N. Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker

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Titel
Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung


Autor(en)
Berg, Nicolas
Reihe
Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 3
Erschienen
Göttingen 2003: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
766 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Habbo Knoch, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

„Wo es mit dem Nationalsozialismus anfängt, ändert sich die Diktion.“ So fasste Martin Broszat 1981 den Gegensatz zwischen einer historiografischen Tradition des Verstehens, die auf Legitimation des „geschichtsmächtig Gewordenen“ angelegt war, und einer „resolut selbstkritischen Zeitgeschichtswissenschaft“ in den 50er-Jahren zusammen, die sich gegen die anfängliche „Verinnerlichungs-Strömung“ in der westdeutschen Historiografie zu etablieren vermochte.1 Eine „wissenschaftlich kontrollierte und disziplinierte Objektivierung“ der Zeitgeschichte sollte diese nicht mehr den Zeitgenossen und ihrer „Fülle der ganzen nachträglichen Legitimationen, Färbungen, Verdrängungen“ überlassen. Was hier als eindeutiger Bruch postuliert wird, will Nicolas Berg mit seiner Freiburger Dissertation in Frage stellen und stattdessen den Blick auf Kontinuitäten lenken. Seinen zentralen Vorwurf macht er dabei uncouragiert erst nach mehreren hundert Seiten explizit, indem er eine „prekäre Verlängerung täterzentrierter Erklärungsmuster in der [bundesdeutschen] Historiographie zum Nationalsozialismus und der Judenverfolgung“ konstatiert – und eine „reale Nähe von Historikern nach 1945 zu den Tätern, die Angleichung von historiographischen Erklärungsmustern an Täteraussagen durch Befragungen oder durch Übernahme der in den Rechtfertigungen vorgefundenen Perspektive und die daraus resultierenden allgemeinen Analogien, die sich ergeben, wenn man Täteraussagen und historiographische Erklärungsmodelle der Fachwissenschaft erkenntnistheoretisch parallel liest“ (S. 576). Für Berg stellt die am Institut für Zeitgeschichte und von den dort beheimateten Historikern wie Hans Buchheim, Martin Broszat oder Hans Mommsen betriebene und eingeforderte Art der NS-Forschung, die er unter der Kategorie der „neuen Sachlichkeit“ summiert, nicht länger ein Verdienst dar, sondern ein fundamentales Defizit infolge einer unaufgelösten Täter- und Mitläufernähe, der sie den Holocaust weder umfassend habe thematisieren noch angemessen verstehen lassen. Mit diesen Vorwürfen, die ihre skandalauslösende Absicht nicht verfehlt haben, lädt Berg sich einen Begründungsbedarf auf, dem die Arbeit weder empirisch noch in der Argumentation gerecht wird.

Der 1988 veröffentlichte Briefwechsel zwischen Martin Broszat und Saul Friedländer verkörpert für Berg dabei symptomatisch das zentrale „diachron verstandene Dauerproblem“ der deutschen Nachkriegs-Zeitgeschichte. Broszats Forderung, den Nationalsozialismus zu historisieren, habe bedeutet, „in einem rational gesicherten Erkenntnisprozeß Gedächtnis in Geschichte zu verwandeln“ (S. 40) und die „Erinnerung“ dadurch stillzustellen. Friedländer habe hingegen das diachrone Korrektiv eines individuellen, lebendigen Gedächtnisses der Holocaust-Opfer für die Deutung geschichtlicher Zusammenhänge betont. Diese „Spannung zwischen Erinnerung und Erforschung“ (S. 660) sei, so Berg, von westdeutschen Historikern ausgeblendet worden. Gemeint ist aber nicht die „öffentliche Erinnerung“ – jenes Kräftefeld, in dem die angegriffenen Historiker unzweifelhaft bewusst agierten und auf das sie nicht nur nach eigenem Bekunden immer bezogen waren –, sondern spezifischer die Erinnerung der Opfer des Holocaust. Für Berg stellt, um es zu präzisieren, eine Spannung zwischen mitläufernaher NS- und Tätererforschung auf der einen sowie einer erinnernden Perspektive und Historiografie der Opfer auf der anderen Seite in ihrer „frappierenden Dominanz“ das „einheitsstiftende Moment“ seiner Arbeit dar (S. 46). Er will zeigen, dass die Behauptung einer wissenschaftlichen Objektivität durch das Insistieren darauf, Erforschung und Erinnerung zu trennen, ihrerseits nichts anderes war als eine in die Geschichtsschreibung verlängerte Erinnerungsstrategie der Mitläuferentlastung, da sich die Forschung – mit Dan Diner – von der „Primärform des wissenschaftlichen Aufbewahrens“ (S. 661) und damit von einer nationalen Optik nicht habe befreien können. Dies versucht Berg anhand von drei wiederholt aufgenommenen Leitfäden zu begründen: an einer Ablehnung jüdischer Historiker und Ausblendung der Opferperspektive, an einem autobiografischen Bias der zeithistorischen Arbeit durch das „Mit(er)leben“ und an der „neuen Sachlichkeit“ als Deckstrategie für eine undurchdrungene Bindung an die Mitläuferoptik.

Analog zur gängigen Periodisierung unterscheidet Berg drei Figurationen westdeutscher Historiker: Zunächst behandelt er reine Nationalapologeten in der unmittelbaren Nachkriegszeit, zu denen er Gerhard Ritter, Friedrich Meinecke oder Hans Rothfels rechnet und die eine nationaldeutsche Entlastungs- und Identitätshistoriografie prägten. Als zweite Figuration geht er auf Exponenten eines Übergangs in den frühen 50er-Jahren wie Fritz Ernst, Reinhard Wittram oder Hermann Heimpel ein, deren Arbeiten eine „notwendige erste Etappe auf dem Weg zum Sprechen über den Völkermord“ darstellten (S. 269) – mit Heimpels Bemühen um eine „Transformation einer Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit […] vom schamkulturellen Paradigma der nationalen Schmach und des Ehrverlustes Ritterscher Provenienz [… zum] Paradigma der Verantwortung“ (S. 251). Drittens grenzt er eine „Generation der Nüchternheit“ im Übergang zu den 60er-Jahren unter den neuen Zeithistorikern im Umfeld des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) ab.

Berg verfolgt eine Gedächtnis- als Diskursgeschichte. Dazu hat er ein breites Spektrum vor allem publizierter Texte zeitgenössischer Historiker, die er um einige Quellenrecherchen ergänzt. Die historischen Aussagen der Texte interessieren ihn nicht, er nutzt sie auch nicht als Korrektiv zu den von ihm gesuchten Selbstäußerungen. Nicht immer ist die Auswahl und die Zusammenstellung der Texte einleuchtend oder zwingend, so etwa, wenn Albert Speers Erinnerungsentlastung, die nicht in Verbindung mit dem IfZ stand, an einer Stelle angeführt wird, in der es um die vermeintliche Täteroptik der Institutshistoriker geht, oder wenn eindeutig apologetische Texte wie die Rechtfertigung des Heidelberger Historiker Fritz Ernst im Kontext der Wende zur kritischen Zeitgeschichte dargestellt werden (S. 223ff.). Es ist jedoch das grundlegende Manko der Arbeit Bergs, dass er mit vorgefassten Perspektiven an die von ihm betrachteten Texte herangeht. Das widerspricht einer Diskursgeschichte, die – eigentlich ganz im Sinne Bergs – nach Erfahrungsreflexen sucht und dazu – anders als Berg – die „selbstinterpretative“ Kraft der Texte betont. Doch Bergs zentrale Kategorie – die „Erinnerung“ – ist der unübersehbare Bias der Studie: Er nutzt sie nicht als prozessuale, sondern als normative Kategorie. Historiker und ihre Produkte werden nicht an den Sagbarkeitsregeln ihres diskursiven Feldes gemessen und ihre Selbstäußerungen, insbesondere die der neuen Generation der Zeithistoriker, nicht als Artikulationen von Dispositionen gelesen, sondern über den Leisten einer reprojizierten Erinnerungsnorm geschlagen.

Personelle, akademische und institutionelle Dynamiken, selbst die diskursiven Auseinandersetzungen und Abgrenzungen dieser Figurationen zueinander – etwa in Selbstbeschreibungen wie der eingangs zitierten von Broszat – interessieren Berg dabei nicht. Er vermeidet jede Art wissenschaftssoziologischer Interpretation, die mit Konzepten der Habitusforschung, des Sprechaktansatzes, der Netzwerkanalyse oder der akademischen Gruppensoziologie ein ungleich breiteres Interpretationsspektrum als die gewählte Sonde eröffnen würde. Berg blendet gezielt aus, was das Bild einer tatsächlich kritischen Zeitgeschichte stützt. Selbst die explizite Gegenströmung des „Hitlerismus“ und „Intentionalismus“, die wissenschaftlich und öffentlich lange Zeit so dominierte, dass selbst die dauernde Annahme eines durchschlagenden Erfolgs der „neuen Sachlichkeit“ und des „Funktionalismus“ fraglich erscheint, wird unverständlicherweise nur auf wenigen Seiten abgehandelt. Berg bezieht auch das breitere Spektrum der deutschen Universitätshistoriografie nicht ein, deren lange Vorbehalte gegenüber einer NS-Forschung und noch längere gegenüber einer Thematisierung des Holocaust weithin bekannt sind. So unterschlägt er den wissenschaftlichen Bezugsrahmen und mindert vom Ansatz her das Innovationsbemühen der jungen Zeithistoriker. Er versäumt eine Wissenschaftsgeschichte neueren Zuschnitts, die Akteure und ihre Produktion in ihrem wissenschaftlichen, theoretischen und geschichtspolitischen Umfeld zeigt. Indem schließlich die öffentliche Erinnerungskultur nur in pauschalen Bezugnahmen, aber ohne wirkliche Kenntnisnahme und Durchdringung ihrer Mikrorhythmen herangezogen wird, simplifiziert Berg das vielschichtige Kräftefeld seiner Texte.

Berg trifft eine zentrale Vorentscheidung, indem er die Zeithistoriker nicht auf ihren Erklärungsbeitrag zum Nationalsozialismus befragt, sondern den Holocaust zum alleinigen Maßstab ihrer Arbeit macht. Er verweigert jede kontextuelle Analyse, die Motivationen und – wissenschaftliche wie erinnerungskulturelle – Gründe für die unzweifelhafte Zentrierung auf der Erforschung der Struktur des NS-Systems eröffnet hätte. Den Kern der Broszat-Friedländer-Debatte machte jedoch gerade das unterschiedliche Verständnis darüber aus, ob sich eine adäquate Perspektive auf die NS-Zeit aus der Optik der Struktur des Nationalsozialismus (Broszat) oder der Geschichte des Holocaust (Friedländer) gewinnen ließe. Angesichts der mageren Ausbeute an empirischer Holocaust-Forschung im engeren Sinne selbst seit der Wende zur neuen Zeitgeschichte ist es mehr als legitim und notwendig, nach den Gründen dafür zu fragen. Die von Berg dafür vor allem angebrachte nationale Optik war jedoch bekanntermaßen kein westdeutsches Phänomen; alle Nachkriegsstaaten – zum Beispiel Frankreich, die Niederlande oder auch Israel – betonten Widerstand und Martyrium in evident geschichtspolitischer Absicht. Das rechtfertigt keineswegs Engführungen und Ausblendungen der deutschen Zeitgeschichte, wo sie tatsächlich apologetische Absichten verfolgte oder ihnen aufsaß, aber es relativiert den von Berg herangetragenen und ex-post-gewonnenen Maßstab erheblich. Hier zeichnet sich der zentrale Bias des Buches ab: Die These des „Zivilisationsbruchs“ ist selbst historisch gewachsen, aber Berg nutzt sie als vermeintlich objektives Kriterium.

Zu Recht konstatiert Berg für die unmittelbare deutsche Nachkriegshistoriografie ein „Konglomerat aus Ungläubigkeit und Unwillen, Depression und Defensive“ (S. 50). Bekannt ist seit langem, dass Meinecke, Ritter oder Kaehler die Tradition der Nationalgeschichte verteidigten (S. 55), indem sie den Nationalsozialismus dämonisierten, zu universalisieren versuchten und in christlicher Metaphorik darstellten, ihn als Verfehlung und Rätsel von der eigentlichen deutschen Geschichte unterschieden sowie „Gegenerzählungen“ eines „anderen Deutschland“ entwarfen, zu denen sich schließlich auch die Widerstandsstudien von Hans Rothfels zählen lassen. Meineckes Versuch, die „deutsche Katastrophe“ aus einer langen bürgerlichen Dekadenz zu erklären, spricht Berg jede „kritische Potenz“ (S. 105) ab, weil er sich nicht explizit der NS-Zeit widmete. Seine Analyse einer Entartung der abendländischen Tradition und seine Beschwörung einer Kontinuität über die NS-Zeit hinweg fand sich dann noch expliziter bei Ritter in Form einer „Entnationalisierung des Nationalsozialismus“ (S. 128), die für die Erklärung des NS einen Bezugsrahmen jenseits der Nationalgeschichte anstrebte. Ihr Ziel war, wie bei Meinecke, durch Geschichtsschreibung „ein neues, zwar gebeugtes, aber seelisch reineres Dasein zu beginnen“ (S. 85) oder, wie bei Ritter, eine „Klärung und Reinigung des nationalen Selbstbewußtseins“ (S. 126) zu erreichen.

Berg diskutiert nicht, dass auch Broszat eine solche Transzendierung der nationalen Optik als eine wesentliche Errungenschaft der kritischen Zeitgeschichte ansah, dies jedoch unter ganz anderen Vorzeichen. Versachlichung hieß, vergleichende Studien zu betreiben statt geschichtsphilosophische Rahmenerzählungen anzubieten und dadurch den Nationalsozialismus „auch als exemplarischen Fall der Explosion von Spannungen [zu untersuchen], die auch in anderen Industriegesellschaften und Nationalstaaten unter bestimmten Krisenbedingungen grundsätzlich möglich schien“.2 Erst im von Berg nicht behandelten methodischen Kräftefeld einer Soziologisierung des historischen Blicks in dieser Zeit, deren ordnungspolitische Vorzeichen für den Begründer der westdeutschen Sozialgeschichte, Werner Conze, von Thomas Etzemüller herausgearbeitet worden sind, wird der zeitverhaftete, wiewohl ambivalente Erklärungshorizont einer „kritischen Zeitgeschichte“, die „Masse“ und „Gesellschaft“ statt „Idee“ und „Geist“ betrachtete, gegenüber der Abendlandrhetorik deutlich.

Anhand von Meinecke, Ritter und Rothfels entwickelt Berg seine Argumentationslinie einer „’Autobiographisierung’ von Geschichte“ (S. 84). Vor allem Meinecke schrieb – wie es später auch Heimpel forderte (S. 264) – Geschichte aus der selbst erlebten Geschichte, was in Rothfels’ Begründung der Zeitgeschichte als „Epoche der Mitlebenden“ einging. Das speiste sich aus einer Skepsis gegenüber dem Aussagewert von offiziellen Dokumenten in einer Diktatur und führte zu der Forderung, dass allein Zeitzeugen als Korrektiv ein richtiges Bild von Beteiligung und Widerstand in der NS-Zeit erbringen könnten. Es ging nicht nur, wie Berg zeigt, um eine erweiterte Quellenerhebung, sondern auch darum, dass „autobiographische Verifizierungsstrategien“, wie Jan Eckel (S. 122) dies mit Bezug auf Rothfels nennt, in Texten dieser ersten Nachkriegshistoriker nicht nur als legitim, sondern auch als notwendig galten. Zeigen kann Berg dies allerdings nur für selbstverständigende Texte der Historiker und für öffentliche Vorträge, wie Rothfels’ Bismarck-Vortrag, nicht aber an den wissenschaftlichen Ausführungen selbst, die er in ihrem materiellen Gehalt nicht in den Blick nimmt. So kommt der Vorwurf an Rothfels, nicht etwa die empirische Zeitgeschichtsforschung, sondern den „allgemeinen apologetischen Reflex der Deutschen nach 1945 als Wissenschaft“ (S. 163) etabliert zu haben, einseitig daher. In der Tat setzte er aber eine Unterscheidung von „Deutschen“ und „Nationalsozialisten“ fort, die auch in der öffentlichen Erinnerung grundlegende Konstante der westdeutschen Opferimagologie war und die Meinecke und Ritter ähnlich vertreten hatten. Doch wer Hans Mommsens vehementes Plädoyer gerade gegen diese Unterscheidung auf dem Frankfurter Historikertag gehört hat, wird sich schwer tun, wie Berg von unreflektierten Kontinuitäten zu reden.

Rothfels’ Geschichtsschreibung funktionierte nach Berg wie ein „Schutzschild gegen die Thematisierung von Auschwitz“ (S. 165). Er habe die eigene „Erfahrung von Antisemitismus und Vertreibung regelrecht dementieren“ müssen, um „die Kontinuität seiner Auffassungen zu wahren“ (S. 189). Aber war diese Historikergeneration durch die Informationen zur Judenvernichtung überfordert, wie Berg unterstellt (S. 54)? So behauptet er, die „Universalisierung christlich-konservativer Provenienz“ bei Max Picard sei als „Reflex auf das spezifisch Deutsche an der Tat der Judenvernichtung“ zu verstehen (S. 58). Doch Picard schreibt (1946) ganz allgemein von „Greueln der Konzentrationslager“, was Berg als „ahistorische Entkonkretisierung der Judenvernichtung“ interpretiert. Berg setzt ohne Beleg voraus, dass Picard bei den „Greueln“ die Judenvernichtung vor Augen hatte. Stattdessen ist viel wahrscheinlicher, dass er – wie die allermeisten selbst der intellektuellen Zeitgenossen – sich nicht auf den damals noch gar nicht gefassten Holocaust bezog, sondern auf die vage auf die Schrecken des Nationalsozialismus bezogenen Berichte und Bilder aus den befreiten Konzentrationslagern, die gerade nicht oder nur selten mit der Judenverfolgung in Verbindung gebracht wurden. Ähnliches gilt für Meinecke, dem Berg unterstellt, er habe die Deutschen, nicht aber die Juden zu Opfern erklärt, als er vom Auslöschen der christlich-abendländischen Gesittung durch die Gaskammern in den Konzentrationslagern sprach. Aber es gibt gerade – und das wäre doch das Irritierende – keinen Verweis Meineckes auf die Juden.

Noch verwirrender wird diese Gleichsetzung bei Ritter. Berg liefert ein Beispiel, in dem sich Gerd Krumeich an die Fischer-Kontroverse erinnert (S. 109), bei der keiner der Beteiligten, so auch Ritter, nicht implizit an die NS-Verbrechen gedacht habe – doch das war Anfang der 60er-Jahre, als die öffentliche Rückkehr der Erinnerung an die NS-Verbrechen in vollem Gange war und dies erstmals in einer Weise, die die Judenverfolgung heraushob. Dass Berg erst 1962 bei Ritter einen expliziten Verweis auf die „Judenverfolgungen“ in einem seiner öffentlichen Texte präsentiert, verweist nicht nur auf dauernde, den Erinnerungskontext außer acht lassende Zeitsprünge im Text, sondern auf ein grundlegendes Problem des Buches. Angesichts der schwachen Quellengrundlage ist es ganz uneinsichtig, wie Berg zu dem Urteil kommt, es habe ein „ostentatives Bemühen“ Ritters gegeben, die „Judenverfolgung nicht als geschichtswürdiges Thema anzuerkennen“ (S. 137) – weder ist zu erkennen, dass er dies „ostentativ“ tat, noch wird so deutlich, warum die Judenverfolgung nicht explizit zum Thema wurde. Dass dem so war, ist nicht unter Verweis auf eine nicht belegte Absicht, dies verdrängen zu wollen, zu erklären. Vielmehr verlängert sich in dieser Haltung ein Wahrnehmungsmodus, der Teil der Tat selbst war: Man schätzte die Judenverfolgung eben nicht als moralischen Zivilisationsbruch und systemisches Kernereignis des NS ein, was mit anderen „Grenzen des Verstehens“ zu erklären ist als der Exkulpation des Nichtwissens. Berg zeigt eine Spur an, wenn er von der Kontinuität antijüdischer Reflexe spricht (S. 82f.), folgt ihr aber nicht.

Denn es scheint viel eher das vorgängige Fehlen einer Konkretisierung des Holocaust als exzeptionellem NS-Verbrechen zu sein, die gewiss Formen der Weigerung implizierte, dies herauszustellen, und bedingte, dass weder Auschwitz noch Judenmord als Kernereignisse angesehen, geschweige denn eingesehen wurden. Stattdessen argumentiert Berg mit einer latenten Präsenz von Auschwitz und Judenmord, die nach dessen Bewusstmachung bereits in der Nachkriegszeit jede Äußerung als Gegenreaktion zu deren Interpretation als „Zivilisationsbruch“ erklärt – er sei „in Metathemen verschoben“ worden (S. 63). Doch das Kräftefeld gerade der konservativen Historiker war nach Niederlage und Souveränitätsverlust ganz anders ausgerichtet; ihre intellektuellen Dispositionen bedingten die Fokussierung auf Nationalsozialismus und Krieg. Diese Prioritätensetzung, die eine Dauerignoranz, aber keine dauernde Verdrängung im Sinne eines Abwehrens der Erinnerung an den Judenmord bedeutete, lässt den Ansatz der „kritischen Zeitgeschichte“ anders einordnen, als Berg dies tut. Ihr Bezugsrahmen war anders gesteckt, denn die nationale Apologetik sollte durch einen – verglichen mit ihr – Mikroblick auf die Funktionsmechanismen des NS-Staates widerlegt werden. Das war eine Voraussetzung dafür, den Komplex der NS-Verbrechen überhaupt wieder sichtbar zu machen. Denn es missinterpretiert die Ergebnisse der Erinnerungskultur- und Vergangenheitspolitikforschung, wenn Berg konstatiert, in den ersten zehn Jahren der Bundesrepublik sei „das Verhältnis von Geschichte und Verbrechen zu einer Art Dauerreflexion avanciert“ (S. 194). Im Gegenteil: Die kurzfristige Dauerreflexion wurde kurz nach Kriegsende stillgelegt durch Überschreibungen, Opferdiskurs und nationale Symbolgewinnung, in denen sich die an anderer Stelle von Berg konstatierte Kultur der Tabus und Sagbarkeitsnormen herausbildete.

Berg stellt die 50er-Jahre zu Recht gegen das Bild des Beschweigens unter die Perspektive eines „dialektischen Zusammenhangs“ von „Bewußtmachung und Verdrängung“ (S. 195). Die Bewusstmachung würde sich als „sehr unterschiedlich verstandenes Kräfteverhältnis von Erforschung und Erinnerung“ darstellen (S. 195). Er polarisiert für diesen Zeitraum eine „gedächtnisgeleitete Haltung und Rhetorik der ‚Scham’“ und eine „hierzu gegenläufige Hierarchie historischer Selbstverständigung, die ‚klassisch’ wissenschaftsimmanent argumentierte und in der Vermehrung von Wissen […] mehr Aufklärungspotential vermutete als in Reflexionen der Schuld“ (S. 195). Von hier aus polarisiert er „Gedächtnisbildung und Erinnerungsgebot“, die „Judenmord als Teil eines Kanons deutscher Gedächtnisarbeit“ verankern wollten, und einen Zugang, der Archive, Dokumente und Quellen als „Ausgangspunkt historischer Selbstverständigungsfragen“ etablieren wollte (S. 196) – „Autobiographie und Eingedenken“ auf der einen, „Enzyklopädie und Detailwissen“ auf der anderen Seite (S. 196). Die Protagonisten dieser Dramaturgie sind klar: Das IfZ und seine jungen Historiker werden zu Vertretern einer um den Anspruch auf das richtige Detailwissen und gegen „Erinnerung“ jeder Art kämpfenden Wissenschaft, die sich aus den Fängen der „Schamkultur“ nicht befreien kann. Der jüdische Historiker und Holocaust-Überlende Joseph Wulf verkörpert dagegen die Verbindung aus Schuldansatz, Detailwissen und autobiografischem Eingedenken. Die Auseinandersetzungen mit ihm und die Abwertung seiner Arbeit durch die Zeithistoriker „dokumentieren die Niederlage des jüdischen Gedächtnisses in diesem ‚Kampf’ um die Erinnerung en detail“ (S. 218). Auch die kritische Zeitgeschichte habe die jüdische Geschichtsschreibung zum einen als andere Perspektive aus der Erinnerung ausgeblendet, zum anderen als „Gegengedächtnis“ aus der Wissenschaft herausgehalten (S. 219).

Bei der Begründung der Zeitgeschichte stand die Spannung von eigenem Erleben und wissenschaftlicher Distanz Pate. Noch an Hans Rothfels’ Kommentar zum Gerstein-Bericht als „Augenzeugenbericht zu den Massenvergasungen“ ist die Fortschreibung von nationalapologetischen Argumentationsmustern auffällig, wenn er die „absolute Geheimhaltung“ und die Trennung zwischen Nationalsozialisten und deutschem Volk hervorhebt (S. 335ff.). Auch das erste Forschungsprogramm des Instituts für Zeitgeschichte war zunächst durch das „Miterlebte“ determiniert. So fehlte die „Kristallnacht“ nicht, wohl aber Auschwitz und der Judenmord (S. 283). Aber schon 1955 hatte sich dies deutlich verändert – nach Meinung Bergs jedoch nur „etwas korrigiert“: Statt an sechster von acht stand nun an zweiter Stelle erweitert: „Antisemitismus, Rassengesetzgebung und sog. Lösung der Judenfrage“ (S. 285). Gleichzeitig hatte das Institut, wie auch Berg andeutet, bereits 1954 eine eigene „Gesamtdokumentation zur Judenpolitik des Dritten Reiches“ in Zusammenarbeit mit der Londoner Wiener Library im Sinn – auf deren Schicksal Berg nicht weiter eingeht (S. 285). Zudem sollte das Projekt vor allem die „menschliche Tragödie“ betonen, was doch Bergs These widerspricht, die Perspektive der Opfer sei ausgeblendet worden – um so wichtiger wäre es zu wissen, warum aus diesem Projekt nichts wurde, aber auch, wie es sich zum gesamten Bereich der Forschung in Deutschland verhielt. Auch 1959 war das IfZ offenbar bereit, mit Wolfgang Scheffler an einer größeren Dokumentation zur Judenverfolgung zusammenzuarbeiten (S. 304), aber auch hier erfährt man nichts Näheres. Dass das Institut 1965 ein Projekt Ernst Kubys für eine zweibändige Dokumentation zur Judenfrage als pädagogische Handreichung ablehnte, kann man nur aus dem Kontext der seinerzeitigen Pädagogisierung des Themas verstehen, gegen die sich ein wohl auch elitäreres Wissenschaftsverständnis richtete, das seine Aufgaben an anderer Stelle sah.

Das IfZ habe, so Berg, „Forschung ohne Erinnerung“ betrieben: „Weder wurden die disparaten Teile des eigenen Gedächtnisses zu forschungsleitenden Fragen, noch wurden Erinnerungen von akademischen Außenseitern, von Ausländern oder von Juden einbezogen, die im Holocaust eine zentrale Fragestellung der NS-Forschung sahen.“ (S. 319) Warum sollte in einem Forschungsinstitut aber nicht „mehr gearbeitet als erinnert“ werden (S. 319)? Zugleich verortet Berg das IfZ der 50er und 60er-Jahre nicht öffentlich. Nur beiläufig zitiert er Broszat, der die Herausgabe der Autobiografie des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß auch mit dem „ungenauen, seiner selbst nicht sicheren Wissen“ der Zeit begründete (S. 301). Das von Berg nicht weiter beachtete Vorwort Broszats zeigt gerade durch seine Ambivalenzen, wie sehr dieser und so auch das Institut auf die öffentliche Erinnerung bezogen war, denn dort schwingt bei allem Bemühen um einen sachlichen Stil selbst bei Broszat noch viel von der Sensation der wieder entdeckten Täter dieser Jahre mit. Broszat und andere am IfZ waren sehr wohl aufklärend in vielfacher Weise zentral auf „Erinnerung“ bezogen – sie war das, wogegen sie sich mit ihren Fragen richteten. Aber es war nicht die Wahrung der Opferperspektive, um die es ihnen ging, also etwas, das über die Erinnerungskultur hinaus von Berg als objektive Erinnerungsnorm gesetzt wird. Trotz allem bleibt die Täterfokussierung und die Marginalisierung der Opferzeugnisse festzuhalten, die erst an anderer Stelle – in den ersten Gedenkstätten – und gegen den langen Widerstand der etablierten Historiografie aufgebrochen wurde.

Aus Broszats Ablehnung von Josef Wulfs mehrbändiger Dokumentation zum Holocaust, die in der Tat in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Bewusstwerdung der NS-Verbrechen und zur Rethematisierung der Täter leistete und die Broszat aber aufgrund mangelnder Gründlichkeit und hinreichender Durchdringung des Gegenstandes kritisierte, leitet Berg kurzschlüssig ab, dies offenbare „die Überzeugung Broszats, daß eine gerechte Darstellung der Judenvernichtung nicht jüdischen Überlebenden überlassen werden konnte“. Zwar ist bis dahin noch nichts über Broszats Ansatz und Motivation gesagt worden und man erfährt im Folgenden auch nicht viel mehr darüber, aber bereits hier kann Berg ein fundamentales Urteil treffen. Gleichwohl ist es wichtig zu sehen, wie sich im Institut für Zeitgeschichte am Beispiel der Arbeiten von Wulf und Poliakov ein „diskreter“ Stil herausbildete, der nicht auf die Katalysierung öffentlicher Täterdebatten abzielte, sondern darin immer eine Verstellung der als wissenschaftliches Erkenntnisinteresse gesetzten NS-Forschung sah. Das latent auf einen „antijüdischen Reflex“ zurückführen zu wollen, bleibt ohne Biografien der Hauptakteure hohl.

Berg folgert aus einer eigentlich nur längeren Darstellung zu Wulf und den im Wesentlich methodisch geäußerten Vorbehalten, an Wulf zeige sich, dass „nicht nur Thema und Stil, sondern schon eine jüdische Autorenschaft generell tabu waren“ (S. 363) – aber dafür gibt es weder einen einzigen expliziten Beleg (was nicht wundert), noch wird dies schlüssig aus den Vorbehalten sichtbar – es sei denn, was Berg tut, man konnotiert das Beharren auf Sachlichkeit per se mit dieser Gegnerschaft. Dabei geht es nicht um die tatsächlich mehr als offensichtliche Ablehnung der Dokumentationen als wissenschaftliche Bücher, die in der Tat eine im Rückblick nicht nachvollziehbare Abgrenzung markiert. Nur sieht Berg keine andere Möglichkeit, als das Beharren auf Objektivität mit einer Gegnerschaft zu jüdischen Autoren („Gegengedächtnis“) zu erklären. So lässt er den Bezug auf die Öffentlichkeit, gegenüber der auch Wulf das „Tatsachenhafte“ ihrer Darstellungen betonten, nur für die jüdischen Autoren gelten, nicht aber für das IfZ, das auch den Gesetzen einer Erinnerungskultur unterworfen war, die bis heute („Wehrmachtsausstellung“) immer dann besonders nach historischen Fehlern sucht, wenn die präsentierten Ergebnisse „kritisch“ sind. Für Berg spielt auch keine Rolle, dass sich die deutsche Zeitgeschichte in einer noch lange andauernden historiografischen Tradition von Quelleneditionen und Mehrfachbeleg als „Wissenschaft“ legitimieren musste, zumal die Editionen erster Täterberichte ein Meilenstein in einer von exkulpierenden Memoiren geprägten Öffentlichkeit waren. Doch Professionalisierungsdruck, Institutsegoismus und Aufklärungsarbeit, wie sie Broszat oder Buchheim in vielen öffentlichen Vorträgen übernommen haben, blendet Berg aus. Erst wenn ihre Funktion als Korrektiv der öffentlichen Erinnerung richtig eingeschätzt und dieser Unterschied zur nationalen Apologie in Wissenschaft und Erinnerungskultur aufgewiesen wird, können auch die Beschränkungen der „kritischen Zeitgeschichte“ perspektiviert werden.

An der Höß-Autobiografie werden die beiden Hauptvorwürfe Bergs deutlich: Die Arbeit der neuen Zeithistoriker habe sich nicht von der Perspektive der Täter gelöst, denn Höß’ Bericht wurde als Zeugnis „nüchterner Sachlichkeit“ rezipiert und weder diese Projekte noch die Gerichtsgutachten seien „gleichbedeutend mit der Fokussierung der Opfer nationalsozialistischer Verbrechen“ gewesen (S. 304). Aber erst im dritten oder vierten Anlauf beginnt Berg, sich Broszats Argumenten intensiver zuzuwenden (S. 420ff.). Nach einer knapp zweiseitigen Zusammenfassung dessen Gesamtdarstellung zum Nationalsozialismus von 1960, in der Berg die „Verführungsmacht“ des NS als Broszats Hauptthema darstellt (zurecht, denn Broszat wollte den NS nicht länger als ideologische Macht allein gedeutet sehen), weiß Berg, dass Broszat und Buchheim, obwohl aus zwei Generationen, einen „gemeinsamen lebensgeschichtlichen Grundgedanken […] im Modus der Wissenschaft präsentieren“ (S. 423) – denn beide hätten zu begründen versucht, dass es die Trennung zwischen Engagement im Regime und Unkenntnis über dessen (Verbrechens-)Politik systembedingterweise gegeben habe. Darauf folgt der zentrale Vorwurf Bergs: „Es benötigt kein Pathos der Skandalisierung, um das Geschichtskonzept beider Darstellungen als Mitläufer-Erzählungen zu deuten, denn beide explizieren in abstrakter Form ausschließlich die gedächtnisgeschichtliche Perspektive derer, die mitgemacht hatten, mit welchen Vokabeln auch immer.“ (S. 424) Nach Berg habe Broszat den Nationalsozialismus zu einer „Betrugs- und Täuschungsgeschichte“ (S. 424) umgedeutet – dabei ging es ihm explizit schon hier darum, die Mechanismen der Propaganda zu untersuchen und den Erfolg des NS nicht auf Ideen und Ideologie zu reduzieren.

Bezeichnend für Bergs Vorgehen ist, dass er eine positive Würdigung der „neuen Sachlichkeit“ durch den israelischen Historiker Amos Elon nur in einer Fußnote erwähnt (S. 317). In seiner Exponierung einer „generationellen Historizität dieser Nüchternheit“ (S. 374) bleibt der Versuch blass, den bis dahin noch gar nicht recht analysierten wissenschaftlichen Stil auf ein „typologisches Reaktionsmuster auf den totalen Zusammenbruch von Staat und Gesellschaft“ zurückzuführen, was aber hieße, dass Rothfels, Buchheim, Broszat und Mommsen entweder nicht einen Stil teilten oder die generationelle Erklärung leer läuft. Um die „neue Sachlichkeit“ zu profilieren, wendet Berg sich im vierten Kapitel verschiedenen Versatzstücken wie dem Totalitarismus oder dem Antifaschismus der 70er-Jahre zu. Es grenzt an intellektuelle Unlauterkeit, wenn Berg durch die Anordung suggeriert, Joseph Wulfs Suizid stünde in direktem Zusammenhang mit der Ausblendung der Opferperspektive durch den Antifaschismus und dieser, nicht minder suggestiv, in eine Assoziationskette zum „neusachlichen“ Ansatz der jungen Zeithistoriker gestellt wird. Der längere Abschnitt des Buches zu Hannah Arendt (S. 466-499) erklärt sich vor allem strategisch, weil ihr Ansatz der Banalität und der „Ideologie als Oberflächenphänomen“ von Berg für wegweisend für die „funktionalistische Deutung“ des Holocaust gehalten wird. Allerdings positioniert sich Berg in der Zusammenfassung mit Bezug auf Hilbergs Arendt-Kritik historiografisch: „Ein der Wirklichkeit entsprechendes Bild wird aber, wo es überhaupt gefunden werden kann, nicht aus Banalität oder Monstrosität allein plausibel rekonstruierbar sein, kann aber auf das Partikulare jüdischer Erfahrung nicht gut verzichten.“ (S. 502) Was für die Beschreibung des Holocaust zutrifft, löst jedoch nicht die Grundfrage, wie das Verhältnis zwischen NS- und Holocaust-Forschung methodisch zu lösen ist.

Arendt bildet die Schnittstelle im Übergang zum Funktionalismus, den Berg als Steigerung des Objektivismus kritisiert. „Die These lautet, daß nicht nur der Hitlerismus lange Zeit eine exkulpierende Funktion hatte, sondern daß auch die strukturfunktionalistische Argumentation, die ebenfalls ihren Ursprung in den frühen 50er Jahren hatte, als apologetischer Reflex ‚erfunden’ wurde.“ (S. 522) Berg belegt die These der Nähe zu den Tätern aber nur erratisch: Schon Mau hatte eine „überraschende und menschlich bewegende Solidarität des Historikers mit dem Zeugen“ bemerkt (S. 577). NS-„Zeitzeugen“ wie Werner Best gaben sich in ihren Selbstdarstellungen als wichtig für Forschung und Publikationen aus (S. 578f.). Dass die Thematisierung des Nichtwissenwollens im NS ein Indiz für autobiografisch bedingte Vermeidungshaltungen bei Historikern wie Broszat und Mommsen war, bleibt als Vorwurf leer, solange es nicht biografisch gefüllt wird – und genau hier weicht Berg an entscheidender Stelle aus, denn das „Biographische“ fällt hinter den „Diskurs“ weit zurück, meist in Fußnoten hinab. Und Berg kommt immer wieder auf die Ausblendung jüdischer Historiker zurück, die so immer mehr zum moralisch aufgeladenen Gelenkstück der Erzählung wird. Das wird noch einmal in einem langen Abschnitt aufgegriffen, der alle bisherigen Perspektiven in einer gewollten Dramaturgie zusammenführt: der Kontroverse zwischen Wulf, dem IfZ und Wilhelm Hagen (S. 594-616), die in der Tat den irritierendsten Teil des Buches darstellt. Allein hier wird eine Hartnäckigkeit aus dem Kreis des IfZ sichtbar, an der vermuteten Unschuld Hagens an den Vorgängen im Warschauer Ghetto fest- und sein Bild eines Widerständlers aufrechtzuerhalten.

Mit Hermann Mau, dem ersten IfZ-Leiter 1952, sei schon Anfang der 50er-Jahre „das Argumentationsmuster und das Begriffsrepertoire des Strukturalismus […] komplett ausgebildet“ gewesen (S. 532). Mau habe auch aus eigenem Erleben argumentiert, das Unwissen der Bevölkerung als Basisannahme für NS-Geschichte betont und die „innere Anonymität“ der Diktatur als Ausgangspunkt der Forschung gesetzt (S. 542). Bereits hier finden sich Improvisation, Kompetenzchaos und Geheimhaltungstechnik als Merkmale. Doch gegen Berg sind die von Mau betonten „Kurzschaltungen“ in der Vernichtungspolitik (S. 544) durch das Überspringen von Instanzen eher als integrierende Elemente zu verstehen, die intentionale und strukturelle Perspektiven weit mehr verbinden, als dies später bei Broszat oder Mommsen der Fall war. Gleichwohl findet sich bei Mau bereits der Niederschlag einer zeitgenössischen Rhetorik der Maschinisierung des Grauens: „An die Stelle des Koordinatensystems menschlicher Wirkungen tritt im totalitären System das der technischen Wirksamkeit.“ (S. 545) Das weist zurück auf die schon für Broszat festzustellende Sprache einer Technisierung der Wirklichkeit, die im zeitlichen Kontext auf die Modi der Wahrnehmung moderner Massengesellschaften verweist. Hier sind tiefer liegende Grenzen der politischen Lager seit den zwanziger Jahren überspielende Wahrnehmungsmuster zu untersuchen, die eine Ausrichtung auch der Forschungsperspektiven mitbedingten.

Berg lässt solche, ganz anders gelagerten Gelenkstellen, die den Funktionalismus oder die „neue Sachlichkeit“ diskursiv und wissens(chafts)historisch ausleuchten ließen, gar nicht erst zu. Stattdessen gründete der Funktionalismus darauf, „daß hier Beschreibungsversuche des eigenen Erlebens in die Sprache der Wissenschaft überführt werden konnten, die den Charakter einer Erklärung aufwiesen“ (S. 548). Es ist diese Monokausalität, die Bergs Blick verstellt. Er blendet völlig aus, dass sich die weiteren Entwicklungen des Funktionalismus in einer Zeit vollzogen, als in der Öffentlichkeit wieder einzelne, konkrete Täter diskutiert wurden, die zum Teil zur Verkörperung des Bösen gemacht wurden. Auch hieraus ist das Insistieren auf die Verflechtung der Organe und die Auflösung von Verantwortungen zu verstehen – aber nicht als historisch-dämonisierende Setzung, sondern aus der Erklärung eines politischen Systems. Die Motivationen von Broszat oder Mommsen werden nur schwach eingeführt. Doch ohne das Selbstverständnis als „postidealistische Historiographie“ (Mommsen, S. 646) ernst zu nehmen, wird das synchrone Spannungsfeld zulasten einer diachronen Perspektive – Holocaust-Erinnerung als Norm – nivelliert.

Hans Mommsen habe schließlich für die „Akademisierung“ des Konzepts gesorgt (S. 557ff.). An seiner Studie über Staatssekretär Wilhelm Kritzinger, Teilnehmer der Wannsee-Konferenz, argumentiert Berg, dass Mommsen sich nicht von der Perspektive des Mitläufers habe lösen können; er habe die Rhetorik des Fachmännischen, die Kritzinger exkulpativ benutzt habe, unreflektiert übernommen und sei so zu dem Schluss gekommen, es habe sich nicht um einen politischen Beamten, sondern um einen treuen Staatsdiener gehandelt, der weder aus eigener Initiative gehandelt habe noch dessen eigene Verantwortung genau zu bestimmen sei; Mommsen substituiere Verantwortung durch Struktur – schließlich sei es ihm nicht um Verantwortung überhaupt, sondern um die Spannung zwischen Beamten und NS gegangen, die als „mit innerer Konsequenz sich vollendende Perversion eines irregeleiteten, den Bedingungen der modernen gesellschaftlichen Entwicklung nicht entsprechenden Staatsdenkens“ gezeigt habe (S. 565). In der Perspektive des Funktionalismus, der Strukturen betont, werde weder das „wer“ der Opfer noch das „warum“ der Täter einbezogen (S. 567). Man mag Kritzinger anders deuten können – aber dass allein die Befassung mit einem Beamten als Mittäter des Holocaust einen Tabubruch bedeutete und gerade die Feststellung der „Normalität“ ihres Selbstverständnisses etwas zutiefst Irritierendes war, das auch den Blick auf die Modi der Darstellungsformen verstellte, will Berg nicht sehen. Das weist auf den mäandernden letzten Abschnitt des Buches hin, in dem Berg seine eigene historiografische Position offen legt. Er sympathisiert eindeutig mit der neueren Täterforschung, die wieder Verantwortung, Weltbilder und Ideologie einbezogen habe. Aus diesem Kontrast, dem Pendant zur Wiedergewinnung der Subjektperspektive auf die Opfer, speist sich Bergs Ablehnung des „Funktionalismus“. Doch wäre die Tauglichkeit dieser Kritik erst an der Sache selbst zu zeigen.

Berg kritisiert die nationale Optik eines Teils der NS-Forschung in der Bundesrepublik von einem Standpunkt aus, den er als objektiv deklariert und nicht hinterfragt. Deshalb gelingt ihm kein Blick auf die Nachkriegshistoriografie der „kritischen Zeitgeschichte“, die an der Sache diskutiert, welchen Wert Erklärungen des Nationalsozialismus als System im Verhältnis zur Untersuchung des Holocaust haben. Bergs Buch macht plausibler als vorher, warum es sinnvoll ist, Forschungsfragen und Erinnerung für zwei getrennte Dinge zu halten, die aber nicht ohne einander auskommen können. Zu fragen ist, ob und wie es dem Verständnis der NS-Zeit zugute kommt, wenn man sie über eine Erinnerungsnorm, wie Berg sie setzt, auf eine Holocaust-Forschung führt. Bedeutet das nicht in letzter Konsequenz eine „Entnationalisierung des Nationalsozialismus“, die Berg bei Ritter kritisch konstatiert, die aber gerade das Gegenteil der Arbeiten Broszats und Mommsens ist – bei all ihrer verallgemeinernden Wissenschaftssprache? Die damit verbundene Frage, welchen Status Perspektive und Zeugnisse der Opfer für eine Historiografie des Holocaust haben, ist in explikativer Absicht (und nicht allein normativ) nur an der Sache selbst zu zeigen. Berg argumentiert, als gäbe es einen „transnationalen Standpunkt“, der den Blick auf den Komplex von Tat und System schon abschließend freigibt. So versucht er durch die Kritik an der sich ihrerseits als „kritisch“ verstehenden Zeitgeschichte einen Forschungsansatz weiter gegen ein Paradigma zu verankern, das unter ganz anderen Prämissen stand. Das gerade löst die Forschung erst aus der Erinnerung heraus, in der sie immer (auch) steht: einem Kontext bislang noch nationaler Wahrnehmung von NS und Holocaust.

Letzten Endes ist es Berg, der die Forschung dazu nötigt, sich selbst ihrer politischen, kontextuellen Aufklärungsdimension zu berauben, wenn sie ihre Fragestellungen nicht mehr aus den Konstellationen – auch nationaler – Erinnerungskontroversen und -konstellationen gewinnt. Genau dies hat Broszat exemplarisch in seiner Selbstdarstellung von 1981 begründet. Er wandte sich gegen das „große Risiko einer Verkümmerung verstehender Geschichte, wenn diese Erinnerung vor allem nur festgemacht wird an Euphorie und Inferno“.3 Diese Bilder brächten immer wieder jene „Vision totaler Herrschaft“ zurück, die als Exkulpationsmythos von der kritischen Zeitgeschichte beständig aus einer grundlegenden, ihrerseits politisch zu lesenden Motivation hinterfragt worden war. Denn die „Überbetonung und Mystifizierung […] der Subtilität und Ingeniosität der […] Herrschaftsmittel des NS rückt aus dem Blick, was gerade die empirische Forschung immer wieder neu belegt: das hohe Maß von Disponiertheit großer Teile der deutschen Nation für die Ziele […] des NS-Regimes.“4 Solange dies umstritten ist und – etwa – in einer verengenden Täterforschung wieder aus dem Blick zu geraten droht, haben Fragestellungen und Perspektive der „kritischen Zeitgeschichte“ trotz ihrer unübersehbaren Verkürzungen mehr als nur ihre Rechtfertigung.

Anmerkungen:
1 Broszat, Martin, Grenzen der Wertneutralität in der Zeitgeschichtsforschung. Der Historiker und der Nationalsozialismus (1981), in: Ders., Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit der Geschichte, München 1988, S. 162-184, hier S. 171, 168.
2 Ebd., S. 174.
3 Ebd., S. 180f.
4 Ebd., S. 178.

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