R. Darnton: Darnton, Poesie und Polizei

Titel
Poesie und Polizei. Öffentliche Meinung und Kommunikationsnetzwerke im Paris des 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Darnton, Robert
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
120 S.
Preis
€ 9,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franz Mauelshagen, Universität Bielefeld

Was hat Poesie mit Polizei zu tun? In Paris, Mitte des 18. Jahrhunderts, vieles, weil der französische König um sein Ansehen in der Bevölkerung bangt, weil am Hof Intrigen gesponnen werden, von denen in Pariser Wirtshäusern gesprochen wird, und weil Dichtung eine Form ist, Protest zu formulieren – polemisch, witzig, derb, oft flach und sogar ordinär diffamierend. Paris 1748/49, das ist Frankreich zur Zeit Ludwigs XV. und seiner bürgerlichen Maitresse, der verhassten Madame Pompadour; Frankreich nach dem gewonnenen Österreichischen Erbfolgekrieg (1740-1748) und dem anschließend „verlorenen“ Frieden von Aachen; Frankreich zur Zeit der „affaire du prince Edouard“ – jenem „Bonnie Prince Charlie“, der als Anwärter auf den englischen Thron in Paris weilt und, als er nicht mehr in die französische Politik passt, dort verhaftet und kurzerhand über die Landesgrenzen abgeschoben wird; schließlich ist es auch das Frankreich, in dem Ludwig XV. gerade eine Kriegssteuer, den „dixième“, in eine Nachkriegssteuer, den „vingtième“, verwandelt hat und damit allgemeine Unzufriedenheit weckt.

Dies sind die Themen, die Robert Darnton in Liedern und anderen Dichtungen dieser Jahre wiederfindet. Sie bilden den Kontext der „Affaire des Quatorze“, von der diese faszinierende Mikrostudie ihren Ausgang nimmt. Als sich die Pariser Polizei im Frühjahr 1749 auf die Suche nach dem Autor einer Ode machte, die die Entlassung des vormaligen Ministers de Maurepas zum Anlass für Schmähungen des Königs genommen hatte, deckte sie nach und nach ein Netzwerk von vierzehn Personen (Abbés, Priestern, Studenten, Professoren, Schreibern) auf, die zugaben, dieses und fünf weitere politische Gedichte ausgetauscht zu haben. Keiner von ihnen wollte jedoch Urheber negativer „Panegyrik“ sein. Alle vierzehn wurden Monate in der Bastille festgehalten, ehe sie zur Verbannung in die Provinz geschickt wurden.

Auch wenn das Netzwerk von vierzehn Personen nur einen Ausschnitt, vielleicht nicht einmal mehr als eine Episode in der Verbreitungsgeschichte von sechs Gedichten bildet (vgl. S. 119), bieten die Polizeiakten damit doch eine seltene, wenn nicht singuläre Quelle der politischen Kommunikation im vorrevolutionären Paris. Darnton reizt das Spektrum der Interpretationsmöglichkeiten bis zur „oral history“ aus (S. 86-99) und zeigt auf, wie Poesie in der Abschrift und im Auswendiglernen verwandelt, ergänzt und überspitzt wurde. Die Chansonniers bieten häufig unterschiedliche Fassungen desselben Liedes und auch damit zweifellos nur Momentaufnahmen im unablässig transformativen Aneignungsprozess. Autorschaft verschwindet da nicht nur in der Anonymität eines unbekannten Einzelnen, sie zerstäubt unter den vielen namenlosen Mitautoren. Es ist schon meisterhaft, wie Darnton solche Zusammenhänge mit der Leichtigkeit der Erzählung schildert.

Man könnte es mit dieser Feststellung bewenden lassen, würde er nicht ein ambitionierteres Projekt verfolgen, das schon seinen früheren Studien zur Literatur am Vorabend der Französischen Revolution zugrunde lag: das auf eine Trilogie angelegte Projekt, auf dem Weg über die „Encyclopédie“ und die Untergrundliteratur die Genese einer öffentlichen Meinung zu erforschen, die schließlich die Französische Revolution hervorbrachte. Man kann die vorliegende Mikrostudie durchaus als Reaktion auf Einwände lesen, die gegen dieses Modell formuliert wurden, wobei sie nirgendwo durch kontrovers-historiographische Züge entstellt ist. Roger Chartier hat Anfang der neunziger Jahre die Grundsatzfrage formuliert, ob Bücher Revolutionen machen.1 Natürlich lässt sie sich niemals eindeutig mit Ja oder Nein beantworten. Auch Darnton hat dies nie versucht. Seine Untersuchungen zur mündlichen Kommunikation bedeuten aber eine bemerkenswerte Erweiterung und Stärkung seiner Argumentation für die meinungsbildende Wirkung von Texten jenseits der Lektüre.

An einer anderen Grundsatzfrage jedoch werden sich nach wie vor die Geister scheiden. Wenn Darnton am Ende seines Buches den „Monsieur le Public“ – Personifikation der „realen“ öffentlichen Meinung im Anschluss an Louis-Sébastian Mercier – mit der französischen Revolution über seinen Widerpart, die philosophische Idealform, und ihre Urheber (Philosophen wie Condorcet) triumphieren lässt (S. 147), so will er damit zugleich selbst den Triumph über die heutigen Theoretiker der öffentlichen Meinung, besonders Habermas und Foucault, davontragen. Auf ihre Theorien geht er schon am Anfang des Buches in einem äußerst knappen Abschnitt ein. Zwei Seiten genügen für die Feststellung: „keine von ihnen ist besonders hilfreich, wenn es darum geht, das von mir aus den Archiven beschaffte Material theoretisch aufzuarbeiten“ (S. 12). Das mag durchaus sein. Und zweifellos ist es leserfreundlich, wenn man nicht gleich zu Anfang – wie in wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten hierzulande wohl unvermeidlich – mit einer langwierigen und theoretisch überfrachteten Standpunktbestimmung in der kaum noch zu überblickenden Debatte über Habermas, Foucault und das Problem der Öffentlichkeit konfrontiert zu werden. Das geschieht jedoch um den Preis von Verkürzungen, in diesem Fall besonders der diskursanalytischen Position. Für Darnton scheint sie in der Behauptung aufzugehen, dass es keine öffentliche Meinung vor Erfindung eben dieser Bezeichnung gegeben habe (S. 11, 133).

Auf dieser Folie liest sich das Schlusswort wie eine direkte Antithese: Die öffentliche Meinung „war eine Kraft, die aus den Straßen hervorquoll, die schon zu Zeiten der Quatorze verdächtig und vierzig Jahre später nicht mehr aufzuhalten war, als sie alles, was ihr in die Quere kam, einfach hinwegfegte – mitsamt der Philosophen, ohne sich um deren Versuche, sie diskursiv zu konstruieren, auch nur im geringsten zu scheren.“ (S. 147) Hier sind wohl weniger die Philosophen des 18. Jahrhunderts als die der Gegenwart gemeint. Darnton ist fest davon überzeugt, seine Untersuchung zu der Existenzbehauptung verdichten zu können, dass es die öffentliche Meinung gab und dass sie sich „auf der Straße“ langsam formierte (S. 142) – das heißt: vor Entdeckung ihrer modernen Bezeichnung, jenseits des Diskurses über sie, gegen alle Diskursanalytiker, Konstruktivisten und Dekonstruktivisten dieser Welt.

Allerdings ist die öffentliche Meinung ein scheues Tier, das sich allen Versuchen, ihrer „habhaft“ zu werden, so geschwind entzieht, dass sie sich aufzulösen scheint „wie die grinsende Carollsche Katze“ (S. 10). Dieses Bild bietet nicht die einzige Stelle, an der Darnton jene kritischen Einwände reflektiert, die auf die Grenzen seiner Analyse hinweisen: Er weiß, dass Chansonniers ebenso wie Tagebücher und Polizeiakten nur einen Ausschnitt einer sehr viel umfassenderen Kommunikation bieten. Er räumt ein, dass von „Öffentlichkeit als Ganzer“ zu sprechen heutzutage „dubios“ klinge, die „Heterogenität des Publikums, das von der Dichtung der Quatorze erreicht wurde“, dabei womöglich übergangen werde (S. 100). Darnton weist auch auf die Grenzen seiner Rezeptionsgeschichte hin: „Ganz egal wie viele Aufschlüsse über eine Textanalyse zu gewinnen sind, eine solche wird niemals sichere Rückschlüsse über die Verteilung und Rezeption des Textes zulassen.“ (ebd.) Und schließlich weiß er, dass sich das von ihm rekonstruierte Netzwerk, so wenig wie die übrigen Indizien, nicht auf „öffentliche Meinung“ hochrechnen lässt: Die Materiallage werde niemals „Ergebnisse gestatten, die denen der modernen Erhebungen und Meinungsumfragen nahekommen. Im Kern muss das Untersuchungsmaterial anekdotisch bleiben, und solche Anekdoten stammen unvermeidlicherweise von der Elite.“ (S. 124)

Mit dieser Bemerkung scheint Darnton sich als Anhänger eines schlichten Positivismus von Meinungsumfragen zu „outen“ und damit alle nur denkbaren kritischen Einwände auf sich zu ziehen. Doch nur wenige Seiten später nimmt er das indirekte Bekenntnis wieder zurück: Es gebe keine unvermittelte Sicht auf die öffentliche Meinung. Von ihr könne nur mittelbar durch Abstimmung und journalistische Feststellung gesprochen werden, was mit Fehleinschätzungen einhergehen könne (S. 131f.). Es sind unzuverlässige Darstellungen der öffentlichen Meinung. Allerdings geht Darnton an dieser Stelle nicht so weit, Schlussfolgerungen zu ziehen, die in kritischeren Auseinandersetzungen mit den Techniken der Meinungsumfragen – von Bourdieu schon oder jüngst wieder in einer Studie von Justin Lewis 2 – nahegelegt wurden.

Bourdieu hat schlicht behauptet, „dass es die öffentliche Meinung nicht gibt, jedenfalls nicht in der Form, die sie bei denen bekommt, die ein Interesse an der Behauptung ihrer Existenz haben“.3 Genau das ist die Frage: Welches historische Erkenntnisinteresse besteht an der Behauptung, dass es eine öffentliche Meinung gab oder gibt? Im Falle Darntons wird man den Verdacht nicht los, dass es um eine Rettung geht: Rettung einer Kausalbeziehung zwischen Texten und Handlungen, die es dem Historiker ermöglicht, die Französische Revolution rational als Aneignung egalitärer, antiroyalistischer und ähnlicher Inhalte in einem langfristigen Prozess der Meinungsbildung zu begreifen. Aber selbst wenn man dies versucht, stellt sich noch die Frage, ob man einen solchen Vorgang in der Indifferenz einer „öffentlichen Meinung“ aufgehen lassen sollte. Rezeptionsgeschichtliche Analysen führen nahezu ausnahmslos zum Ergebnis sozialer Differenzierung. Auch bei Darnton. Und niemand behauptet heute ernsthaft, dass wir geradlinige Übersetzungen von Texten in Meinungen, von Meinungen in Motive und von Motiven in Handlungen feststellen könnten. So etwa hat Chartier gegen Daniel Mornet argumentiert.4

Bourdieu empfahl Situationen zu untersuchen, die Einzelne oder Gruppen zur Meinungsbildung zwingen, was eine Konfrontation mit bereits gebildeten Meinungen herbeiführe. Dies sei das Prinzip des Politisierungseffekts, der insbesondere von Krisen hervorgebracht werde. „Man muß zwischen Gruppen wählen, die sich politisch definieren, und immer häufiger die eigene Position im Hinblick auf explizit politische Prinzipien definieren.“5 Der Begriff der öffentlichen Meinung überdeckt, dass dies nicht konsensual, sondern konfrontativ geschieht, nicht im Rahmen einer diffusen Öffentlichkeit, sondern unter ganz konkreten Bedingungen der Formierung politischer Gruppierungen. Welche Meinungen sich durchsetzen, ist an Machtverhältnisse gebunden. Es muss nicht einmal eine Mehrheitsmeinung gewesen sein, die den Sturm auf die Bastille in Bewegung brachte. Hier mit der „öffentlichen Meinung“ zu argumentieren, überdeckt vermutlich gerade die entscheidenden Differenzen im Meinungsbildungsprozess.

Darnton kann der öffentlichen Meinung den Kausalstatus einer realen historischen Macht nur bewahren, indem er sie im Status einer qualitas occulta (Christian Garve) belässt. Ein Kriterium für ihre Identifikation nennt er nicht. Damit aber hat er sich selbst in Carolls Katze verwandelt.

Anmerkungen:
1 Chartier, Roger, Die kulturellen Ursprünge der Französischen Revolution, Frankfurt am Main 1995, Einleitung.
2 Lewis, Justin, Constructing Public Opinions. How political elites do what they like and why we seem to go along with it, New York 2001.
3 Bourdieu, Pierre, Die öffentliche Meinung gibt es nicht, in: ders., Soziologische Fragen, Frankfurt am Main 1993, S. 212-223, hier S. 223.
4 Chartier, wie Anm. 1, S. 236; Vgl. Mornet, Daniel, Les origines intellectuelles de la Révolution française 1715-1787, Paris 1933.
5 Bourdieu, wie Anm. 3, S. 220.

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