Titel
Der Name der Witwe. Erkundungen zur Semantik der mittelalterlichen Bußkultur


Autor(en)
Jussen, Bernhard
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 158
Erschienen
Göttingen 2000: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
Preis
DM 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralf Lusiardi, Humboldt-Universität zu Berlin

Von der "wilden Tullia" berichtet uns Livius, dass sie ausgesprochen unzufrieden mit der Tatkraft ihres Mannes gewesen sei: "Sie versicherte, sie wäre besser ohne Mann (vidua fuisse) geblieben und er ohne Frau (caelibem fuisse), als diese ungleiche Verbindung einzugehen." (37) Von Interesse ist hier nicht die Evokation der sexuell hungrigen Frau als vielmehr die Beobachtung, dass die römische Antike unter dem Begriff der vidua nicht die 'Witwe' im heutigen Sinne verstand, sondern die allein lebende Frau schlechthin; für die 'Witwe', die hinterlassene Ehefrau also, hatte man hingegen keinen Terminus parat, ebensowenig wie das Griechische und das Hebräische. Dass wir 'die Witwe denken' können, dazu bedurfte es erst eines enormen Wandels im Denken sozialer Ordnung; auf dessen Ergebnis, die 'Witwen'-Figur, auf ihre Schöpfung und Entfaltung, ihre semantischen Kontexte und die sozialhistorischen ,Problemzonen' dieser Denkfigur ist das Forschungsinteresse Bernhard Jussens gerichtet. Sein Buch über den "Namen der Witwe" ist - um es gleich zu sagen - methodisch ambitioniert, geistreich, mutig und immer wieder höchst unterhaltsam, vor allem aber: Es beschert uns eine gänzlich neue Sichtweise auf die mittelalterliche Gesellschaft, deren Konsequenzen sich erst in Umrissen abzeichnen.

Hervorgegangen aus einer Göttinger Habilitationsschrift von 1998, legt die Arbeit Zeugnis ab von der innovativen Kraft des Projekts "Soziale Gruppen in der Gesellschaft des Mittelalters", das unter der Leitung von Otto Gerhard Oexle am Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte seit einigen Jahren bearbeitet wird. Als ein Ergebnis des hier angesiedelten Teilprojekts "Kulturelle Semantik und soziale Ordnung" ist die Studie darauf ausgerichtet, die dominanten Sinnformationen einer ganzen Gesellschaft zu untersuchen - fraglos eine fundamentale Herausforderung gewohnter Herangehensweisen, geht es hier doch nicht darum, etwa nur einzelne Ideen und deren historische Wirkungen in den Blick zu nehmen, sondern die Gesamtheit der symbolischen Formen einer Kultur daraufhin zu untersuchen, "wie eine Kultur ihre jeweiligen Sinnformationen erzeugt, tradiert und verändert" (25). Wenn in einer Studie mit einer solchen Ausrichtung und Ambition der 'Witwe' die Hauptrolle angetragen wird, dann deshalb, weil eben dieser Denkfigur nicht lediglich eine exemplarische Funktion, sondern eine zentrale Stellung innerhalb der prägenden Sinnformationen der mittelalterlichen Gesellschaft zugesprochen wird. Die hervorstechende semantische Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft fasst Jussen in den Begriff der "Busskultur", und den Gedanken der Busse verkörperte die Witwe wie keine andere Figur.

Ihre semantische Karriere verdankte die 'Witwe' einem Ordnungskonzept, dessen Formierung im ausgehenden 4. Jahrhundert und dessen allmähliche Auflösung seit dem 12. Jahrhundert im ersten von zwei Hauptteilen behandelt werden. Jussen entscheidet sich mithin für einen makrohistorischen und diachronischen Zugriff, der bewusst nur die Achsenzeiten des Ordnungsschemas in den Blick nimmt und auf die Untersuchung von mikroskopisch wahrnehmbaren Verschiebungen verzichtet.

Das angesprochene Konzept bestand in der Einteilung der Christen in 'Jungfrauen', 'Witwen' und 'Verheiratete'. Diese Kategorien waren nicht als verschiedene Lebensphasen gedacht, sondern als Lebensformen und als ordines mit je eigener Moralität. 'Vidua sein' hiess demnach, nach dem Tode des Gatten das ganze restliche Leben der Keuschheit und Busse zu weihen. Ein zweites Spezifikum dieser sozialen Klassifikation war deren Entsprechung mit einer jenseitigen Hierarchie, denn den Jungfrauen wurde 100facher, den Witwen 60facher und den Verheirateten nur 30facher Lohn im Himmel in Aussicht gestellt. Die Logik von diesseitigem Verdienst und jenseitigem Lohn wurde dergestalt auf eine einfache und prägnante "Vergeltungsformel" gebracht. Sie kam gegen Ende des 4. Jahrhunderts auf, in einer Zeit, in der innerhalb des Christentums die Askese als Weg zur Erlösung auf heftige Kritik stiess. Jovinian und andere wandten sich gegen die dem Askese-Modell inhärente Herabwürdigung der Ehe und zogen überhaupt der all dem zugrundeliegenden Verdienstlogik den Gnadengedanken vor, eine für das Publikum offenbar sehr attraktive und damit gefährliche Lehre. Diesem fundamentalen Angriff auf die "Ordnung der Enthaltsamkeit" setzten Theologen wie Ambrosius, Hieronymus und Augustin mit Erfolg ein ganzes Arsenal von Argumenten, Denkfiguren und Exempeln entgegen, in dessen Mittelpunkt die Vergeltungsformel stand. Um dieses Grundgerüst bildeten sich die Sinnformationen der mittelalterlichen Busskultur, die erst seit dem 12. Jahrhundert allmählich brüchig wurden: Bernhard von Clairvaux war der erste, der auf die Vergeltungsformel verzichtete und zudem immer öfter von der Liebe Gottes sprach, ohne indes in Predigten vor Laienpublikum die Verdienst- und Lohnsprache aufzugeben. Meister Eckhart vollzog auch diesen Schritt; mehr noch: Sentenzen Eckharts wie die, Gott "lasse sich nicht 'wie eine Kuh lieben', nämlich 'um deines eigenen Nutzens willen'," (132) mussten - zumal mit deren zunehmender Verbreitung durch seine Schüler - die busskulturelle Semantik immer mehr in Unordnung geraten lassen.

Im zweiten Hauptteil der Arbeit untersucht Jussen an ausgewählten Gegenständen die Etablierung, die Repetition und das Konfliktpotential der Denkfigur 'Witwe'. Dabei wird deutlich, wie allmählich aus der Idee eines sozialen Standes Realität wurde, indem sich Sprechweisen über die 'Witwe' formierten und Standes-'Eintritt' und -zugehörigkeit durch Kleidungswechsel, Witwen-Versprechen und Verhaltensmassregeln normiert wurden. Auch warum gerade um 400 die 'Witwe' konkrete Gestalt annahm, wird nun klarer: Immer mehr beanspruchten zu jener Zeit auch im Westen des Reiches Frauen als 'Diakoninnen' einen festen Platz innerhalb des Klerus, den die Bischöfe ihnen aber nicht zugestehen mochten. Daher bot es sich an, die religiöse Energie dieser Frauen zu kanalisieren, indem ihnen ein besonderer ordo ausserhalb des Laienstandes offeriert wurde, eine Lösung, die bereits auf die spätere flächendeckende Einrichtung von Frauenklöstern verweist.

Der fundamentale Konflikt in der christlichen Figur der 'Witwe', der Widerspruch zwischen den Erfordernissen der Ewigkeit und denen des Lebens, wird von Jussen mit besonderer Eleganz und interpretatorischer Stringenz behandelt. Jussen untersucht ihn nicht am Beispiel konkreter Witwenschicksale im Spannungsfeld von persönlichen Bedürfnissen, religiös-moralischen Normen und verwandtschaftlichen Ansprüchen, sondern anhand einer literarischen Witwenfigur: der "Treulosen Witwe von Ephesus", der populärsten Witwe des Mittelalters überhaupt. Jussen gelingt es, die bislang gängigen Interpretationsschemata des Erzählstoffs zu widerlegen und den tatsächlichen thematischen Kern der mittelalterlichen Textversionen freizulegen. Denn nicht um die sexuelle Dimension der Untreue dieser Witwe ging es, verhandelt wurde vielmehr der für mittelalterliche Leser essentielle Tabubruch: Abwendung vom verstorbenen Ehemann und Wiederheirat.

Schliesslich geht Jussen auch auf die Signifikanz dieser Erzählfigur für den Umgang mit der mittelalterlichen Geschlechterordnung ein und fügt Überlegungen an, welche Schlüsse die Geschlechtergeschichte aus dem seit dem Hochmittelalter femininen Muster der Denkfigur 'Jungfrauen - Witwen - Verheiratete' und den bekannten maskulinen Dreierschemata ziehen sollte - und welche nicht. Auch hier bleibt Jussen, wenngleich er auf eine systematische Analyse verzichten muss, originell und anregend, ebenso wie in den abschliessenden, mitunter wohl unnötig vorsorglichen Bemerkungen über die offenen Fragen und 'Flanken' seiner Arbeit. Entsprechende Einwände wären grösstenteils haltlos und müssten im übrigen - ähnlich wie gängige Rezensenten-Monita, hier etwa die gelegentlich ausgesprochen sparsamen Literaturverweise (vgl. S. 314, 318, 332) - verblassen angesichts der Tatsache, dass Jussens Buch der Mediävistik ein Tor aufstösst. Hinter diesem eröffnen sich sofort vielfältige neue Forschungsthemen und Interpretationsperspektiven, darunter die von Jussen selbst angesprochene, nur ansatzweise untersuchte Frage nach der sozialen Wirkkraft der Denkfigur 'Witwe'. Selbst die Epoche 'Mittelalter' wird neu imaginiert; denn das Verständnis der mittelalterlichen Gesellschaft als einer busskulturellen impliziert, Anfang und Ende der das soziale Ganze prägenden Busskultur als Epochengrenzen aufzufassen. Statt eines langen nun ein 'kurzes Mittelalter' - ein faszinierender Vorschlag, der lebhafter und kontroverser Resonanz entgegensehen kann.

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