Titel
Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum


Autor(en)
Jancke, Gabriele
Reihe
Selbstzeugnisse der Neuzeit 10
Erschienen
Köln 2002: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 34,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Enderle, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen

Einer der faszinierenden Aspekte autobiografischer Texte ist der scheinbar direkte Zugang zur Denkweise, zum Weltverständnis und Lebensgefühl vergangener Menschen. Nur wenige andere Quellenformen, wie zum Beispiel bildliche Zeugnisse, können eine vergleichbare ästhetische Wirkung besitzen. Dass auch Gabriele Jancke in ihrer Dissertation sich diesem Faszinosum nicht ganz entziehen konnte – und wohl auch nicht wollte –, lässt sich bereits dem Vorwort der Arbeit entnehmen, das mit der emphatischen Aussage beginnt: “Autobiographische Texte haben meine Sicht von Geschichte verändert. Nach der Lektüre von mehreren Hundert solcher Schriften ist kein Geschehen, kein Prozess, keine Struktur mir auch nur mehr vorstellbar ohne AkteurInnen, die benannt werden können, und das Reden über die Gesellschaft oder die Kultur – auf eine Zeit oder einen Raum bezogen – scheint mir höchst fragwürdig. Autobiographische Texte [...] führen eine solche Vielfalt von Perspektiven vor Augen, dass solche verallgemeinernden oder anonymisierenden Sichtweisen ihre Plausibilität verlieren.” (S. VII) Methodisch ist die vorliegende Arbeit von Gabriele Jancke denn auch einer von den Konzepten der historischen Anthropologie inspirierten Kultur- und Sozialgeschichte verpflichtet; und hier insbesondere den Arbeiten von Natalie Zemon Davis 1. Dabei geht es ihr in erster Linie nicht um den Inhalt der einzelnen Autobiographien im engeren Sinne, sondern um die Reflexion der sozialen und kulturellen Funktionen autobiographischer Texte. “Autobiografische Texte liefern nicht einfach Material über das Leben und die Auffassungen von Menschen, die auf diese Weise stets nur indirekt und sprachlich vermittelt greifbar werden, sondern sie machen solche lebenden und handelnden Menschen in einem Augenblick oder eine Phase ihres Lebens unmittelbar zugänglich - insofern nämlich das autobiographische Schreiben eine ihrer Aktivitäten war. Diese Aktivität lässt sich direkt beobachten.” (S. 26) In dieser Feststellung liegt der methodische Kern der Arbeit, der sie von älteren Formen kulturgeschichtlicher Auswertung autobiografischer Texte als historische Quelle unterscheidet.

Autobiografien sind bekanntlich eine klassische Quellengattung für die Kulturgeschichte. Bereits Jacob Burckhardt widmete der Biografik – und hier auch den Selbstbiografien – ein eigenes kleines Kapitel in seiner “Kultur der Renaissance in Italien” 2, deren grundlegende These von der Konstituierung des modernen Individuums ohne den Rückgriff auf biografische Zeugnisse auch nur schwer vorstellbar wäre. Und auch die einschlägigen Lehrbücher zur historischen Quellenkunde haben in der Regel eigene Kapitel zur Autobiografie als Quelle, wobei hier die klassischen Fragen nach der Brauchbarkeit von Selbstzeugnissen zur Tatsachenerkenntnis und ihrem Nutzen für die Zeitgeistforschung, wie Friedrich Henning es formulierte, im Vordergrund stehen. 3 Diese klassische Form geschichtswissenschaftlicher Quellenkritik spielt indes für Jancke keine Rolle, da es ihr weder darum geht, Autobiografien zum Nachweis oder zur Illustration historischer Sachverhalte zu nutzen, noch sich mit allgemeinen geistes- oder kulturgeschichtlichen Prozessen auseinanderzusetzen, wie eben zum Beispiel dem seit Burckhardt virulenten Thema der Entstehung des modernen Individuums, das jüngst noch Richard van Dülmen thematisierte und dabei die “Entstehung und permanente Zunahme von Autobiographien”, also die “zunehmende Selbstthematisierung”, als ein charakteristisches Phänomen der Frühen Neuzeit konstatierte. 4 Jancke geht es hingegen um die Analyse des konkreten sozialen und kommunikativen Kontexts, in dem autobiografische Texte entstanden sind - und den sie gleichzeitig immer auch mitgestalten. Nicht der Inhalt per se, sondern der Akt des autobiografischen Schreibens ist das eigentlich Interessante; nicht die individuelle Subjektivität der Texte oder die zeittypische Mentalität, die sie widerspiegeln mögen, sondern das autobiografische Schreiben als gesellschaftliches Handeln im Kontext sozialer Netzwerke.

Um diesen Fragen nachzugehen, hat Gabriele Jancke ein Quellencorpus von 234 Texten (von 179 Verfassern) ausgewertet, wobei das Gros der Texte aus dem 16. Jahrhundert und dem Raum des Alten Reiches stammt. Darunter finden sich natürlich auch die bekannten Klassiker, wie die Lebensbeschreibungen von Felix oder Thomas Platter, denen erst vor kurzem der französische Historiker Emmanuel LeRoy Ladurie ein eigenes Buch gewidmet hat 5; oder die Texte von Sigmund von Herberstein und Hans von Schweinichen, die in kaum einer der großen älteren Kulturgeschichten fehlen 6, ganz zu schweigen von Autoren wie Nikolaus Cusanus, Albrecht Dürer, Erasmus von Rotterdam oder Martin Luther; aber auch die eher den Spezialisten der Epoche auf Anhieb vertrauten Texte (wie zum Beispiel Selbstbeschreibungen von Johann Agricola, Johann Aventin, Ambrosius Blarer, Petrus Canisius, Martin Crusius, Conrad Gesner, Matthias Hoe von Hoenegg u.a.). Jancke hat zum Recherchieren ihrer Quellen im Wesentlichen auf die bekannten Bibliografien von Karl Schottenloher, Jens Jessen sowie Wilhelm Erman und Ewald Horn zurückgegriffen. 7 Abgesehen von Österreich, wo es eine neuere Darstellung zu Selbstzeugnissen von Harald Tersch gibt 8, und der Schweiz, wo an der Universität Basel ein Projekt zur Verzeichnung solcher Quellen läuft 9, moniert die Verfasserin insgesamt ein bibliografisches Defizit. Auch wenn dies im engeren Sinne für die Verzeichnung und Erschließung autobiografischer Texte zutrifft, so sollte man andererseits auch anführen, dass mit dem VD16 oder einem Instrument wie der Hand Press Book Database (ca. 1455-1830) 10 durchaus umfassende bibliografische Nachweissysteme für zeitgenössische Drucke vorliegen, mit deren Hilfe man dieses Defizit einigermaßen effizient und systematisch beseitigen kann.

Gabriele Jancke nähert sich ihrem Thema zunächst am Beispiel dreier Fallstudien. Dazu wählte sie aus: autobiografische Texte von Josel von Rosheim, Katharina Zell und Jakob Andreae. Josel von Rosheim (ca. 1478-1554) war einer der wichtigsten politischen Repräsentanten der jüdischen Bevölkerung im Elsass und Oberdeutschland, der in seiner Autobiografie vor allem über seine politischen Bemühungen beim Kaiser und anderen christlichen Obrigkeiten berichtete. Seine Autobiografie besitzt somit durchaus teilweise den Charakter einer aus der Sicht eines entscheidenden Akteurs geschrieben historischen Chronik der Verfolgungen, denen die Juden im Alten Reich ausgesetzt waren. Katharina Zell (1498-1562), die Frau des Straßburger Pfarrers Matthäus Zell, ist vor allem den Reformationshistorikern ein Begriff. Ihr Motiv beim Schreiben ihres autobiografischen “Brieff[s] an die gantze Burgerschafft der Statt Straßburg” war einem der Frühen Neuzeit zentralen Begriff verpflichtet: ihrer persönlichen Ehre, die sie durch eine Kontroverse mit dem Ulmer Pfarrer Ludwig Rabus angegriffen sah. Jakob Andreae (1528-1590), zeitweise Generalsuperintendent im Herzogtum Württemberg und einer der maßgeblichen Verfasser des Konkordienbuches, war zweifelsohne ein profilierter Repräsentant der protestantischen Elite des Alten Reiches; und genau dieser Aspekt findet auch in seiner Autobiografie ihren Ausdruck. Andreae beschreibt sich vornehmlich als Träger öffentlicher Funktionen und Aufgaben, als theologisch-politischer Beamter des württembergischen Territorialstaats. Das Moment, das diesen so unterschiedlichen Texten gemeinsam ist, ist ihre kommunikationsstrategische Funktion. Keiner der Texte ist zur Reflexion der eigenen Zeit- und Lebenssituation geschrieben. Alle lassen deutlich erkennen, dass sie für eine bestimmte, klar erkennbare soziale Gruppe verfasst wurden – die Repräsentanten der oberdeutschen Juden, die Gemeinde der Stadt Straßburg, die politische Elite des württembergischen Territorialstaats –, und gezielt versuchten, die eigene Stellung in diesen Gruppen und Beziehungsnetzen darzustellen und zu legitimieren. Autobiografische Texte der Zeit können mithin nicht aus sich selbst heraus, sondern nur aus den jeweiligen sozialen Netzwerken, in denen ihre Verfasser lebten, verstanden werden.

Diese These versucht die Verfasserin im zweiten Kapitel ihrer Arbeit weiter auszuführen und zu exemplifizieren am Beispiel einer spezifischen sozialen Gruppe, für die ihr soziales Netzwerk eine unabdingbare existentielle Voraussetzung ihres professionellen Lebens war: den Gelehrten. Die Patronageverhältnisse, in denen die Gelehrten der frühen Neuzeit standen, anhand autobiografischer Quellen auszuwerten, bietet sich natürlich auch deshalb an, weil erwartungsgemäß ein nicht geringer Teil des Quellencorpus aus ihrer Feder stammt. Kaufleute oder gar unterbürgerliche Gruppen waren hier sehr viel weniger vertreten; und von der Gruppe der Politiker waren nicht wenige gleichzeitig auch gelehrten Interessen verpflichtet. Jancke wendet sich gegen ein negativ besetztes Verständnis der Patronage im Sinne korrupten Verhaltens, wie es für die ältere Geschichtsschreibung kennzeichnend war. Sie betont, dass gerade auch am Zeugnis der autobiografischen Texte erkennbar wird, dass im akademischen Umfeld, aber auch in der Kirche, Patronage in der Regel eine ausreichende fachliche Qualifikation voraussetzte - und zugleich die einzige Möglichkeit war, um für eine gelehrte Existenz die notwendige materielle Unterstützung zu erhalten. Die Ergebnisse dieses Kapitels bestätigen und differenzieren damit sowohl Ergebnisse sozialgeschichtlicher Forschung zu Klientelbeziehungen als auch wissenschaftshistorische Arbeiten, von denen nur als Beispiel die neuere kleinere Studie von Franz Mauelshagen zur Bedeutung des Vertrauens unter Gelehrten angeführt sei. 11

Während es Gabriele Jancke in diesen beiden ersten Kapiteln überzeugend gelingt, autobiografische Texte zu nutzen, um soziale Netzwerke in ihren spezifischen Funktionen sichtbar zu machen und zugleich auch zu zeigen, wie Selbstbeschreibungen hierbei funktional eingesetzt wurden, werden die Ergebnisse im dritten Kapitel unpräziser und vager, in dem sie den Blick auf das gesamte Corpus ihrer Quellen richtet und anhand der Sprache sowie weiterer Indizien untersucht, für welche Zielgruppen, für welches Publikum die zeitgenössischen Selbstbiografen eigentlich geschrieben haben. Mit 78 Texten war zwar nur gut ein Drittel auf Latein verfasst, aber auch deutsche Texte konnten, so weist Jancke nach, durchaus auch einem gelehrten Umfeld verpflichtet sein und bei der überwiegenden Mehrzahl der Autoren ist nachweisbar, dass sie mit der gelehrten lingua franca der Frühneuzeit vertraut waren. Hier zeigt sich, dass – erwartungsgemäß – Autobiografien nur für kleinere Gruppen der frühneuzeitlichen Gesellschaft als repräsentative Quelle fungieren können. Und dass alle Verfasser “[...] Sprache als Moment ihrer Selbstdefinition und ihres Sozialverhaltens [...]” nutzten, dass durch die Sprache “[...] auch soziale Einbindung in spezifische, zum Teil miteinander vernetzte Gruppenkulturen [...]” (S. 210) mitgeteilt wurde, wie Jancke zum Abschluss dieses Kapitels resümiert, ist in dieser Allgemeinheit auch zu erwarten gewesen.

Ingesamt hat jedoch Gabriele Jancke mit ihrer Arbeit eine interessante und anregende Studie im Kontext der neueren Diskussion um “Ego-Dokumente” – wie sie vor allem in der 1993 begonnenen und mittlerweile bereits beim elften Band angelangten Reihe “Selbstzeugnisse der Neuzeit” sowie dem ersten Band einer thematisch vergleichbaren Reihe dokumentiert wird 12 – vorgelegt. Es bleibt zu hoffen, dass, wie von der Verfasserin angekündigt, die vorliegende Monografie abgerundet wird durch eine Quellenkunde, welche zu allen ausgewerteten Autobiografen weitergehende Informationen zu Person, Edition, Kommunikationssituation und Text enthalten soll.

Anmerkungen:
1 Vgl. vor allem: Zemon Davis, Natalie, Boundaries and the Sense of Self in Sixteenth-Century France, in: Heller, Thomas C.; Sosna, Morton; Wellbery, David E. (Hgg.), Reconstructing Individualism. Autonomy, Individuality, and the Self in Western Thought, Stanford 1986, S. 53-63; S. 332-335. Dt. in: Dies.: Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie, Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Körpers, Berlin 1986, S. 7-18, 133-135.
2 Burckhardt, Jacob, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, 10. Aufl., Stuttgart 1976, S. 305-315.
3 Vgl. Henning, Eckhart, Selbstzeugnisse, in: Beck, Friedrich; Eckart, Henning (Hgg.), Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 2003, S. 119-127; oder: Engelbrecht, Jörg, Autobiographien, Memoiren, in: Rusinek, Bernd-A.; Ackermann, Volker; Engelbrecht, Jörg (Hgg.), Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit, Paderborn 1992, S. 61-79.
4 van Dülmen, Richard, Die Entdeckung des Individuums 1500-1800, Frankfurt am Main 1997, S. 85; vgl. auch Ders. (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2001.
5 LeRoy Ladurie, Emmanuel, Eine Welt im Umbruch. Der Aufstieg der Familie Platter im Zeitalter der Renaissance und Reformation, Stuttgart 1998.
6 Vgl. als ein Beispiel nur: Zeeden, Ernst Walter, Deutsche Kultur in der Frühen Neuzeit (=Handbuch der Kulturgeschichte, 1. Abt.) Frankfurt am Main 1968, S. 480f.
7 Schottenloher, Karl, Bibliografie zur deutschen Geschichte im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517-1585, Bde. 1-6, Leipzig 1932-1940, 2. Aufl. in 7 Bänden, Stuttgart 1956-1966; Jessen, Jens, Bibliographie der Autobiographien, Bde. 1-4, München 1987-1996; Erman, Wilhelm; Horn, Ewald, Bibliographie der deutschen Universitäten. Systematisch geordnetes Verzeichnis der bis Ende 1899 gedruckten Bücher und Aufsätze über das deutsche Universitätswesen, T. 1-3, Leipzig 1904-1905.
8 Tersch, Harald, Österreichische Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (1400-1650). Eine Darstellung in Einzelbeiträgen, Wien 1998.
9 Vgl. von Greyerz, Kaspar, Deutschschweizerische Selbstzeugnisse (1500-1800) als Quellen der Mentalitätsgeschichte, in: zeitenblicke 1 (2002), Nr. 2 [20.12.2002], URL. <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2002/02/greyerz/index.html>.
10 Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts. VD 16, Bde. 1-22, Stuttgart 1983-1995. - Hand Press Book Database, Consortium of European Research Libraries 1998-2003 <http://www.rlg.org/hpb.html>.
11 Mauelshagen, Franz, Netzwerke des Vertrauens. Gelehrtenkorrespondenzen und wissenschaftlicher Austausch in der Frühen Neuzeit, in: Frevert, Ute (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 119-151.
12 Arnold, Klaus; Schmolinsky, Sabine; Zahnd, Urs Martin (Hgg.), Das dargestellt Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit, (=Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit, Bd. 1) Bochum 1999.

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