – Dechristianisierung und Desakralisierung gegen Ende des 18. Jahrhunderts (S. 87).

Der sich aus der Lektüre dieses Buches ergebende Eindruck ist ein unbehagliches Gefühl. Der Leser wird sich wahrscheinlich fragen, worauf das Buch zielt und an welches Publikum es sich eigentlich richtet. Der Historiker ist enttäuscht, nichts über Cambrai, nichts über Paris, nichts über Pierre Le Roy und nichts über die Nacht und den Traum als historische Gegenstände gelernt zu haben. Denn wenn in einem solchen Maß Geschichte mit Fiktion vermischt wird, läuft man dann nicht Gefahr einer Auflösung der Geschichte als Wissenschaft? Sollte der Historiker nicht Abstand zu seinem Material behalten? Dennoch ist die Lektüre an diesem Punkt am interessantesten, insofern sie die alte Debatte um das Verhältnis zwischen Geschichte und Fiktion neu stimuliert.

Anmerkungen :
1 „Mais d’une fiction qui avait pour socle ce que je savais par mon travail habituel d’historienne du XVIIIe siècle“.
2 „Ce n’est pas un livre, ni une pièce de théâtre, c’est une forme d’écriture qui raconte et qui expose“.
3 Farge, Arlette, Le Goût de l’archive, (La librairie du XXe siècle), Paris 1989.
4 Farge, Arlette, Vivre dans la rue à Paris au XVIIe siècle, Paris 1979 ; Dies. (in Zusammenarbeit mit Michel Foucault), Le Désordre des familles. Lettres de cachet des Archives de la Bastille, Paris 1982 ; Dies., La Vie fragile. Violence, pouvoirs et solidarités à Paris au XVIIe siècle, Paris 1986; Dies. (in Zusammenarbeit mit Jacques Revel), Logiques de la foule. L’affaire des enlèvements d’enfants, Paris 1750 (Textes du XXe siècle), Paris 1988.
5 Farge, Arlette, Dire et mal dire. L’opinion publique au XVIIIe siècle (La librairie du XXe siècle), Paris 1992 ; Dies., Le Cours ordinaire des choses dans la cité du XVIIIe siècle (La librairie du XXe siècle), Paris 1994.

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